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Das nördliche Ufer des Lake Nipissing gehört zu den malerischsten Flecken in ganz Ontario, doch beim Anblick des Lakeshore Drive – einer Straße, die am Steilufer der Bucht, der Algonquin Bay seinen Namen verdankt, entlangführt – hätte man meinen können, sie sei nur gebaut worden, um diese Tatsache vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Sie hatte schon immer die hässlichsten Häuser geradezu magisch angezogen. An der Seeseite wimmelte es von Fastfoodbuden, Tankstellen und Motels mit exotischen Namen, denen jeder Charme abging; auf der anderen Seite reihten sich Einkaufszentren aneinander.
Loon Lodge befand sich am westlichen Ende dieser Ansammlung von Scheußlichkeiten. Es war streng genommen kein richtiges Motel, sondern eine Gruppe von winzigen weißen Hütten mit grünen Fensterläden und Gardinen im Bauernstil, die noch aus den Fünfzigern stammten, bevor der Blockhausstil in Mode kam. In Algonquin Bay glauben viele, solche Etablissements seien im Winter geschlossen, doch in Wahrheit verfügen sie auch in der kalten Jahreszeit über zweierlei Einnahmequellen. Die eine sind die Angler, die im Eis fischen, jene Zahnärzte und Versicherungsvertreter, die sich ein paar Tage freinehmen und mit ihren Kumpels nach Norden fahren, um sich gegenseitig unter den Tisch zu trinken. Die andere Kundschaft sind Leute, die eine spottbillige Bleibe suchen, und nichts ist außerhalb der Saison billiger als eine Hütte am Lakeshore Drive.
Cardinal war nicht zum ersten Mal in der Loon Lodge. Es kam immer mal wieder vor, dass einer der hier überwinternden Bewohner seiner Frau die Zähne ausschlug. Oder die Frau hatte von der Sauferei ihres Mannes genug und jagte ihm ein Steakmesser fein säuberlich zwischen die Rippen. Ab und zu gab es Drogendealer. Im Sommer dann sah man nur noch sonnengebräunte Amerikaner, Familien mit knapper Haushaltskasse, die sich den verlässlich schwachen kanadischen Dollar zunutze machten.
Cardinal und Delorme hatten die erste weiße Schindelhütte des Loon Lodge betreten, diejenige, auf der Büro stand. Sie war viermal so groß wie die vermieteten, und der Eigentümer wohnte darin mit Frau und Kindern. Es war ein eierköpfiger Mann namens Wallace. Sein Gesicht war aufgedunsen, mit einem leidenden Ausdruck, als ob er Zahnschmerzen hätte. Ein nicht minder eierköpfiger und untröstlicher vierjähriger Junge sah nebenan Zeichentrickfilme im Fernsehen. In der Luft hingen Essensgerüche, und Cardinal merkte auf einmal, dass er Hunger hatte.
Wallace zog ein Reservierungsbuch hervor, fand den Namen und drehte das Buch auf der Theke um.
»Howard Matlock«, las Delorme laut, »East Ninety-first Street, New York City.«
»Ich wünschte, ich hätte den Typ nie zu Gesicht bekommen«, sagte Wallace. »War absolut tote Hose letzte Woche, also hab ich mich wie’n Schneekönig gefreut, als er auftauchte, auch wenn er nur für’n paar Tage bleiben wollte.«
»Ford Escort«, las Delorme und notierte sich das Kennzeichen.
»Genau«, sagte Wallace. »Knallrot. Hab ich allerdings schon seit’n paar Tagen nicht mehr gesehen.«
»An welchem Tag ist er angekommen?«, fragte Cardinal.
»Donnerstag, glaube ich. Ja, Donnerstag. Ich hatte gerade ein paar Indianer weggeschickt, die sich einmieten wollten. Tut mir leid, egal, wie viel ich frei hab, an die Typen vermiete ich nicht. Hab einfach keinen Bock mehr, das Blut und die Kotze wegzuwischen. Man hat schließlich nen Ruf zu verlieren.«
»Dann kann ich nur für Sie hoffen, dass keiner von denen Sie wegen Diskriminierung anzeigt«, sagte Delorme.
»Die Leute haben ja keine Ahnung von Indianern. Stecken Sie mal zwei oder drei von denen zusammen, ne Flasche Four Aces dazu, und Sie haben ne Hütte, die Sie nicht wieder vermieten können.«
»Und was haben Sie jetzt?«
»Sie sagen, Sie haben den Schlüsselanhänger nem Toten abgenommen?« Er zeigte auf die geschmolzene Masse in der Tüte, die Cardinal auf die Theke gelegt hatte.
»So ungefähr.«
»Dann hab ich vermutlich ne offene Rechnung und einen Mieter, der nicht mehr am Leben ist.« Wallace schüttelte den Kopf und stieß einen leisen Fluch aus. »Haben Sie auch nur die leiseste Ahnung, wie lange es dauert, bis man sich einen Namen gemacht hat wie hier mit dem Loon Lodge? So was geht nicht über Nacht.«
»Sicher nicht«, sagte Cardinal. »Hat Mr. Matlock erwähnt, was ihn nach Algonquin Bay brachte?«
»Ich sag Ihnen was, nur ein solcher Fall, und die ganze Mühe – das gewisse Etwas, das einem Motel die besondere Note verleiht – all das war für die Katz. Da könnte ich genauso gut mein Schild abmachen und gleich Konkurs anmelden.«
Cardinal fragte sich, woher ein notorischer Schwarzseher wie Mr. Wallace überhaupt den Optimismus genommen hatte, ein Motel zu eröffnen, doch er hielt sich an seine erste Frage. »Hat Mr. Matlock gesagt, was ihn nach Algonquin Bay brachte?«
»Eisfischen, hat er gesagt.«
»Nicht ’n bisschen früh dafür? Selbst ohne den Wärmeeinbruch.«
»Genau das hab ich auch zu ihm gesagt. Hab ihm gesagt, dass in den nächsten vierzehn Tagen kein Mensch auf diesen See rausgeht, selbst ohne die Wärme. Das wüsste er auch, hat er gesagt. Er wär nur hier, um die Gegend schon mal für ein paar Kumpel auszukundschaften, die Ende Februar mit ihm herkommen wollten.«
»Aus New York?«, fragte Delorme. »Ist das nicht ein bisschen weit, nur um eine gute Stelle zum Eisfischen zu finden?«
Wallace zuckte die Achseln. »Amerikaner.«
Er schnappte sich einen Schlüssel von dem Brett hinter ihm, und sie folgten ihm nach draußen, an mehreren Hütten vorbei.
»Hab noch nie verstanden, was daran so sportlich sein soll«, sagte Cardinal zu Delorme. »Die Fische sind starr vor Kälte. Sie sind halb verhungert. Was soll daran so toll sein? Ist doch kein Kunststück, in einem schäbigen Verschlag über einem Loch zu hocken.«
»Sie vergessen das Bier.«
»Oh, vergessen Sie ja nicht das Bier«, sagte Wallace. »Sie glauben nicht, wie viele Kisten die Jungs da rausschleppen. Ich hab in jeder Hütte einen Schlitten stehen, offiziell für die Kinder, aber sehen Sie hier irgendwo Rodelhänge? Sie benutzen sie, um darauf ihre Bierkisten auf den See zu ziehen.«
»Sie sagen, Mr. Matlock kam am Donnerstag an. Wann haben Sie bemerkt, dass der Wagen nicht mehr da ist?«
»Ich glaub, so am Samstag. Vor zwei Tagen. Ja, genau. Weil ich ihn am Freitag gebeten hab, ihn woanders hinzustellen. Hatte ihn auf dem Platz für Nummer vier stehen. Nicht dass in Nummer vier jemand gewesen wäre. Na, jedenfalls war er definitiv am Samstagmorgen nicht mehr da. Und ich hatte das Gefühl, da stimmt was nicht. Der Wagen weg, und ich konnte keinen Rauch aus dem Schornstein sehen. Hab heute Morgen an die Tür geklopft. Kam keine Antwort, und ich hab gedacht, ich geb ihm noch ein paar Stunden, bevor ich mir Gedanken mache, ob er mich beschissen hat.«
»Hat er irgendwelche Anrufe gemacht?«, fragte Cardinal. »Hätten Sie das mitbekommen?«
»Ferngespräche schon – hat er nicht geführt. Ortsgespräche kontrolliere ich nicht.«
»Danke, Mr. Wallace. Wir kommen allein zurecht.«
»In Ordnung.« Wallace machte ihnen die Tür auf. »Falls Bargeld da drinnen ist, stehen mir, wie’s aussieht, hundertvierzig Dollar zu.«
Die Inneneinrichtung einer Loon-Lodge-Hütte sah noch genauso aus wie das letzte Mal, als Cardinal hier gewesen war. Ein Doppelbett in einer Nische, eine Couch mit Blümchenmuster und eine Miniküche in einer Ecke – winziger Kühlschrank, Kochplatte, Aluminiumspülbecken. Eine Erinnerung huschte Cardinal durch den Kopf – eine kreischende Frau, die ihm eine Bratpfanne entgegenschleuderte, als er kam, um ihren Mann zu verhaften.
Neben einem Fenster stand ein Tisch mit einem gelben Plastiktischtuch. Darauf lag eine New York Times. Die Ausgabe war fünf Tage alt, und Matlock hatte sie vermutlich vom Flug mitgebracht.
Das Bett (mit der etwas fadenscheinigen Chenillebettwäsche inklusive Loon-Lodge-Emblem, identisch mit dem auf dem Schlüsselanhänger) war ordentlich gemacht. Daneben lag ein kleiner Koffer mit Rädern, in dem sich ausreichend Kleidung für ein Wochenende befand, und eine Taschenbuchausgabe von einem Tom-Clancy-Roman.
»Hier ist seine Brieftasche«, sagte Delorme. Sie holte sie unter dem Küchentisch hervor und hätte dabei fast eine Lampe (mit Loon-Emblem auf dem Schirm) umgerissen.
»Also, das ist merkwürdig«, sagte Cardinal. »Der Wagen ist weg. Wieso fährt einer mit dem Auto weg und nimmt seine Brieftasche nicht mit? Wenn man mit dem Wagen fährt, nimmt man seine Brieftasche doch mit, oder?«
»Vielleicht stand derjenige, der ihn getötet hat, hier auf der Matte.«
»Möglich. Sie kämpfen, und er verliert seine Brieftasche – obwohl hier drinnen eigentlich nichts auf einen Kampf hindeutet.«
Delorme öffnete die Brieftasche. »Wie auch immer, Raub können wir als Motiv jedenfalls ausschließen. Hier sind siebenundachtzig Dollar drin, amerikanische. Vielleicht ist er nur raus, um ne Packung Zigaretten zu kaufen. Dafür hat er seine Brieftasche nicht gebraucht.«
»Er hatte noch Zigaretten.« Cardinal zeigte auf die halb leere Packung Marlboro auf dem Nachttisch.
»Howard Matlock«, las Delorme in offiziellem Ton vor, was auf einer Visitenkarte stand, »ist amtlich zugelassener Steuerberater im Staat New York.«
»Ich wette mit Ihnen – alle Eisfischer sind Steuerberater.«
»Er hat auch einen Ausweis der Öffentlichen Bibliothek von New York sowie einen von der Blockbuster-Videothek und einen New Yorker Führerschein.«
Sie reichte Cardinal die Papiere. Der Tote starrte ihm vom Führerscheinfoto entgegen. Er trug dieselbe getönte Fliegerbrille, die sie im Wald gefunden hatten.
Sie sahen sich beide im Zimmer um.
»Außer der Brieftasche auf dem Boden sieht es hier völlig normal aus«, sagte Cardinal. »Und den Zimmerschlüssel hatte er noch in seiner Hosentasche, aber nicht den Wagenschlüssel. Weshalb ich vermute, dass der oder die Mörder mit seinem Wagen abgehauen sind.«
»Wenn Sie ein Auto stehlen wollen, wieso dann ausgerechnet einen Ford Escort? Und wenn Sie einen Autodiebstahl vertuschen wollen, scheint mir das Zerstückeln der Leiche im Wald doch ein bisschen übertrieben.«
»Vielleicht war etwas Belastendes im Auto.«
Sie gingen den Inhalt des Köfferchens durch: drei Hemden mit Etikett, drei Paar Hanes-Unterwäsche, drei Paar Socken, zwei davon mit Löchern.
»Ich dachte, Steuerberater verdienen ganz anständig«, sagte Delorme. »Aber wie’s aussieht, ging’s dem Kerl hier nicht besonders gut.«
Auf der Badezimmerablage fanden sie Tabletten gegen Sodbrennen und Durchfall sowie eine Reisepackung Abführmittel. »Offenbar ein Pfadfinder«, sagte Delorme. »Auf alle Eventualitäten vorbereitet.«
»Alles außer Jagen oder Fischen, wie man sieht. Keine Angel, keine Spule, keine sonstige Ausrüstung. Nichts. Auch wenn er die Stelle nur auskundschaften wollte, trotzdem merkwürdig.«
»Vielleicht hatte er es im Auto gelassen. Wenn wir den Wagen finden …«
Sie standen sich mitten in der Hütte gegenüber. Wir warten auf die zündende Idee, dachte Cardinal. Eine Theorie.
»Das ist alles ziemlich bizarr«, sagte Delorme. »Soweit wir wissen, kam Howard Matlock, staatlich geprüfter Steuerberater, hier rauf, um sich nach einer Stelle zum Eisfischen umzusehen. Hier angekommen, macht er eine Fahrt mit dem Auto – ohne seine Brieftasche – und wird getötet. Vielleicht wollte ihn jemand ausrauben und hat ihn aus Wut umgebracht, weil er seine Brieftasche nicht dabeihatte.«
»Danke, Detective Delorme. Damit wäre ja alles geklärt. Offensichtlich können wir den Fall bereits abschließen.«
»Schon gut. Ich geb zu, es ist noch ein bisschen löchrig.«
»Ich glaube, wir finden beide die Sache mit dem Eisfischen ein bisschen dünn. Und …«
»Und was? Sie sehen besorgt aus.«
»Ich hab irgendwie ein ziemlich mieses Gefühl bei dem Ganzen. Mein Guru bei der Kripo Toronto pflegte zu sagen: Wenn man noch im Dunkeln tappt, wer der Täter ist, sind drei Dinge nötig, um den Fall zu lösen – Talent, Ausdauer und Glück. Fehlt auch nur eins davon, knackt man ihn nicht. Halten Sie mich nicht für eingebildet, aber die ersten beiden Voraussetzungen machen mir kein Kopfzerbrechen.«
»Ich weiß. Das Problem ist, wenn wir nicht glauben, dass Matlock als Kundschafter fürs Eisfischen raufkam, haben wir nicht den blassesten Schimmer, was er dann hier gemacht hat oder wen er hier vielleicht treffen wollte, geschweige denn, wer ihn töten wollte.«
Sie gaben eine Fahndung nach Matlocks rotem Ford Escort heraus, einem Mietauto von der Avis-Filiale am Torontoer Pearson Airport. Die Suche im Wald wurde bis zum Einbruch der Dunkelheit fortgesetzt. Sämtliche Körperteile, die sie finden konnten, wurden gesammelt und zur Gerichtsmedizin in Toronto verbracht. Die Luftaufnahmen wurden entwickelt und ans Anzeigenbrett bei der Spurensicherung geheftet. Die Polyester-Ballons glitzerten zwischen den nebelverhangenen Bäumen, doch ein Muster ließ ihre Anordnung nicht erkennen.
Wieder am Schreibtisch, verbrachte Cardinal gut zwei Stunden damit, seine Berichte für den zurückliegenden Tag zu schreiben, und er wünschte sich, er hätte auch nur die blasseste Vorstellung, wie sie weiter vorgehen sollten. Er war müde und hungrig und freute sich auf Catherine, doch er wollte nicht nach Hause gehen, solange er das Gefühl hatte, dass sie sich in einer Sackgasse befanden. Er musste ein Weilchen allein sein, ohne diese Berichte, ohne den Lärm seiner Kollegen, die sich quer durch den Saal unterhielten, um über Howard Matlock nachzudenken und über die Frage, warum dieser Amerikaner in Algonquin Bay den Tod fand.
Unten am See war der Nebel immer noch dicht, wie graue Watte zwischen den Hütten und Bäumen festgeklemmt. Das Zu Vermieten-Schild des Loon Lodge schimmerte mattrot. Der Parkplatz war leer.
Cardinal öffnete die Tür zu Howard Matlocks Hütte und duckte sich unter dem gelben Flatterband hindurch. Drinnen knipste er den Schalter, doch es ging kein Licht an; vermutlich hatte der Eigentümer den Strom abgeschaltet, bis er wieder einen zahlenden Gast hatte. Es gab auch keine Heizung. Cardinal machte seine Taschenlampe an und ließ den Lichtkegel über das Bett, den Stuhl, den Nachttisch gleiten. Die Spurensicherung war draußen im Wald so beschäftigt gewesen, dass sie hier vor morgen oder übermorgen nicht durch sein konnten. Howard Matlocks persönliches Eigentum war noch da, inklusive des erst zur Hälfte gerauchten Marlboro-Päckchens neben der Loon-Lampe.
In der Dunkelheit und der Stille versuchte Cardinal noch einmal, sich vorzustellen, was hier passiert sein könnte. Im Geiste sah er den Amerikaner in dem weißen Weidenstuhl vor dem winzigen Fernseher sitzen, als es an der Tür klopft. Aber wer war zu ihm hereingekommen, hatte ihn getötet und in seinem eigenen Auto abtransportiert? War ihm aus New York jemand gefolgt?
Cardinal saß auf der Bettkante. Diesen Fall lösen zu wollen war wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Jedes zweite Mal war es – zumindest an einem Ort wie Algonquin Bay – der Mörder selbst, der die Polizei zum Tatort holte. Hier hatten sie nun mal ein wirklich mysteriöses Verbrechen, und Cardinal hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt. Ein Amerikaner war hier in seine Stadt gekommen und hatte es – falls ihm niemand gefolgt war – geschafft, in kürzester Zeit jemanden so gegen sich aufzubringen, dass er ihn umbrachte. Und der unbekannte Täter hatte sich nicht damit zufrieden gegeben, ihn zu töten, sondern hatte ihn auch noch an die Bären verfüttert. Wieso?
Cardinal sah den ersten Zipfel einer Theorie, die jedoch noch nicht mit Händen zu greifen war. Er starrte auf die Tür zum Wandschrank. Das erste Mal hatte sie offen gestanden, jetzt war sie zu. Da, wo die Spurensicherung sie auf Fingerabdrücke untersucht hatte, waren Pudersprenkel.
Cardinal stand auf und zog an der Tür. Bevor sie halb geöffnet war, schoss eine Hand aus dem Dunkel und legte sich fest um seinen Hals. Eine Faust fuhr ihm in den Bauch, so dass er sich krümmte.
Cardinal stolperte zurück und schnappte nach Luft. Ein gekonnter Tritt riss ihm die Beine weg, und dann lag er, das Gesicht nach unten, auf dem Boden, einen Arm auf dem Rücken nach oben gebogen. Der kalte Lauf einer Pistole drückte sich ihm in den Hinterkopf. Seine eigene Beretta im Holster grub sich ihm schmerzhaft in die Rippen.
»Sie sind nicht zufällig bewaffnet, oder?« Die Stimme war jung, männlich, unbekannt – dem ersten Eindruck nach gehörte sie einem gebildeten Weißen.
»Nein.«
»So, so, und was ist das hier?« Cardinals Jackett wurde hochgerissen und seine Beretta herausgenommen.
»Sie machen einen Fehler«, konnte Cardinal gerade eben herausbringen, bevor ihm der Kopf wieder zu Boden gedrückt wurde.
Eine Hand tastete nach seiner Innentasche und zog die Brieftasche heraus. »Sie sind Cop?«
»In meiner Freizeit, wenn ich mich nicht gerade in einer Touristenhütte verprügeln lasse.«
Der Mann verlagerte sein Gewicht auf Cardinals Rücken. »Ich kann nicht glauben, dass Sie einfach so hier reinspazieren«, sagte er. »Allein? Mitten in der Nacht? Ich hätte sonst wer sein können.«
»Ja, ich wollte Sie schon danach fragen.«
»Also gut, hören Sie zu. Ich werde Sie jetzt loslassen. Also benehmen wir uns wie erwachsene Menschen, okay? Keine Mätzchen, oder ich muss Sie wieder flachlegen.«
»Gut.«
»Sie stehen jetzt auf und legen Ihre Hände an die Wand. Ich stelle mich drüben neben die Tür.«
Der Mann stand auf, und Cardinal holte tief Luft, bevor er sich hochrappelte und die Kleider abklopfte. Jesses, welche Blamage.
Hinter dem kurzen Lauf der Achtunddreißiger, die auf ihn zielte, stand der jüngste Schütze, den Cardinal je gesehen hatte – sehr kurz geschnittenes, eng anliegendes blondes Haar, heller Flaum auf Wangen und Kinn. Er trug ein Sportjackett mit Hahnentrittmuster, als spiele er einen älteren Mann. Er öffnete die Tür ein Stück weit und spähte über den Parkplatz.
»Sie sind wirklich allein.« Während er sprach, schimmerten zu viele Zähne in seinem Mund. »Gut. Drehen Sie sich um und legen Sie die Hände an die Wand. Sie wissen ja, wie – die Beine gespreizt, auf Zehenspitzen.«
Die Achtunddreißiger blitzte im Licht, das durchs Fenster schien. Cardinal tat, was der Junge sagte, und starrte auf die Wand. »Lassen Sie mich raten«, sagte er. »Sie sind achtzehn?«
»Völlig daneben. Und wir haben Wichtigeres zu besprechen.« Der junge Mann klopfte ihn ab und suchte nach einem Knöchelholster. Cardinal trug keins. »Zuerst mal, wie kommen wir da raus?«
»›Wir‹, was soll das heißen? Sie haben gerade einen Polizisten angegriffen. Und wenn mich nicht alles täuscht – es sei denn, Sie gehören zur Royal Canadian Mounted Police – haben Sie für diese Achtunddreißiger keinen Waffenschein, mein Junge.«
»Und Sie sind der Cop, der sich gerade seine Waffe hat abnehmen lassen. Ich glaube nicht, dass die ganze Stadt das erfahren soll, oder?«
»Das wäre wirklich zu peinlich. Geben Sie sie mir wieder, und ich jag mir ne Kugel in den Kopf.«
»Was wissen Sie über Howard Matlock?«
»Schickt Sie Malcom Musgrave? Der hatte schon immer eine etwas hinterfotzige Art, selbst für einen Mountie.«
»Ich hab Sie was gefragt«, sagte der junge Mann. »Was wissen Sie über Howard Matlock?«
»Er ist Amerikaner. Er ist Steuerberater. Er ist tot. Wieso interessiert Sie das?«
»Ich hab die Waffen, von daher, denke ich, bin ich es wohl eher, der die Fragen stellt. Wieso sind Sie noch mal hergekommen? Ihre Tatortuntersuchung muss doch abgeschlossen sein.«
»Hören Sie, Sie gehören offenbar wirklich zu den Mounties. Wieso sagen Sie mir nicht, wer Sie sind und was Sie hier zu suchen haben?«
»Ich habe gefragt, warum Sie noch mal hierher zurückgekommen sind.«
»Offensichtlich aus demselben Grund, weshalb Sie hier sind – um mehr über Howard Matlock herauszufinden. Wie sieht das denn aus, wenn ein Tourist in meine Stadt kommt und an die Bären verfüttert wird? Nur war er ja vermutlich kein Tourist, was mir auch zu schaffen macht. Ich bin noch mal hergekommen, weil ich mir ein besseres Bild von dem Kerl machen wollte. Ich bin noch mal hergekommen, weil mir vieles nicht klar ist. Ich bin gekommen, weil ich im Moment nicht weiß, wo ich anfangen soll. Und wenn Sie gestatten, würde ich jetzt gerne mit meiner Arbeit fortfahren.« Cardinal wartete einen Moment und lauschte. Aus Richtung Tür war nichts zu hören. Er drehte sich um.
Es war niemand da. Seine Beretta lag auf dem Küchentisch, ohne den Ladestreifen. Er war zu spät an der Tür, um noch etwas zu sehen. Er fluchte leise. Wie sollte er den fehlenden Ladestreifen erklären?
Er schob die Tür zum Einbauschrank zu und ließ den Blick noch einmal über den Raum schweifen, bevor er abschloss. Der Junge war gut, das musste der Neid ihm lassen. Überrumpelt ihn, nimmt ihm die Waffe ab und löst sich in Nichts auf! Auf dem Weg zum Parkplatz dachte Cardinal daran, eine Großfahndung nach sämtlichen blonden Jüngelchen einzuleiten. Doch als er zu seinem Wagen kam, fand er den Ladestreifen seiner Beretta auf dem Dach über der Tür zum Fahrersitz.
Als er nach Hause kam, saß Catherine, vollkommen reglos, im Lotussitz. Vom Öffnen der Tür flackerte eine Kerze im Lufthauch. Auf dem Fernseher kringelte sich der Rauch von einem Räucherstäbchen empor.
»Du kommst spät«, sagte sie.
»Hier riecht’s nirwanisch.« Cardinal machte immer irgendwelche Kommentare über ihre Räucherstäbchen, und sie ignorierte sie jedes Mal. »Wie geht’s meiner Swami?«
»Du meinst wohl Buddha. Den Klinikspeck werd ich nie wieder los.«
»Du bist nicht dick.«
»Immer nur Brot und Kartoffeln, was anderes gab’s in der O. P. H. ja nicht, und jetzt komm ich nicht mehr in meine Sachen rein.«
Es stimmte schon, dass Cathy in der Psychiatrischen Klinik von Ontario – auch diesmal wieder – ein paar Pfündchen zugenommen hatte, doch im großen Ganzen, fand Cardinal, sah seine Frau prächtig aus. Ein wenig runder um die Hüften, vielleicht ein bisschen mehr Bauch, aber für eine Frau mit einer sechsundzwanzigjährigen Tochter sah sie verdammt gut aus.
Als sie ihre Beine entwirrte, gab Cathy einen langen Seufzer von sich. Cardinal sah es gerne, wenn sie Yoga machte, selbst spätabends; sie wurde selten krank, wenn sie auf sich Acht gab.
»Dein Vater hat angerufen. Er hat einen Termin beim Kardiologen für morgen früh bekommen. Ich fahr ihn hin.«
»Ausgezeichnet. Seine neue Ärztin versteht es, ihn dahin zu kriegen, wo sie ihn haben will.«
»Du siehst ein bisschen mitgenommen aus«, sagte Catherine. »Fehlt dir was?«
»Viel zu tun, weiter nichts. Kein Grund zur Sorge.«
»Ach wo.« Er sprach kaum einmal mit ihr über den Beruf. Keiner der Kollegen im Kommissariat sprach mit seiner Frau über das, was bei der Arbeit passierte. »Falsch verstandene Rücksicht«, hatte ein Freund Cardinal einmal erklärt, aber wahrscheinlich lebte der nicht mit einer Manisch-Depressiven zusammen. Cardinal hatte nicht die Absicht, seine Frau noch mehr zu belasten. Außerdem war es ihm immer noch viel zu peinlich, dass dieses Kind ihm seine Waffe abgenommen hatte. Er ließ sich aufs Sofa plumpsen und sog den Sandelholzduft ein. Sehr hohe Schwingungen, hatte Catherine ihm versichert.
Das Haus war wunderbar still. Sein Refugium. Die letzte Glut eines Feuers im Ofen tauchte das Zimmer in ein warmes Licht.
»Das ist für dich gekommen«, sagte Catherine und reichte ihm einen quadratischen Umschlag. »Säuische Handschrift.«
Und kein Absender drauf, dachte Cardinal. Er riss den Brief auf und zog eine Karte mit einem großen roten Herz darauf heraus. Auf die Vorderseite waren die Worte Es ist zwölf Jahre her, Schätzchen … eingeprägt, und auf der Innenseite, aber ich liebe dich noch wie am ersten Tag! Darunter hatte jemand geschrieben: »Bis bald.«
Natürlich fehlte – wie immer – die Unterschrift, doch Cardinal wusste, von wem es war. Vor zwölf Jahren hatte er mit dazu beigetragen, dass jemand ins Gefängnis kam; der Mann war kurz vor der Entlassung. Doch die entscheidende Botschaft stand nicht auf der Karte, sondern auf dem Umschlag, zwischen den Zeilen seiner Privatanschrift: Ich weiß, wo du wohnst.
Catherine sagte etwas zu ihm, doch Cardinal konnte sich nicht ganz darauf konzentrieren. Seine Gedanken waren bei den Ereignissen von vor mehr als zehn Jahren, bei dem allergrößten Fehler seiner ganzen beruflichen Laufbahn – seines ganzen Lebens im Grunde. Sie hatten von da an jeden Augenblick seines Lebens überschattet, und jetzt bedrohten sie, obwohl er versucht hatte, es wieder gutzumachen, sein Zuhause. Sein Refugium, ja, doch zwischen der emotionalen Labilität seiner Frau und den Anforderungen seines Berufs keine uneinnehmbare Festung.
»Entschuldige, was hast du gesagt?«
»Ich hab gesagt, dass Kelly vor ein paar Stunden anrief. Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Was war das für eine Karte?«
Cardinal stopfte die Karte in seine Tasche. »Nichts. Für den Papierkorb. Schon erstaunlich, wie Kelly es schafft, immer dann anzurufen, wenn ich nicht da bin. Sie muss das Haus observieren lassen.«
»Sag nicht so was, John. Sie hat nach dir gefragt. Ich glaube wirklich nicht, dass Kelly es fertig brächte, jemandem für längere Zeit zu grollen. Zumindest nicht dir.«
»Hm.«
»Sie hat eine neue Wohnung gefunden. Sie zieht mit jemandem zusammen ins East Village. Sie sagt, es ist ein bisschen schmuddelig, aber auszuhalten.«
»Warum sie überhaupt unbedingt in New York leben muss, wissen die Götter. Mich würden keine zehn Pferde dahinkriegen. Toronto war schon schlimm genug.«
Cardinal ging ins Badezimmer und ließ die Dusche so heiß laufen, wie er es eben aushielt, um sie dann nach und nach kälter zu drehen. Der heiße Wasserstrahl hob seine Stimmung ein bisschen, doch seine Gedanken kreisten immer noch um die Ereignisse vor zwölf Jahren. Er hatte eine Grenze überschritten, und als er den Fuß zurückziehen wollte – hinter die Stelle, an der er noch mit sich im Reinen gewesen war, ganz und gar im Reinen –, da zeigte sich, dass die Grenze ein gähnender Abgrund war.
Cardinal zwang sich, an die Gegenwart zu denken, an die Farce im Loon Lodge. Er erinnerte sich, dass ihm einen Moment, bevor er angegriffen wurde, ein diffuser Gedanke durch den Kopf gegangen war. Als er sich jetzt abduschte, kam der Gedanke wieder. Er galt Wudky.
Er trocknete sich ab, wickelte sich in einen dicken Bademantel und ging ins Wohnzimmer zum Telefon.
»Delorme? Cardinal am Apparat.«
»Cardinal, wissen Sie, wie spät es ist? Ob Sie’s glauben oder nicht, ich hab auch noch ein Privatleben.«
»Nein, haben Sie nicht. Ich hab über Wudky nachgedacht. Sie wissen ja, dass er behauptet hat, Paul Bressard wäre ermordet und irgendwo im Wald verbuddelt worden.«
»Wudky ist geistig zurückgeblieben. Das weiß jeder. Es erstaunt mich, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, seine Geschichte zu überprüfen.«
»Aber sehen Sie sich mal an, was wir haben. Wir haben einen Amerikaner, der im Wald aufgefressen wurde, stimmt’s? In der Nähe einer alten Trapperhütte, stimmt’s? Und Paul Bressard ist ein Trapper.«
»Stimmt. Und Wudky hat behauptet, Paul Bressard wär ermordet worden, und Wudky hat sich geirrt.«
»Und wieso? Weil Wudky der Welt dümmster Krimineller ist. Und wieso noch? Weil Wudky an dem Abend, als er die Geschichte hörte, eine Menge getrunken hatte. Aber nehmen wir mal an, Wudky hat die Sache auf den Kopf gestellt. Nehmen wir mal an, Paul Bressard hätte einen Touristen im Wald getötet und ihn im Wald verschwinden lassen. Das würde viel eher Sinn ergeben, oder? Vielleicht hat er ihn sogar aus Versehen getötet und versucht, die Sache zu vertuschen.«
»Ich für meinen Teil glaube nicht, dass man einen Kerl aus Versehen an die Bären verfüttert. Nicht mal, um etwas zu vertuschen.«
»Aber das ist genau das, was sich ein Trapper einfallen lassen könnte. Jemand, der genau weiß, wo die Bären sind.«
»Vermutlich. Ja, Sie könnten da auf der richtigen Spur sein.«
»Sagen Sie das nur, um den lästigen Anrufer loszuwerden?«
»Nein. Aber ich dachte, Sie hätten schon mit Bressard geredet.«
»Hab ich auch. Und er machte einen vollkommen unschuldigen Eindruck. Andererseits war ich ja nur da, um zu sehen, ob er noch am Leben ist.«
»Vielleicht sollten wir uns noch einmal mit ihm unterhalten. Matlock war Amerikaner. Das heißt, wir müssen mit den Mounties zusammenarbeiten.«
»Erinnern Sie mich bloß nicht daran.«
Cardinal ging ins Badezimmer zurück und trocknete sich die Haare ab. Jetzt hatte er eine Idee. Eine Richtung. Als er ins Schlafzimmer kam, lag Catherine unter der Decke und schlief fest. Neben ihr war ein dickes Buch aus der Bücherei mit dem Titel New York und die New Yorker auf der Seite mit einem Bild vom East Village aufgeschlagen.
Cardinal legte sich neben ihr ins Bett und machte das Licht aus. Er lauschte auf ihre regelmäßigen Atemzüge, Inbegriff von Frieden, Liebe und Geborgenheit. Und dann musste er wieder an die Karte denken.