29
Es war gegen Mittag, als Chouinard ihn den Montag darauf in sein Büro bestellte.
»Sie sind raus aus dem Shackley-Cates-Fall«, sagte er ohne Umschweife. »Und Sie wissen, warum.«
»Zweifellos, weil jemand Sie aufgefordert hat, mich davon abzuziehen.«
»Sie können Kendall fragen, wenn Sie wollen. Aber das ändert gar nichts.«
Der Chief war in noch üblerer Verfassung als Chouinard.
»Sie haben ganz und gar Ihren Auftrag vernachlässigt, der schlicht darin bestand, bei einer öffentlichen Veranstaltung zur Sicherheit beizutragen. Sie erheben wilde Anschuldigungen gegen einen prominenten Geschäftsmann. Sie verletzen derart viele Verfahrensregeln, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Und dann kommen Sie zu mir und wollen wissen, wieso Ihnen der Fall entzogen wurde?«
»Chief, haben Sie sich angesehen, was wir gegen Laroche haben?«
»Ich sehe nur, was wir nicht haben. Was wir nicht haben, ist eine seriöse Beweisführung gegen Paul Laroche. Erstens können wir nicht beweisen, dass er Yves Grenelle ist, daher haben wir auch kein Motiv. Zweitens hat ihn niemand in Dr. Cates’ Wohnung oder im Loon Lodge gesehen, folglich können wir auch nicht beweisen, dass er die Gelegenheit hatte. Und drittens haben wir keine Mordwaffe, und somit können wir nicht nachweisen, dass er über die Mittel verfügte.«
»Es gibt keine anderen Verdächtigen bei diesem Fall, Chief. Die DNA in dem Blut aus Dr. Cates’ Praxis passt zu der DNA aus dem Blut im Wagen. Wir wissen, dass der Mann, der Dr. Cates getötet hat, derselbe ist, der Shackley getötet hat, und wir wissen, dass Laroche ein Motiv hatte, ihn zu töten.«
»Nein, das wissen Sie eben nicht. Sie wissen nur, dass Yves Grenelle eins hatte.«
»Wir brauchen nichts weiter als eine richterliche Verfügung, dass wir Laroches DNA überprüfen dürfen. Ich weiß, dass sie passt. Delorme weiß es. Sie wissen es.«
»Ich weiß nur so viel, wie ich aus der Beweislage wissen kann. Und die Staatsanwaltschaft hat Ihnen schon einmal gesagt, dass Sie für eine DNA-Verfügung nicht genug in der Hand haben. Offenbar haben Sie das als eine Aufforderung verstanden, Paul Laroche zu belästigen.«
»Er ist ein Mörder, Chef. Er gehört hinter Gitter.«
»Dahin kriegen Sie ihn nicht, indem Sie die Realität leugnen. Und diese Realität besagt jetzt, dass Ihnen der Fall entzogen wurde. Ehrlich gesagt hätte ich, wenn nicht gerade Ihr Vater gestorben wäre, ernsthaft überlegt, ob ich Sie vom Dienst suspendiere. Wir werden einfach sagen, Sie standen unter Stress und Ihr Urteilsvermögen war getrübt. Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht? Dass Sie nur lange genug quasseln müssen, um ihm ein Geständnis zu entlocken?«
»Manchmal passieren erstaunliche Dinge. Das ganze Cates-Verbrechen zeugt von einer gewissen Panik.«
»Ihr Urteilsvermögen war getrübt, Cardinal. Verschwinden Sie lieber, bevor ich es mir anders überlege.«
Irgendwann zog der Eisregen ab. Die Wolken und der Nebel wurden wie Bühnenrequisiten irgendwo hingeräumt, und die Sonne schien wieder über den glitzernden Wäldern. Nach und nach wurden die umgefallenen Strommasten, die abgebrochenen Äste und Bäume von den vereisten Bergen und Straßen geräumt. Der Winter kehrte mit dem gewohnten Schnee und mit Temperaturen unter dreißig Grad minus zurück. Die Bewohner von Algonquin Bay mummelten sich in ihre Daunenparkas ein und drehten die Heizung, als sie wieder funktionierte, auf volle Kraft.
Der Frühling ließ dieses Jahr nicht lange auf sich warten. Es wurden die üblichen Wetten abgeschlossen, wann das Eis auf dem Lake Nipissing diesmal aufbrechen würde, doch niemand hatte es annähernd getroffen. Mitte April war die letzte weiße Miniaturinsel zerschmolzen. Im Mai war nur noch ein letztes Relikt des Winters übrig geblieben: am unteren Ende der Bradley Street, dort, wo sie in großem Bogen um eine niedrige Hügelkette führt, wo die Ausläufer der Laurentian Hills fast bis ans nördliche Ufer des Lake Nipissing reichen. Das ist die Stelle, wo die Räumfahrzeuge von Algonquin Bay ihre Schneemassen abladen. Am Ende der Saison ist der Platz ein einziger Tafelberg aus kristallisiertem Schnee, außen dunkel von Schotter, Salz und anderen Verunreinigungen und innen mit langen weißen Kristallen verziert. Dieser von Menschen aufgeschüttete Berg ist so fest, dass er nicht vor Mitte Juni schmilzt.
Cardinal und Catherine konnten selbst mitten auf dem See in der Ferne sehen, wie er an den Stellen, wo Eisstücke abgebrochen waren, in der Sonne glitzerte. Das Ufer entlang leuchteten die Knospen von Birken und Pappeln smaragdgrün. Andere Bäume, die Cardinal vom Wasser aus nicht bestimmen konnte, quollen von weißen Blüten über.
Die Sonne wärmte ihnen Gesicht und Hände, doch ein scharfer Wind ging durch den Anorak, und die kanadische Flagge am Bootsheck veranstaltete ein fröhliches Knatterkonzert.
Cardinals Boot war ein kleiner Außenborder aus Fiberglas, den sein Vater gekauft hatte, als Cardinal noch an der Highschool war. Es hatte nur einen 35er Evinrude-Motor, nichts, was mit seiner Bugwelle Kanus zum Kentern brachte, doch es brachte einen schnell und verlässlich über den Lake Nipissing. Das Seltsame an diesem See ist, daß er zwar nach den Großen Seen der größte in Ontario ist, aber auch einer der seichtesten – nicht mehr als zwölf Meter an den tiefsten Stellen. Selbst eine leichte Brise wie diejenige, die an diesem Maimorgen in Cardinals Gesicht schnitt, konnte ein Boot ganz schön ins Schaukeln bringen. Die Wellen schlugen energisch gegen den Rumpf.
Sie waren am West Ferris Dock abgefahren und schipperten langsam an der Stadt vorbei. Die Kalksteinkathedrale war elfenbeinweiß, die Windschutzscheiben mancher Autos reflektierten die Sonne und leuchteten wie Spiegel. Jogger in bunter Sportkleidung liefen am Ufer entlang.
»Schau dir die armen Bäume an«, sagte Catherine und wies mit dem Finger zum Ufer. Viele der Ahornbäume und Pappeln waren an den Spitzen waagerecht abgesägt – eine Maßnahme, die vom Eisregen gespaltene Stämme und abgebrochene Äste erfordert hatten. Es würde Jahre dauern, bevor sie wieder zu ihrer natürlichen Gestalt herangewachsen wären.
»Ich seh mir gerade die Häuser an«, sagte Cardinal. »Da. Da. Und da drüben.« Er zeigte auf die roten Ziegel des Twi ckenham-Gebäudekomplexes, den weißen Turm des Balmoral. Von hier draußen konnten sie sogar das Hauptchalet des Highlands Ski Club sehen. »Und das alles gehört Paul Laroche, einem Burschen, der nicht mal frei rumlaufen dürfte.«
»Na ja, er läuft ja auch nicht mehr frei rum, wenigstens nicht in Algonquin Bay.«
»Und wir können ihn nirgends ausfindig machen. Wir glauben, dass er irgendwo in Frankreich ist.«
»Na ja, das kannst du zumindest als Teilerfolg verbuchen, nicht wahr? Er musste alles zurücklassen, was er sich über die Jahre aufgebaut hatte.«
»Es ist wenigstens etwas, aber als Sieg kann ich das nicht betrachten.«
Er riss das Boot herum, so dass sie der Stadt den Rücken kehrten und der Bug in Windrichtung lag, dann lehnte er sich gegen die Drosselklappe zurück.
»Du willst es hier machen?«, fragte Catherine.
»Hier geht es so gut wie an jeder anderen Stelle, würde ich sagen. Kannst du eine Minute das Steuer übernehmen?«
Das Boot wackelte unter ihnen, als sie die Plätze tauschten. Cardinal zog einen schwarzen Behälter aus einem Leinenbeutel, den das Bestattungsinstitut mitgeliefert hatte.
»Ich dachte, es ist illegal, über dem See Asche auszustreuen«, sagte Catherine, »streng genommen.«
»Stimmt«, sagte Cardinal, »streng genommen.« Er fragte sich, wie man den Behälter aufmachte. Es war ein schweres, rhombenförmiges Ding aus Kautschuk oder so etwas Ähnlichem. Es war nirgends ein Griff oder eine Lasche daran, um das Gefäß festzuhalten und aufzumachen. Noch gab es offenbar einen Schraubverschluss.
»Was werden sie wohl tun, wenn Sie dich erwischen?«
»Die Polizei? Darauf bestehen, dass ich sie wieder raushole.«
»Nein, mal ernst.«
»Wahrscheinlich muss man ein kleines Bußgeld zahlen«, sagte Cardinal. »Ich glaube, ich brauche einen Dosenöffner, um das aufzukriegen.«
»Soll ich mal?«
»Keine Sorge, ich verfüge über das nötige Werkzeug.« Cardinal zog sein Taschenmesser heraus und machte sich daran, den Deckel aufzuhebeln. Einen Augenblick später gab der Deckel nach, so dass eine durchsichtige Plastiktüte von der Größe einer Halb-Pfund-Mehltüte mit blassgrauer Asche zum Vorschein kam. Die meisten Teilchen waren kleiner als der Nagel an seinem kleinen Finger.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass er nicht mehr da ist«, sagte Catherine. »Er war so ein … vitaler Mensch.«
Cardinal machte das kleine Plastikband ab und öffnete die Tüte, den Behälter immer noch auf den Knien.
Noch eben hatten sie den See für sich gehabt, jetzt wimmelte es von Booten. Ein Segelboot fünfzehn Meter von ihnen entfernt. Ein Motorboot, das im Affenzahn auf sie zukam. Selbst ein Kanu, das sich nicht vom Ufer wegtraute.
»Ich warte lieber, bis sie vorbei sind«, sagte Cardinal.
»Willst du etwas sagen?«, fragte Catherine. »Wenn du sie ausstreust?«
»Ich weiß nicht. Es wäre wohl angebracht. Ich meine, ich möchte schon, ich stelle mich bei so was nur furchtbar an.«
»Sag einfach, was immer du empfindest, John. Du weißt, dass er dich geliebt hat.«
Cardinal nickte. Er atmete ein paar Mal tief durch, um ins Gleichgewicht zu kommen. Das Motorboot surrte vorbei. Eine vierköpfige Familie. Die Kinder im Heck schrien: »Ahoi, ahoi.« Catherine winkte zurück.
»Also«, sagte Cardinal. »Los geht’s.« Er drehte sich auf seinem Sitz um und kniete sich darauf. »Ich zieh das nicht unnötig in die Länge, ich verstreue sie nur und fertig.«
»Okay. Ich halte das Boot gerade.«
Der Wind war stärker geworden. Cardinal musste die Hand tief zum Wasser hinunterhalten, damit die Asche nicht quer über das Boot wehte. Während er sich über die Bootskante lehnte, erfasste sie der Wellenschlag des Motorboots und brachte sie zum Schaukeln. Er musste sich am Dollbord festhalten.
»Das hätte mir gerade noch gefehlt – dass ich reinfalle. Dad hätte seinen Spaß.«
»Ja, bestimmt.«
Cardinal kam wieder ins Gleichgewicht und hob den Beutel aus dem Behälter. Dann schüttelte er ihn sachte mit beiden Händen aus, als ob er im Garten Saatgut ausstreute. Es dauerte ein, zwei Minuten, bis der Beutel leer war, und inzwischen hatte sich ein breiter, grauer Streifen hinter ihnen gebildet. Viele der leichteren Flocken schwammen auf der Wasserfläche, und noch feinere Partikel flogen mit dem Wind davon.
»Ich glaube, ich will einfach nur sagen … ich glaube, ich möchte … zum See sagen: Nimm diese Asche und sei nett zu ihr. Das war ein guter Mann.« Cardinal musste tief Luft holen. »Das war ein guter Ehemann und ein guter Ernährer. Ein guter Mann – ich weiß, das hab ich schon mal gesagt. Das war mein Vater.«
Cardinal drehte sich um und setzte sich wieder in Fahrtrichtung. Er fühlte sich plötzlich erschöpft.
Catherine hielt seinen Arm. Sie stellte den Motor ab, lehnte sich herüber und legte schweigend den Kopf an seine Schulter. Cardinal fühlte, wie sie sich unter Tränen schüttelte.
Das Boot trieb im Wind und drehte sich ein wenig, so dass sie noch einmal auf das glitzernde Algonquin Bay blickten. Sie ließen sich vielleicht eine Viertelstunde lang treiben, ohne etwas zu sagen. Dann drückte ihm Catherine den Arm und sagte: »Ich mochte, was du gesagt hast.«
Cardinal spülte den Beutel und den Behälter im Wasser aus, bevor er sie auf den Rücksitz legte.
»Soll ich wieder das Steuer übernehmen?«
»Nein«, sagte Catherine. »Geht schon.«
Sie startete den Motor, und sie fuhren wieder Richtung West Ferries. Unterwegs lauschten sie auf das Raunen der Wellen gegen den Bootsrumpf. Der Wind verfing sich in Catherines braunem Haar und warf es in alle Richtungen. Die Sonne brachte Farbe auf ihre Wangen, und sie sah so aus wie die Frau, die Cardinal vor beinahe dreißig Jahren geheiratet hatte.
Er lehnte sich vor und berührte ihre Schulter.
Catherine sah sich zu ihm um. »Was?«
»Nichts«, sagte Cardinal. »Nach Hause, Captain, volle Fahrt voraus.«