15
Während das Team der Spurensicherung sich im Wald an seine Arbeit machte, fuhr Delorme nach Sudbury, achtzig Meilen westlich von Algonquin Bay. Das schimmernde Eis verlieh den vorbeieilenden Telefonmasten, den durchhängenden Kabeln, den scharfen Felskanten einen bizarren Reiz, doch Delormes Gedanken waren die meiste Zeit bei dem Fund im Wald.
Ein Verbrechen aus Leidenschaft? Vielleicht war Craig Simmons als verschmähter Liebhaber endgültig explodiert. Mit ziemlicher Sicherheit gab es in Dr. Cates’ Leben keine weiteren Verdächtigen für diese Art von Verbrechen. Ein Mann sagt, er habe sich daheim das Hockeyspiel angesehen, hat aber keine Zeugen. Nun ja, was will man machen, solange ihm das Gegenteil nicht nachzuweisen ist? Dr. Choquettes Alibi musste noch überprüft werden, aber er stand auf Delormes Liste nicht gerade obenan. Und zwei Leichen, die kurz hintereinander im Wald gefunden werden? Falls sich herausstellte, dass Craig Simmons nicht in Frage kam, dann lag die Vermutung nahe, dass es irgendeine Verbindung zwischen Dr. Cates und dem toten Amerikaner gab. Wieso aber wurde dann der eine den Bären vorgeworfen und die andere nicht?
Jetzt standen ihr erst einmal Dr. Cates’ Eltern bevor. Delorme hatte sie bereits telefonisch benachrichtigt, doch es war unerlässlich, sie persönlich aufzusuchen. Mit den Hinterbliebenen zu reden war gut und gerne das Schlimmste bei Mordsachen und das Einzige, was bei Delorme Sehnsucht nach dem Sonderdezernat aufkommen ließ. Im S.D., wo sie einige große Fälle gelöst hatte, brauchte man wenigstens niemandem zu erzählen, dass seine Tochter tot ist. Man brauchte nicht in einem Zimmer zu stehen und beinahe von ihrem Schmerz erdrückt zu werden.
Und genau das war eine halbe Stunde später der Fall. Auf dem Kaminsims Delorme gegenüber stand ein Foto von Winter Cates’ Abschlussfeier an der Uni, mit einem Lächeln, das Stolz und Freude über den Erfolg zum Ausdruck brachte. Ihre Mutter saß, ein Taschentuch in der Hand, zusammengekauert in einem Sessel in der Ecke – eine rundliche Frau in ihren Sechzigern, aber immer noch mit einem Hauch des pfirsichfarbenen Teints ihrer Tochter auf dem Bild. Ihr Vater, ein kantiger Mann mit weißem Bart und weißem Haar, das er zu einer Franse nach vorne gekämmt hatte, war Professor für englische Literatur an der Laurentian University. Er erinnerte an einen römischen Senator.
»Dieser Craig Simmons«, sagte Professor Cates. »Ich wusste vom ersten Augenblick an, dass er ein Fehler war. Wir beide wussten das. Winter war erst sechzehn, als sie ihn kennen lernte, und er war gut aussehend, athletisch gebaut und in der Footballmannschaft und … all das eben, was einem sechzehnjährigen Mädchen imponiert. Aber jedem Erwachsenen war klar, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er war zu leidenschaftlich. Zu vernarrt. Er hing dauernd wie eine Klette an Winter – buchstäblich. Kaum standen sie da in der Diele, packte er sie wie ein kleiner alter Mann am Ellbogen.«
»Und er hat sie immerzu angestarrt«, sagte Mrs. Cates leise. Ihre Augen waren gerötet, auch wenn sie im Moment nicht weinte. »In einer Art und Weise, die nicht mehr normal war. Er hing an ihren Lippen, wenn sie was sagte, als wäre jedes ihrer Worte eine Sache von Leben und Tod für ihn.«
»Winter war ja noch ein Kind«, sagte Professor Cates. »Sie hat das nicht durchschaut. Vermutlich hat sie einfach gedacht, er wäre superromantisch. Aber mit ein bisschen Lebenserfahrung sieht man, wenn es zur Obsession wird. Traurigerweise scheint das die einzige Form von Liebe zu sein, die man heutzutage noch zur Kenntnis nimmt. Ich meine, in Büchern und Filmen. Songs. Eine stille Liebe ist nicht mehr gefragt. Nein, nein, es muss Sturm und Drang sein.«
Nach Delormes Erfahrung war die Liebe normalerweise Sturm und Drang, aber sie hatte nicht vor, mit Professor Cates darüber zu diskutieren.
»Craig Simmons hat nie jemand anders als sich selbst geliebt«, fuhr er fort. »Er ist wie dieser besessene kleine Mistkerl, der John Lennon erschossen hat. Oder wie all die anderen Irren, die es nicht ertragen können, wenn sie jemand zurückweist, weil sie nie wirklich einen anderen Menschen geliebt haben. Die Gefühle der betreffenden Person haben dabei nichts zu sagen. Meinen Sie, er hat auch nur einmal darüber nachgedacht, ob Winter glücklich ist oder nicht? Hat er nicht. Wir haben letzte Woche mit ihr gesprochen, und sie hat gesagt, dass sie es einfach leid ist mit ihm. Sie hat nicht mehr mit ihm geredet, und sie hat nicht mehr zurückgerufen. Sehen Sie, bei den Craig Simmonses dieser Welt geht es doch immer nur um das eine – Ich, Ich, Ich. Großes I. Was anderes existiert für sie nicht. Und wenn etwas wie ein schallendes Nein sie zwingt zu begreifen, dass ihnen nicht das Universum gehört, dann ist es für sie gleich die völlige Vernichtung, und sie müssen zurückschlagen. Und genau das hat er getan.«
Die Stimme des Professors wurde immer lauter. Seine Frau lehnte sich zu ihm vor und legte ihm die Hand auf den Arm, doch er merkte es nicht.
»Dieser Wahnsinnige hat meine Tochter umgebracht, und ich will Gerechtigkeit, Detective Delorme. Ich will diesen mordenden Bastard für den Rest seines Lebens hinter Gittern schmoren sehen. Ich nehme an, er hat sie vergewaltigt?«
Delorme hatte diese Frage befürchtet und war nun doch nicht darauf vorbereitet. »Es gibt leider Anhaltspunkte dafür.«
Professor Cates zuckte so heftig von ihr zurück, als hätte jemand auf ihn geschossen. Er sank aufs Sofa und sackte mit dem Oberkörper nach vorn. Mrs. Cates erhob sich aus ihrem Sessel. Sie setzte sich neben ihn und legte ihm den Arm um den Rücken.
»Das Seltsame bei Craig Simmons ist …« Mrs. Cates sprach leise, kaum noch hörbar. »Alles, was mein Mann sagt, stimmt. Craig hat sich wirklich so benommen. Und trotzdem hatte ich immer das Gefühl, dass er das irgendwo gelernt hatte.«
»Sicher hat er das irgendwo gelernt«, sagte der Professor. »Er hat es aus Filmen gelernt, von seinen Eltern, als Kind, von Gott weiß woher – na und?«
»So habe ich das nicht gemeint. Ich meinte, er hat es irgendwo gelernt, wie ein Schauspieler seine Rolle lernt. Als ob er irgendwo gelesen hätte, dass man sich so verhalten sollte, also, verdammt noch mal, benahm er sich auch so. Man hatte irgendwie den Eindruck, er wusste ganz genau, dass es unangebracht war, aber er tat es trotzdem, das war wirklich traurig.«
»Hat Mr. Simmons Ihre Tochter je in irgendeiner Weise bedroht?«
Mrs. Cates sah zur Decke hoch, damit die Tränen nicht überliefen. »Nie«, sagte sie. »Nicht ein einziges Mal.«
Professor Cates saß so schnell kerzengerade, dass es unter anderen Umständen vielleicht komisch gewirkt hätte. »Was willst du damit sagen? Der Junge kreuzte alle naselang hier auf, ungebeten. Er stand vor der Tür, um sie zur Schule zu begleiten, was etwas anderes gewesen wäre, wenn sie miteinander gegangen wären, aber sie hatte mit ihm Schluss gemacht. ›Daddy, er ist schon wieder da‹, sagte sie dann, und ich musste rausgehen und ihm sagen, er soll abhauen. Nicht, dass es etwas genützt hätte. Eine Woche später war er wieder da.«
»Ich glaube nicht, dass die Kommissarin darauf hinauswollte, Liebes.«
»Wie viele unerwünschte Anrufe hat es gegeben? Hunderte? Tausende?«
»Es stimmt schon, dass er ständig anrief«, sagte Mrs. Cates. »Anfangs hatte ich Mitleid mit ihm. Man konnte gar nicht anders. Er war so offensichtlich verzweifelt.«
»Dass du ja nicht anfängst, diesem Bastard zu vergeben! Du solltest nicht einmal daran denken, ihm zu vergeben!«
»Das tu ich auch nicht. Ich sag nur, wie es war. Er hat nie gedroht, Winter etwas anzutun. Er wollte nur mit ihr reden. Sie sehen. Das war einfach zu viel für eine Sechzehnjährige, wie Sie sich wohl denken können.«
»Manchmal war er da draußen. Saß einfach nur in seinem Wagen.« Der Professor tippte mit dem Finger Richtung Straße.
»Aber dann sind Jahre vergangen, in denen er sie nicht belästigt hat«, sagte Delorme. »Habe ich Sie da richtig verstanden? Am College?«
»Das stimmt«, sagte Mrs. Cates. »Die ganze Zeit in Ottawa hat sie sich nicht über ihn beklagt. Allerdings muss man wissen, dass er da die meiste Zeit im Westen war. Er konnte sie nur ein-, zweimal besuchen. Er war im Mountie-Ausbildungslager in Regina, und danach haben sie ihn irgendwohin weit oben im Norden geschickt. Ich finde es beängstigend, dass jemand wie Craig Simmons als Polizist herumläuft. Und noch dazu bewaffnet.«
»Und danach war Winter bereit, freundschaftlich mit ihm zu verkehren? Ich meine, nachdem sie mit dem Studium fertig war?«
»Er hat ihr leid getan«, sagte Professor Cates. »Gott weiß, wieso. Ich hatte kein Mitleid mit ihm. Aber eins sollten Sie wissen. Winter wollte ihre Praxis gerne in Sudbury eröffnen. Der einzige Grund, warum sie es bleiben ließ, war er. Leider war Algonquin Bay nicht weit genug weg. Wahrscheinlich hätte keine Entfernung gereicht.«
Delorme blieb noch eine Viertelstunde, in der sie nicht mehr viel Neues erfuhr. Professor Cates folgte ihr bis zur glasgefassten Eingangstür. Draußen strahlte die Vorstadtkulisse unter blauem Himmel.
»Hören Sie«, sagte Professor Cates, »wann, glauben Sie, werden Sie ihn festnehmen?«
»Dafür haben wir nicht genügend Beweise gegen ihn.«
»Aber Sie wissen, dass er es war, oder?«
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben wir noch keine dringend Tatverdächtigen. So schlimm Mr. Simmons’ Verhalten gewesen sein mag, ist er deswegen noch nicht schuldig.«
Professor Cates betrachtete sie von oben bis unten, als gelte es, ihre Leistung zu benoten. Delorme konnte die Sechs förmlich sehen. »Eines wüsste ich nur gern«, sagte er. »Wozu soll der Verein, für den Sie arbeiten, gut sein, wenn Sie einen solchen Mann nicht hinter Schloss und Riegel bringen können?«
Das Leid der Cates lastete den ganzen Heimweg über auf Delorme. Sie versuchte, sich in die völlige Verzweiflung von Eltern hineinzuversetzen, die ein Kind verlieren, aber sie wusste, dass sie es nicht konnte. Unentwegt sah sie das Gesicht der jungen Ärztin vor sich, und Delorme schwor sich noch einmal, nicht zu ruhen, bis sie denjenigen geschnappt hatte, der ihr die Zukunft gestohlen hatte.
Ihre Gedanken wanderten erneut zu dem obsessiven Corporal Simmons, und auf einmal kam ihr ein eigener ehemaliger Freund namens René in den Sinn, der sich ähnlich obsessiv benommen hatte. Er meldete sich immer noch gelegentlich, gewöhnlich um zwei Uhr morgens. Meistens war er betrunken und sentimental und drohte unentwegt, er würde sich umbringen. Einmal war er plötzlich bei ihr aufgekreuzt, als sie mit einem anderen Mann zusammen war. Sie liegen auf dem Sofa und küssen sich, als es klingelt und René schwankend auf der Matte steht und mit den Fäusten gegen das Fliegengitter trommelt. Das hatte den neuen Freund äußerst nervös gemacht, und er kam nie wieder. Das Letzte, was sie gehört hatte, war, dass René in Vancouver gelandet sei – und geb’s Gott, dass er dort blieb.
Das Problem war, dass nicht viele ideale Männer in Algonquin Bay herumliefen und Delorme nicht die Absicht hatte, mit irgendjemandem in ihrer Dienststelle eine romantische Verbindung einzugehen. Es wäre schön, wenn jemand wie Cardinal – nicht Cardinal selbst, versteht sich – auf einmal vor ihrer Tür stünde. Einen weniger obsessiven Mann als Cardinal konnte sich Delorme kaum vorstellen. Da hast du deine stille Liebe, Professor. Man konnte Cardinal nicht gerade als einen glücklichen Menschen bezeichnen – er war ein Grübler, vielleicht sogar irgendwie deprimiert –, aber er sprach nie anders als mit Zuneigung von seiner Frau. Ihre Krankheit erwähnte er mit keiner Silbe, nicht ein einziges Mal. Und doch musste sein Leben mit ihr schwierig sein. McLeod behauptete, Cardinal habe seine Tochter praktisch allein aufgezogen. Zugegeben, es war oft ganz schön anstrengend, mit Cardinal zu arbeiten, er machte Fehler – man denke nur an diese unselige Bouchard-Geschichte in seiner Vergangenheit –, aber auf jemanden wie Cardinal konnte man sein Leben verpfänden, und er würde einen nie im Stich lassen.
Delorme musste unvermittelt bremsen, weil bei Sturgeon Falls plötzlich ein Lkw in den Highway einbog. Du liebe Güte, dachte sie, wieso muss ich an Cardinal denken? Er denkt mit Sicherheit nie an mich. Sie machte das Radio an. Ein Nachrichtensprecher gab bekannt, dass vor einem Restaurant in Montreal eine Rohrbombe hochgegangen sei, mit schönem Gruß von der French Self-Defence League, aus Protest gegen das englische Schild des Restaurants. Delorme schaltete auf einen französischen Pop-Sender um – Céline Dion, die über eine verlorene Liebe wehklagte – und beschloss, John Cardinal aus ihren Gedanken zu verbannen.
Zurück im Büro, schob Delorme einen Anruf in der Praxis des Coroners im Ontario Hospital dazwischen. Sie hatte zuerst Dr. Barnhouse am Apparat, der den Hörer an den Gastpathologen, Dr. Alain Lortie, weiterreichte. Er klang jung, doch selbstbewusst.
»Diese Frau starb an der Strangulation, das steht außer Zweifel. Wir haben Blutungen in den Lungen und den Augen, ganz zu schweigen von dem gebrochenen Zungenbein im Hals. Ich würde mal vermuten, dass das jemand getan hat, der ganz schön kräftig ist.«
»Und was ist mit Vergewaltigung, Doktor? Wir haben ihre Kleider ganz in der Nähe im Wald gefunden, die ihr offenbar vom Leib gerissen wurden.«
»Heruntergerissene Kleider könnten auf sexuelle Gewalt hinweisen. Vaginale Hämatome – und damit haben wir es hier zu tun – deuten in dieselbe Richtung. Die Kleider würde ich allerdings nicht zu hoch bewerten, da die Hautverfärbungen nahe legen, dass sie woanders getötet wurde. Das Entfernen der Kleidung erscheint mir daher nachgestellt. Kein Sperma am oder im Körper, keine vaginalen oder analen Fissuren. Aus dem Bauch heraus würde ich sagen, dass diese Frau nicht vergewaltigt wurde.«
»Sind Sie sich da sicher?«
»Kann den Gegenbeweis nicht antreten, Detective. Es ist nur mein Gefühl.«
»Aber jemand wollte, dass es wie Vergewaltigung aussieht?«
»Scheint so, ja.«
»Was ist mit dem Zeitpunkt des Todeseintritts?«
»Mageninhalt: zwei Schokoladenkekse, nicht viel mehr.«
»Nun, wir wissen, dass sie diese Kekse Montagabend um 23.30 Uhr gegessen hat. Sie hat mit einer Freundin telefoniert.«
»Also, danach zu urteilen, wie weit sie in ihrem Verdauungstrakt gelangt sind, würde ich sagen, sie ist ungefähr eine Stunde nach diesem Telefongespräch getötet worden. Sonst nichts von Interesse, fürchte ich. Ich faxe Ihnen meinen vollständigen Bericht zu.«
»Herzlichen Dank, Doktor, dass Sie das übernommen haben. Ich weiß, dass Sie nicht in der Stadt sind, um Autopsien durchzuführen.«
»Hab ich gern gemacht.«
Delorme speicherte den Todeszeitpunkt in ihrem mentalen Ordner unter »unbestrittene Fakten« ab und ging zur Snackbar hinunter. Neben dem Cola-Automaten hing ein schwarzes Brett, und Delorme blieb wie immer davor stehen, um es zu lesen. Außer den Verkaufsanzeigen steckte daran eine Liste von Zulassungsnummern – allesamt notiert an der Northtown Mini-Mall.
Die Video-Arkade in der Mini-Mall hatte sich in der letzten Zeit zu einem Ärgernis in diesem Viertel entwickelt. Teenager hingen bis in die Puppen herum, rauchten Haschisch und hauten auf den Putz. Die Polizisten, die hier Streife gingen, waren angehalten, das Kennzeichen jedes Wagens aufzuschreiben, das nach elf Uhr abends in der Nähe des Ladens parkte. Es war als ein kostengünstiges, unspektakuläres Projekt gedacht, um den oder die Dealer loszuwerden, die den Kids das Gras besorgten. Die Liste mit den Autonummern prangte unter der süffisanten Überschrift: Die Meistgesuchten von Algonquin Bay!
Das Weiterverfolgen dieser Kennzeichen war ein ganz und gar inoffizieller Einsatz – wenn man überhaupt von einem Einsatz sprechen konnte. Es war das, was der Polizeichef überzeugend eine »andauernde Bemühung« nannte, um ein geringfügiges Problem in den Griff zu bekommen. »Wir haben die Situation unter ständiger Kontrolle«, konnte R.J. sagen und dabei noch in den Spiegel sehen. Kurz gesagt, niemand nahm die Nummernschildliste sonderlich ernst; sie hing ebenso selbstverständlich am schwarzen Brett neben dem Cola-Automaten wie Kaufanzeigen für Heimtrainer oder Vermietungsanzeigen für Cottages. Dennoch warf jeder einen Blick darauf.
Delorme steckte eine Ein-Dollar-Münze in den Getränke-Automaten und drückte den Knopf für Diät-Cola, nur um eine normale Cola zu ziehen. Sie stand da und nippte an der Dose, während sie sich ein Bild mit einer Hockeyausrüstung ansah – ein komplettes Kinder-Torwartoutfit für »nur« fünfhundert Dollar. Sie las eine Suchanzeige über ein neues Heim für sechs Tigerkatzenbabys sowie eine wegen eines »saubilligen« Laptops. Melde dich bei Nancy Newcombe, hatte ein Witzbold darunter geschrieben; Nancy Newcombe leitete die Asservatenkammer.
Als Delorme gerade über die Kalorienzahl in der Cola nachdachte, fiel ihr Blick auf die Liste mit den Fahrzeugkennzeichen. Und da war es: PAL 474, leicht zu merken. Delorme schlug die Seite in ihrem Notizbuch auf, um die Nummer zu überprüfen. Doch nicht wegen der Nummer als solcher pochte ihr das Blut in den Adern, sondern wegen des Zeitpunkts, zu dem der Streifenpolizist sie notiert hatte: Montag, 23.00 Uhr.
Ein gesetzestreuer Bürger kann in fünfunddreißig Minuten von Algonquin Bay nach Mattawa fahren. Delorme schaffte es in weniger als zwanzig. Das Simmons-Cottage prangte am Ende der Einfahrt in mauvefarbenem viktorianischem Glanz. Die Lebkuchenverkleidung hatte der gefrorene Regen jetzt mit einem kristallklaren Zuckerguss überzogen. Craig Simmons’ Jeep war noch da. In Delormes Kopf leuchteten die Kennzeichen wie eine Neonschrift in grellroten Buchstaben: schuldig.
Delorme klingelte an der Haustür, aber es machte niemand auf. Sie entdeckte Simmons hinter dem Bootshaus, wo er ein kompliziert aussehendes Schloss an die Tür montierte. Der Mattawa River, in dieser Gegend tief und schwarz, strudelte stürmisch hinter ihm. Er sah nur einen winzigen Moment zu Delorme auf und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu.
»Corporal Simmons, ich habe noch einige Fragen an Sie.«
»Sie ist tot. Ich hab’s in den Nachrichten gehört. Mir ist im Moment wirklich nicht danach, mich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Sie sind Mountie. Sie wissen, dass ich nur meine Pflicht tue. Machen Sie es uns nicht schwerer, als es schon ist.«
Simmons betrachtete sie mit Abscheu. Er ließ seinen Schraubenzieher scheppernd in einen Werkzeugkasten fallen und ging Richtung Haus.
Delorme folgte ihm nach drinnen. Es roch nach Kaffee. Simmons goss eine Tasse ein und bot sie Delorme an. Als sie ablehnte, nahm er sie mit ins Wohnzimmer, wo er sich auf die Kante einer Chaiselongue setzte und das Gesicht in den Händen vergrub. Delorme spannte in Erwartung des nächsten Ausbruchs alle Muskeln an. Doch als der Corporal die Arme sinken ließ, starrte er nur auf seine Hände, als hielte er darin ein aufgeschlagenes Buch. »Ich wusste, dass sie tot ist, vom ersten Augenblick an. In dem Moment, als sie verschwunden war. Winter ist einfach nicht der Typ, der verschwindet.«
»Sie wirken ziemlich gefasst.«
»Gefasst? Nein, das würde ich nicht sagen.«
Delorme setzte sich auf die Kante eines Ohrensessels. »Jedenfalls ruhiger als das letzte Mal.«
»Sie glauben, ich hätte Winter getötet. Und Sie denken, ich wäre ruhig, weil ich sie getötet habe.«
Delorme zuckte die Achseln. »Wem der Schuh passt …«
»Meinen Sie nicht, dass es möglich ist, gefasst und gleichzeitig tief getroffen zu sein?« Simmons nahm einen Schluck aus einer zarten, geblümten Tasse, die in der Hand eines so muskulösen Mannes absurd wirkte. »Können Sie sich nicht vorstellen, dass die Gewissheit über Winters Tod weniger quälend ist, als sich den Kopf darüber zu zermartern, wo sie ist? Sich zu fragen, ob sie irgendwo liegt und verletzt ist oder Schmerzen hat? Ich sitze hier am Boden zerstört, aber zugleich, ja, weniger unter Stress, mir fällt kein besseres Wort ein.«
»Ich hätte eigentlich gedacht, dass Sie bedeutend mehr unter Stress stehen, wenn man bedenkt, dass Sie kein Alibi haben – außer dem Hockeyspiel, das Sie, wie Sie sagen, Montagabend gesehen haben.«
»Aber ich weiß, dass ich unschuldig bin, nicht wahr? Das macht somit Ihnen mehr zu schaffen als mir. Seit ich Winter das erste Mal begegnet bin – das ist jetzt über zehn Jahre her, wir waren noch an der Highschool –, habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als mit ihr zusammen zu sein. Aber für sie ist es nie dasselbe gewesen. Sicher, sie hatte mich gern. Es gab manches an mir, das sie mochte. Aber ich wollte sie heiraten, und sie hat nie eingewilligt. Es hat entsetzlich wehgetan.«
Simmons betrachtete den Dampf, der aus seiner Tasse aufstieg. Er strich sich die blonden Fransen aus dem Gesicht. Er wäre attraktiv, dachte Delorme, wenn er nicht so unecht wäre, so ein Schauspieler.
»Von dem Moment an, als wir uns kennen lernten, war es, als hätte ich diesen Motor in mir – muss sie haben, muss sie haben, muss sie haben.« Er sprach die Worte so an einem Stück, dass es wie ein aufheulender Motor klang. »Tag für Tag, Jahr für Jahr hat sich bei mir alles nur darum gedreht, Winter dazu zu bringen, dass sie mich auch liebte. Ich war zu allem bereit. Als ich im Ausbildungslager draußen in Regina war, bin ich manchmal bis nach Ottawa geflogen – hat mich ein Schweinegeld gekostet! –, um nur einen Tag mit ihr zusammen zu sein. Einen einzigen Tag!
Und Briefe. Ich hab ihr endlose Briefe geschrieben und ihr gesagt, wie sehr ich sie liebe. Ich hab sogar angefangen, Bücher über Medizin zu lesen, weil es das war, was sie studierte. Können Sie sich das vorstellen?«
»Hören Sie, Corporal Simmons, es ist mir nicht neu, dass Sie Dr. Cates völlig verfallen waren. Das haben schon Ihre Telefonnachrichten deutlich gemacht.«
»Wissen Sie, wie das war?« Simmons blickte sie an, und Delorme sah, dass er keine Antwort erwartete. »Es war, als wäre ich zehn Jahre lang zu hochtourig gefahren. Mehr als zehn Jahre. Und wissen Sie was? Es ist vorbei. Und deshalb ist, obwohl ich verzweifelt bin, dass Winter nicht mehr lebt, zugleich diese Last nicht mehr da. Ich muss es nicht mehr versuchen. Es ist vorbei. Ich kann nichts daran ändern, und ich muss sie nicht mehr für mich gewinnen, und deshalb ist es auf absurde Weise auch irgendwie eine Erleichterung.«
»Na, wie schön für Sie«, sagte Delorme. »Ich bin sicher, es hätte Dr. Cates nichts ausgemacht zu sterben, wenn sie gewusst hätte, wie gut Sie sich dadurch fühlen würden. Wahrscheinlich hätte sie es schon viel früher getan.«
»Sie können mich nicht wirklich verdächtigen, Detective. Ich bin ehrlicher, als es die meisten Menschen in dieser Situation wären.«
»Natürlich sind Sie das. Also wirklich, ich bin beeindruckt. Ach, und nebenbei, Sie waren tatsächlich hier und haben sich das Hockeyspiel angesehen, als sie getötet wurde, ja? Das haben Sie jedenfalls gesagt.«
»Das habe ich gesagt, und es ist die Wahrheit.«
»Dann erklären Sie mir mal, wieso Ihr Jeep Wrangler, Kennzeichen PAL 474, Montagnacht an der Northtown Mini-Mall in Algonquin Bay gesehen wurde? Kurz bevor Dr. Cates getötet wurde.«
Simmons stellte langsam seine Tasse auf den Tisch, so behutsam, dass es kein Geräusch machte. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Dann lehnte er sich vor und vergrub noch einmal sein Gesicht in den Händen.
»Das Gericht wird Ihre so genannte Ehrlichkeit kaum zu würdigen wissen, Corporal Simmons. Sie haben behauptet, Sie wären hier gewesen, als Winter ermordet wurde, aber das waren Sie nicht. Sie waren in Algonquin Bay.«
»Oh, mein Gott«, sagte Simmons unter seinen Händen. »Oh, gütiger Gott.«