14

 

Etwa um die Zeit, als Cardinal nach New York abgeflogen war, hatte Lise Delorme die weniger spektakuläre Aufgabe erfüllt, einen Handzettel zur Auffindung von Dr. Cates zu entwerfen und zu vervielfältigen. Unter dem Foto der Vermissten stand: Haben Sie diese Person gesehen? Ganz unten war Delormes Telefonnummer abgedruckt. Szelagy verbrachte seinen Vormittag damit, sämtliche Nachbarn der Ärztin im Twickenham zu befragen. Delorme legte die Hälfte der Handzettel auf Szelagys Schreibtisch und ging dann zur Spurensicherung hinüber.

Von allen Räumen des Präsidiums war die Spurensicherung derzeit am meisten in Mitleidenschaft gezogen. Die gesamte Decke fehlte, und die Beamten hatten provisorische Plastikzelte über ihren Schreibtischen und Aktenschränken aufgestellt. Das Plastik schützte ihr Inventar vor Staub und verhinderte ebenso wirkungsvoll jede Luftzirkulation. Dafür richtete es rein gar nichts gegen den Baulärm über ihnen aus.

»Wie können Sie da drin bloß arbeiten?«, fragte Delorme Arsenault. Sie musste gegen das Kreischen eines Metallbohrers anbrüllen. »Sie kriegen keine Luft.«

»Luft?«, fragte Arsenault zurück. »Ich bin dabei, taub zu werden, und Sie sorgen sich um die Luft?«

Collingwood sah einen Moment zu Delorme hoch, um sich sogleich wieder seinem Computer zuzuwenden, unbeeindruckt wie ein Mönch.

Delorme und Arsenault gingen in den Flur.

»Was können Sie mir aus Dr. Cates’ Praxis geben?«

»Es ist eine Arztpraxis – sie halten sie sauber. Ich hoffe, Sie erwarten keine zigtausend Fingerabdrücke oder so.«

»Einer würde mir reichen.«

»Also, da haben wir ein bisschen mehr zu bieten, aber die meisten stammen von Dr. Cates und ihrer Sprechstundenhilfe. Die übrigen gleichen wir gerade mit der daktyloskopischen Datei ab, aber bis jetzt haben wir noch nichts.«

»Und die Verbandshülle?«

»Abdrücke von der Ärztin. Sonst nichts.«

»Sie brechen mir das Herz, Paul. Und was ist mit dem Papier von der Untersuchungsliege? Die Sprechstundenhilfe schwört, dass es Montagabend erneuert wurde, aber gestern Morgen war es benutzt.«

»Leider kein Haar, keine Faser. Aber dafür haben wir ein paar Blutspuren gefunden. Es ist AB negativ.«

»Das ist selten, oder?«

»Ziemlich selten sogar. Wir haben es für die DNA-Analyse zur Gerichtsmedizin eingeschickt, aber Sie wissen ja selber – das braucht seine Zeit.«

 

Delorme fuhr durch einen leichten, gefrierenden Regen zum Wohnsitz von Dr. Raymond Choquette. Der Arzt hatte fünfundzwanzig Jahre lang in Algonquin Bay praktiziert. Er wohnte in einen dreistöckigen roten Backsteinhaus auf der Baxter, einer kleinen, ansteigenden Nebenstraße weniger als vier Häuserblocks vom St. Francis Hospital entfernt. Delorme konnte auf Anhieb mindestens drei Ärzte nennen, die in der Baxter Street wohnten. Ihre Eltern hatten sie zu einem Arzt namens Renaud mitgenommen, der hier seine Praxis hatte. Er war ein bärbeißiger alter Knacker gewesen, ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt, der immer eine reflektierende Lampe auf der Stirn trug. Er hatte Delorme stets gedroht, ihr die Mandeln herauszunehmen, war aber gestorben, bevor er seine Drohung wahr machen konnte.

Neben dem Seiteneingang zu Choquettes Haus parkte ein Toyota RAV4. Da das Thermometer wieder fiel, war der Toyota von einer zarten Eisglasur bedeckt. Delorme parkte dahinter und notierte sich das Kennzeichen, bevor sie aus dem Wagen stieg.

Als Choquette die Haustür aufmachte, zeigte Delorme ihm ihre Dienstmarke und stellte sich auf Französisch vor.

»Sie haben Glück, dass Sie mich noch erwischen«, antwortete Choquette auf Englisch. »Morgen um diese Zeit werden meine Frau und ich schon in Puerto Rico sein.« Der Doktor war ein kleiner Mann Mitte fünfzig, mit einem rötlichen Gesicht, das ihm etwas Verschmitztes verlieh – was er, wie Delorme vermutete, gar nicht war –, und einer langen, geraden Nase, die ihm etwas Snobistisches verlieh, was er, wie Delorme vermutete, ganz sicher war.

Delorme fuhr auf Englisch fort. »Dr. Choquette, kennen Sie eine Frau namens Winter Cates?«

»Ja, natürlich. Sie übernimmt meine Praxis. Besser gesagt, hat meine Praxis übernommen. Gibt es irgendwelche Probleme? Sagen Sie bloß, es ist schon wieder eingebrochen worden …«

»Ich fürchte, Dr. Cates gilt als vermisst.«

»Vermisst? Was genau heißt das? Ist sie nicht in die Praxis gekommen?«

»Seit dem späten Montagabend, als sie zu Hause beim Fernsehen war, hat sie niemand mehr gesprochen oder gesehen. Gestern hat sie eine Operation verpasst, bei der sie assistieren sollte, und sie ist auch nicht zu ihrer Sprechstunde erschienen.«

»Vielleicht hatte sie einen Unfall. Dieser ständige Regen, und jetzt gefriert er auch noch.«

»Dr. Cates ist verschwunden, ihr Wagen nicht.«

»Du liebe Güte, das klingt gar nicht gut. Sind Sie sicher? Ich hab sie noch vor ein paar Tagen gesehen.«

»Macht es Ihnen was aus, wenn ich reinkomme und Ihnen ein paar Fragen stelle?«

Dr. Choquettes rosige Wangen sackten ein bisschen nach unten, doch er tat so, als sei es ihm eine große Freude. »Selbstverständlich. Kommen Sie herein. Wenn ich irgendwie helfen kann …«

Choquette führte Delorme in ein kleines Fernsehzimmer. Es war winzig, gemütlich und voller Bücherregale gespickt mit englischen Titeln. Delorme hatte die plötzliche Eingebung, dass Dr. Choquette einer von diesen beinahe ausgestorbenen Ontario-Frankokanadiern war, die sich vollkommen mit der englischen Kultur verbunden fühlen und ihre eigene verleugnen. Auf einer Reihe von Fächern standen Golfvideos und -trophäen. Offenbar nahm er regelmäßig an den hiesigen Turnieren teil. Es waren kleine und große Auszeichnungen dabei, goldene Männer, die goldene Schläger schwingen, Plaketten, Pokale, Henkelbecher und Andenken von diversen Wettkämpfen. Auf einem Foto an der Wand posierte Choquette in karierter Hose und gelber Strickjacke neben einem berühmten Golfspieler; Delorme war nicht sicher, ob es Jack Nicklaus oder der andere war. Mit Ausnahme von Tiger Woods sahen für sie alle Golfer gleich aus: Männer in seltsamen Hosen.

»Hoffentlich ist ihr nichts passiert«, sagte er immer wieder. »Ich kann nur hoffen, dass mit ihr alles okay ist.«

»Sie sagen, Sie haben sie kürzlich gesehen. Wann genau?«

»Das war im Wal-Mart. Ja, genau, im Wal-Mart, und ich weiß, dass es am Donnerstag war.«

»Hatten Sie den Eindruck, dass sie unter irgendeinem besonderen Stress stand?«

»Ganz und gar nicht. Sie ist ein fröhliches Ding. Unerschrocken, ist mein Eindruck – ich meine, jemand, der sich durch nichts unterkriegen lässt.«

»Wissen Sie von irgendwelchen Feinden? Irgendjemand, vor dem sie Angst hatte? Der ihr Sorgen machte?«

»Winter? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie irgendeinen Feind auf der Welt hat. Sie ist ganz und gar gesellig. Seit sechs Monaten in der Stadt, und sie hat schon mehr Freunde am Krankenhaus als ich in meinen ersten sechs Jahren. Und ich will Ihnen auch ihr Geheimnis verraten: Sie assistiert gerne.«

»Assistiert?«

»Im OP im Krankenhaus. Sie hat sofort alle wissen lassen, dass sie gerne assistiert, und das ist selten.«

»Und wieso?«

»Wieso?« Choquette sah sie an wie den letzten Trottel. »Weil es lausig bezahlt wird, darum. Die Landesregierung hat in ihrer unergründlichen Weisheit die Honorare so gestaffelt, dass ein Allgemeinmediziner weitaus mehr verdient, wenn er in seiner Praxis Patienten betreut, als wenn er bei einer Operation assistiert. Zwei Stunden im OP, und Sie bekommen dasselbe wie für die Behandlung von zwei, drei Patienten. Natürlich können Sie in derselben Zeit weitaus mehr Patienten betreuen. Heutzutage läuft der Hippokrates-Eid auf ein Armutsgelübde hinaus. Wissen Sie, was ich bekomme, wenn ich Ihnen einen gebrochenen Arm schiene? Nicht mal halb so viel, wie ein Tierarzt bekommt, wenn er dasselbe mit der Pfote Ihres Hundes macht. Ach, lassen wir das lieber. Alles, was Sie über Winter Cates wissen müssen, ist, dass sie unter den Medizinern hier sehr beliebt ist. Gut gepolsterte Nerven und großartiger Sinn für Humor. Glauben Sie mir, Humor wissen die im OP sehr zu schätzen.«

»Kann auch im Polizeidienst nicht schaden«, sagte Delorme.

Weitere Fragen förderten die Erkenntnis zutage, dass Dr. Winter Cates als Assistenzärztin in einem großen Kinderkrankenhaus gearbeitet und ihren Facharzt am Toronto General gemacht hatte.

»Dr. Cates ist eine attraktive Frau«, sagte Delorme. »Wissen Sie irgendetwas über ihr Liebesleben?«

»Da muss ich passen, keine Ahnung. Ich hatte den Eindruck, dass es jemanden in Sudbury gab, ansonsten kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Dr. Cates liebt ihre Arbeit, und wir reden nie über etwas anderes als über medizinische Dinge.«

»Und Sie haben ihr die Praxis verkauft, ist das richtig?«

»Verkauft? Nein, Sie können keine Praxis verkaufen, jedenfalls nicht in Ontario. Nein, nein. Ich hab sie unten im Toronto General kennen gelernt, als sie ihren Facharzt machte, und war wie alle von ihr entzückt. Sie sagte, sie würde sich gerne in Algonquin Bay niederlassen, und ich hab mir die Sache durch den Kopf gehen lassen. Ich hatte schon seit mindestens zehn Jahren dran gedacht, mich zur Ruhe zu setzen. Also, ich hab ihr angeboten, dass sie sechs Monate lang als meine Partnerin arbeitet und ich dann einen würdigen Abgang mache. Was ich auch getan habe.«

»Dr. Choquette, wann haben Sie Ihre Tickets nach Puerto Rico gekauft?«

»Vor Monaten. Ich versteh allerdings nicht, wie meine Tickets von irgendwelchem Belang sein sollten.«

»Kann ich sie bitte sehen?«

Der Arzt stand auf, noch röter im Gesicht, und Delorme konnte sehen, dass er sich Mühe gab, seinen Ärger zu zügeln, während er den Raum verließ. Wenig später kam er mit den Flugscheinen zurück und reichte sie Delorme ohne ein Wort. Zwei Rückflugtickets nach Puerto Rico, im November gekauft, Rückkehr in einer Woche.

»Danke.« Delorme gab sie ihm zurück. »Wo wollen Sie wohnen?«

»In einem wunderschönen Badeort namens Palmas del Mar, an der Südküste. Waren Sie zufällig schon mal da?«

»Nein.« Da sie sich kein bisschen für Karibikurlaub interessierte, war sie sich nicht einmal sicher, wo Puerto Rico lag, außer noch weiter weg als Florida.

»Zauberhafter Ort. Traumhaft gelegen – ein bisschen wenig Strand, aber dafür einer der schönsten Golfplätze, die es gibt.«

»Und können Sie mir sagen, wo Sie Montagabend waren, Doktor? So um Mitternacht herum?«

»Beim Bridgespielen mit Freunden. Wir treffen uns jeden Montagabend – verflixt noch mal, Sie können doch nicht allen Ernstes glauben, ich hätte irgendetwas mit dieser Sache zu tun? Eine junge Ärztin ist verschwunden. Warum zum Teufel soll ich damit zu tun haben?«

Delorme ließ sich mit einer Antwort Zeit, während sie eine Ader betrachtete, die an Dr. Choquettes Schläfe angeschwollen war. »Sie haben mit Dr. Cates geschäftlich zu tun. Gut, Sie haben ihr die Praxis nicht verkauft, aber sie ist ziemlich groß und voll ausgestattet. Soweit ich weiß, hatten Sie eine Meinungsverschiedenheit darüber, was Sie mit übergeben haben und was nicht. Und Sie waren verärgert.«

»Ach, was Sie nicht sagen.« Dr. Choquette verschränkte die Arme und musterte Delorme abschätzig. »Ich wüsste gar zu gerne, mit wem Sie gesprochen haben.«

»Dr. Cates weigert sich, Ihnen die Summe zu zahlen, die das Inventar Ihrer Meinung nach wert ist, nicht wahr?«

»Da muss ich Sie enttäuschen, so dramatisch ist es nun auch wieder nicht. Ich hätte einen Anwalt einschalten sollen – normalerweise tue ich das bei geschäftlichen Transaktionen –, aber aus irgendeinem Grund habe ich es in diesem Fall nicht getan. Vielleicht, weil Winter so – na ja, sie ist, sagen wir mal, sehr attraktiv. Wir haben eine Meinungsverschiedenheit in Bezug auf die Wertminderung. Wissen Sie, was eine Untersuchungsliege neu kostet? Ich dachte, wir hätten einen Betrag gefunden, der einen guten Mittelwert darstellt zwischen dem, was ich für die Sachen bekäme, wenn ich sie verkaufen würde, und was Winter bezahlen müsste, wenn sie sich alles neu beschafft. Offenbar habe ich mich geirrt. Ich meine, fragen Sie sie, wenn Sie glauben, dass ich Sie belüge.«

»Da Dr. Cates leider nicht auffindbar ist, können wir sie nicht fragen. Um wie viel Geld geht es denn?«

»Kein Vermögen. Ein paar Tausend. Es geht ums Prinzip. Sehen Sie, vermutlich hat sie achtzig- bis hunderttausend für ihre Ausbildung abzuzahlen, und jeder Penny zählt. Zweifellos ist sie wirklich davon überzeugt, dass wir uns auf die niedrigere Summe geeinigt haben, aber das ist reines Wunschdenken ihrerseits. Na jedenfalls ist es keine große Sache. Wenn Sie jetzt keine weiteren Fragen mehr haben …«

»Keine weiteren Fragen. Aber ich benötige die Namen Ihrer Bridgepartner.«

 

Nächste Station: Glenn Freemont, der unangenehme Patient.

Freemont kam in einem Bademantel an die Tür, der so aussah, als hätte er schon mehrfach den Besitzer gewechselt, von denen wenigstens einer darin gestorben war. Er war ein Wicht von einem Mann, Mitte dreißig, mit dem fettigsten Haar, das Delorme je gesehen hatte.

»Mr. Freemont, ich ermittle wegen des Verschwindens von Dr. Winter Cates«, sagte sie, nachdem sie sich vorgestellt hatte. »Darf ich reinkommen und Ihnen ein paar Fragen stellen?« Die Tür zu Freemonts Kellerwohnung hatte kein Vordach, und Delorme hatte keinen Schirm dabei. Eisige Regentropfen arbeiteten sich in ihren Kragen vor.

»Wozu?« Freemont lehnte die Hand gegen den Türpfosten, wie um unerwartete Bewegungen abzuwehren.

»Sie sind ein Patient von Dr. Cates. Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Sie hat eine Million Patienten. Warum kommen Sie ausgerechnet zu mir?«

»Mr. Freemont, wäre Ihnen eine gründliche Überprüfung bei Ihrer Versicherung lieber? Vielleicht sollte ich einfach nur dort anrufen.«

»Nur zu. Die haben mich sowieso abserviert, diese Idioten. Mein Rücken macht mir zu schaffen. Ich hatte nie Rückenprobleme. Und jetzt hab ich welche, weil ich den ganzen Tag Farbdosen zwei Treppen hoch und runter schleppe. Machen Sie das erst mal, dann sprechen wir uns wieder.«

»Sie hatten in Dr. Cates’ Praxis einen Wutanfall. Lag das daran, dass sie Ihrem Wunsch nicht entsprochen hat?«

»Es war kein Wutanfall. Wir hatten eine Diskussion, weiter nichts.«

»Laut Zeugen haben Sie mit der Faust auf den Tisch geschlagen und eine Pflanze umgestoßen.«

»Sie hat mich Lügner genannt. So’n Scheiß lass ich mir nicht bieten. Von keinem.«

»Können Sie mir sagen, wo Sie Montagabend waren? So um Mitternacht herum?«

»Montagabend? Klar, kann ich Ihnen sagen, wo ich Montagabend war. Ich war in Toronto.«

»Weshalb sind Sie nach Toronto gefahren?«

Freemont hakte seinen Zeigefinger in seine rechte Wange und zog sie zurück. Es schimmerte rosa, mit einer Zickzacklinie schwarzer Stiche. »Zahnfleischoperation. Dienstag früh. Bin einen Tag vorher runtergefahren, hab im Hotel übernachtet. Warten Sie.«

Freemont machte die Tür zu. Delorme zog die Kapuze ihres Anoraks hoch. Der Regen prasselte auf das Nylon. Über den Pfützen zu ihren Füßen bildete sich ein Eisfilm.

Zwei Minuten später kam Freemont mit einer Hand voll Papiere zurück. Er reichte sie Delorme eines nach dem anderen. »Quittung vom Colony Hotel. Quittung von der Tankstelle auf der Spadina. Quittung von meinem Kieferorthopäden. Er trägt schwarze Gummihandschuhe, und er kostet mich ein Vermögen.«

»Führen Sie immer so sorgfältig Buch?«, sagte Delorme, während sie sich den Namen und die Nummer des Kieferorthopäden notierte.

»Nur wenn ich vorhabe, mir die Kosten vom OHIP erstatten zu lassen.«

»Das wird schwierig werden. Die Provinz deckt keine Zahnsachen ab.«

Freemont schnappte ihr die Quittungen aus der Hand. »Zeigt nur, dass Sie keine Ahnung haben.«

»Danke, Mr. Freemont. Ich weiß Ihre Kooperation zu schätzen.«

»Oh, nein. Der Dank ist ganz auf meiner Seite, Officer. Und noch einen wunderschönen Tag.«

Bevor Delorme ihren Wagen erreicht hatte, hörte sie Freemont hinter der geschlossenen Tür brüllen: »Miststück!«

 

Sowohl das Hotel als auch der Kieferorthopäde bestätigten alles, was Glenn Freemont gesagt hatte. Delorme machte die Anrufe, sobald sie wieder im Büro war. Sie machte sich ein paar Notizen zu ihren Befragungen und übergab die Namen von Dr. Choquettes Bridgepartnern Szelagy zur weiteren Überprüfung.

Sie aß ihren Mittagsimbiss am Schreibtisch und betrachtete dabei den Stapel Handzettel, von dem Dr. Cates’ hübsches Gesicht ihr entgegenblickte. Der Bautrupp hämmerte und bohrte über ihnen und machte es nicht eben leichter, konzentriert nachzudenken. Sie sah aus dem Fenster über den Parkplatz. Der Regen hatte aufgehört, und es war noch ein strahlend sonniger Tag geworden. Selbst die profansten Gegenstände – Bäume, Telefonmasten und Briefkästen – schimmerten mit ihrer Patina aus Eis wie Gebilde einer ekstatischen Vision. Je länger sich Delorme in die Aussicht vertiefte, desto mehr schien ihr der tiefblaue Himmel die Dächer anzustrahlen.

Ihr Telefon klingelte.

»Delorme. Kriminalkommissariat Algonquin Bay.«

Es war ein Mann namens Ted Pascoe, ein Kameraverkäufer bei Milton’s Photo, der jüngere Bruder eines Frank Pascoe, den Delorme wegen Kreditkartenbetrugs hinter Gitter gebracht hatte. Ted Pascoe war so aufgelöst, dass sie kaum begriff, was er sagte – etwas von einer Leiche im Wald.

»Reden Sie langsamer, Mr. Pascoe, langsam. Wo sind Sie?«

»Hm, Telefonzelle in der Nähe des North Wind Tavern. Sie kennen die Kneipe draußen hinter der Algonquin Mall?«

Delorme kannte sie gut. Sie hatte mal einen Freund, der sein englisches Bier liebte. Sie gingen damals fast jeden Freitagabend zum North Wind und aßen Fish and Chips. Leider war das schon so ziemlich das Aufregendste, was diese Romanze zu bieten hatte.

»Ich hab oben am Berg, Richtung Four Mile Bay, fotografiert. Hab extra den Jeep genommen, nur um ein gutes Foto zu bekommen, wissen Sie. Und da liegt auf einmal diese Leiche. Eine Frau. Sieht aus wie erfroren.«

»War noch jemand bei Ihnen?«

»Nein. Ich bin lieber allein, wenn ich fotografiere. Da kann man keinen brauchen, der von einem Bein aufs andere tritt, während er auf einen wartet. Man fängt an zu hetzen, man vergisst zu fokussieren, man probiert nicht erst alle Winkel aus. Sollte man wirklich nicht …«

»Wie ist der Weg? Können wir da mit einem Van rein?«

»Ausgeschlossen. Das hier ist striktes Erholungsgebiet.«

»Okay, Mr. Pascoe. Bleiben Sie, wo Sie sind. Erzählen Sie niemandem von Ihrem Fund. Wir sind in ein paar Minuten bei Ihnen.«

 

Delorme klopfte an Daniel Chouinards Tür und trat ein, ohne auf ein Okay zu warten. Er hörte aufmerksam zu, während sie den Anruf zusammenfasste.

»Es könnte demnach Ihre vermisste Ärztin sein«, sagte er.

»Ich würde sagen, die Wahrscheinlichkeit ist hoch.«

»Sie brauchen Verstärkung. Zu dumm aber auch, dass Mc-Leod nicht da ist. Nehmen Sie sich Szelagy. Sie werden auch die Spurensicherung brauchen.« Er rief eine Durchwahlnummer an. »Arsenault, legen Sie den Sportteil weg. Für Sie und Collingwood gibt’s mal was Richtiges zu tun. Und kommen Sie mit dem Landrover. Wie’s aussieht, können wir den Van von der Spurensicherung vergessen.« Er hängte auf und sagte: »Worauf warten Sie noch? Machen Sie sich auf die Socken.«

»Ich hab den Staatsanwalt noch nicht angerufen.«

»Das übernehme ich. Fahren Sie los«, sagte Chouinard wehmütig. »Die zweite Leiche im Wald. Ich wünschte, ich könnte mitkommen.«

»Tut mir leid«, sagte Delorme. »Sie sind jetzt nun mal ein hohes Tier.«

»Ich weiß.« Chouinard seufzte und warf einen Bleistiftstummel in den Papierkorb. »Und ist das nicht ein Jammer?«

 

Ken Szelagy war ein Plappermaul. Sie stiegen in den Wagen, und es war, als hätte man eine Münze eingeworfen: die Frau, die Kinder, das Hockeyspiel. Delorme schaffte es, das Gespräch für einen Moment auf das Thema von Dr. Cates’ Nachbarn zu lenken.

»Derzeit sind eine Menge Leute verreist – auf die Bahamas oder sonst wohin –, deshalb gab’s nicht sonderlich viele, mit denen ich reden konnte. Typischer Wohnblock – ich meine, keiner kennt keinen. Ich glaube, Sie könnten in dem Haus sterben, und niemand würd’s merken. Jedenfalls, es läuft darauf hinaus, dass niemand Montagnacht oder Dienstagmorgen irgendetwas Ungewöhnliches gehört hat. Sie haben alle entweder ferngesehen oder schon geschlafen, und sie haben nicht das Geringste gehört.«

»Das ist ziemlich seltsam«, sagte Delorme. »Wenn sie jemand entführt hat, dann sollte man eigentlich meinen, das lief nicht völlig geräuschlos ab.«

»Vielleicht ist sie ja freiwillig irgendwo hingegangen. Wir wissen noch zu wenig. Sie könnte mit jemandem mitgefahren sein, den sie kannte, und dann passiert ein Unfall oder sonst was, und deshalb hat niemand was von ihr gehört.«

Szelagy schweifte erneut vom Thema ab und fing an, von seiner Familie zu erzählen. Delorme wurde bewusst, dass sie sich Cardinal an seiner Stelle gewünscht hätte, der meist genauso schweigsam war wie sie. Szelagy war inzwischen bei seiner Schwiegerfamilie gelandet, bei seiner Hypothek, seinen Autoversicherungsprämien. Er war eine Naturgewalt.

»Szelagy!«

»Was?«

»Halten Sie mal die Luft an!«

»Ich bin nur ein bisschen umgänglich. Was man von Ihnen nicht unbedingt sagen kann.«

Sie musste einräumen, dass in puncto Liebenswürdigkeit niemand im Kommissariat Szelagy das Wasser reichen konnte. Er war einfach von Natur aus nett, und Delorme bereute, dass sie ihn angefahren hatte. Die nächsten Häuserblocks passierte sie in schuldbewusstem Schweigen.

»Tut mir leid«, sagte sie an der nächsten Ampel. »Ich muss nur an Dr. Cates denken.«

»Geht schon in Ordnung«, sagte Szelagy und ließ sich im nächsten Moment über das Schneemobil aus, das er für die Kinder gekauft hatte. Aber hallo, die neuen Bombardiers waren verteufelt schnell!

Sie fuhren auf der Sumner weiter aus der Stadt und dann über die Umgehungsstraße auf den Highway 63. Auf jedem Dach, auf jeder Leitung, auf jedem Ast glitzerte das Eis. Der Himmel war kobaltblau. In den Bäumen und Dächern brach sich das Sonnenlicht – aus der Nähe betrachtet in blendend weißen Strahlen, doch von ferne silbrig glitzernd wie Lametta.

Der Highway selbst war frei, und sie schafften es in weniger als zwanzig Minuten bis zum North Wind. Ted Pascoe lehnte gegen seinen Jeep Wrangler und rauchte eine Zigarette. »Eigentlich rauche ich nicht«, sagte er zur Begrüßung. »Vor zwei Jahren aufgegeben, aber das hier hat mich wirklich umgehauen. Hab noch nie eine Leiche gesehen – na ja, meinen Dad, aber das war was anderes. Ich zittere.« Zum Beweis streckte er eine zitternde Hand aus.

Delorme stellte Szelagy vor und fragte Pascoe, wann genau er die Leiche gefunden habe.

»Vor etwa einer Dreiviertelstunde. Ich bin sofort hierher gekommen und hab Sie angerufen.« Dabei zeigte er auf die Telefonzelle.

»Und Sie waren allein?«

»Mit meiner Kamera, ja. Diesen Frost kriegt man nicht alle Tage geboten – ich wollte da raus, bevor es schmilzt. War auf einem Waldweg etwa eine halbe Meile östlich von hier.«

Arsenault und Collingwood fuhren in einem Landrover heran. Delorme signalisierte ihnen, sich einen Moment zu gedulden. »Mr. Pascoe, am besten führen Sie uns sofort zu der Stelle, und die Spurensicherung fährt hinter uns her.«

Im selben Moment bog ein Lexus vom Highway ab, und Delorme stöhnte innerlich. Die Staatsanwaltschaft arbeitete mit mehreren Ärzten, die einander abwechselten. Es war einfach Pech, zum zweiten Mal in Folge Dr. Barnhouse zu erwischen.

»Sie werden mit Arsenault und Collingwood fahren müssen, Doktor. Glaube nicht, dass Ihr wunderschönes Auto es bis zu der Stelle schafft, wo wir hinwollen.«

»Na großartig«, sagte er trocken. »Ist ja phantastisch.« Doch er stieg aus dem Wagen, die schwarze Tasche in der Hand.

Was immer es in der Gegend um Algonquin Bay an Holzwirtschaft gegeben hatte, lag fünfzig Jahre zurück, doch die alten Zugangswege blieben erhalten. Jahrzehntelang gerieten sie in Vergessenheit, bis die Begeisterung für Geländefahrzeuge sie wieder passierbar machte. Die Warmfront hatte die Schneeschicht in den Wäldern auf kaum mehr als zehn, zwanzig Zentimeter zusammengeschmolzen, und das Eis an der Oberfläche war nur eine dünne Kruste. Die Bodenhaftung war folglich besser als auf den Straßen in der Stadt.

Hier gab es nur noch Kiefern. Ihre Zweige hingen schwer herab, doch die Bäume selbst, die sich über Jahrtausende an dieses Klima angepasst hatten, standen kerzengerade. Aus den Eispanzern blitzte das Licht scharf wie Laserstrahlen hervor.

»Hier hab ich den Wagen stehen gelassen«, sagte Pascoe. »Wollte nicht riskieren, um den herumzufahren.« Er zeigte mit dem Finger auf einen umgefallenen Baum, der vor ihnen den Weg versperrte.

Sie stiegen aus und warteten auf Arsenault und Collingwood. »Sind Sie auf demselben Weg zum Auto zurückgekehrt wie auf dem Hinweg?«

»Ja.« Er wies auf eine Fußspur im Schnee. »Das war ich. Ich hab keine anderen Spuren bemerkt, aber ich hab auch nicht drauf geachtet.«

Delorme und Szelagy gingen voraus. Pascoe hielt sich dicht hinter ihnen, gefolgt von Arsenault, Collingwood und Dr. Barnhouse. Sie waren noch keine fünf Minuten unterwegs, als Pascoe hinter ihnen sagte: »Da oben. Direkt hinter dem Baumstumpf. Ich wäre beinahe über sie gestolpert.«

In den sechs Jahren, in denen Delorme bei der Sonderermittlung gearbeitet hatte, waren ihr Leichen erspart geblieben. In ihrer Zeit als Streifenpolizistin hatte sie natürlich die üblichen Unfallopfer und Ertrunkenen gesehen. Die Fundorte strahlten stets völlige Hoffnungslosigkeit aus, selbst wenn das Opfer in einem freundlich eingerichteten Wohnzimmer umgekommen war. Zuweilen waren die Umstände abstoßend: Männer, die nackt in der Schlinge hingen, pornografische Heftchen unter ihren bleichen Füßen verstreut. Zuweilen waren sie beängstigend: etwa dort, wo ein Feuer getobt hatte und die verkohlten Überreste von seiner alles verschlingenden Wut zeugten. Manche waren unheimlich: ein stillgelegter Minenschacht mitten in einer Winternacht. Was Delorme in ihrer gesamten Dienstzeit noch nie gesehen hatte, war ein Fundort von solcher Schönheit.

Sie und Szelagy und die anderen standen am Rand einer Szene wie aus dem Bilderbuch. In allen Richtungen schimmerten die Bäume, als wären sie aus Edelsteinen gemacht. Kein Laut war zu hören außer dem Knacken im Geäst und dem Brummen eines Schneemobils in der Ferne. Jede Oberfläche warf das Sonnenlicht zurück, so dass das Ganze mehr von einem Märchen als von einer Tragödie hatte, die Art von Geschichten, in denen Statuen zum Leben erwachen.

Doch die Gestalt vor ihnen würde nicht wieder zum Leben erwachen. Die Frau lag wie im Schlaf auf der linken Seite, ein Knie und einen Arm angewinkelt, wie um das Gleichgewicht zu halten. Auf den ersten Blick waren keine Anzeichen von Gewalteinwirkung zu erkennen, keine Schnittwunden oder Prellungen. Aus der Ferne fotografiert, hätte man denken können, dass sie schlief. Doch es gab nichts Regloseres als einen Leichnam, darüber konnte nichts hinwegtäuschen. Dieser hier war nackt, mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Selbst das lange schwarze Haar, das der Frau in lockigen Strähnen übers Gesicht fiel, war von Eis überzogen. Sie sah aus wie verzaubert – das Opfer eines eifersüchtigen Zauberers oder einer bösen Hexe vielleicht.

»Rumstehen bringt nichts«, bemerkte Barnhouse.

»Man nennt das Leichenbefundaufnahme«, sagte Delorme. »Ihnen mag es ja lieber sein, darüber herzufallen und Beweismaterial zu zertrampeln, aber wir werden zuerst ein paar Fotos machen.«

»Das werden Sie nicht.« Barnhouse vertrug keinen Widerspruch, und wenn er gar von einer Frau kam, wirkte er sich sichtbar auf seinen Blutdruck aus und führte dazu, dass er stotterte. »Das werden Sie nicht«, wiederholte er. »Ich bin der Coroner, und ich bin hier zuständig.«

»Außer wenn ein Verbrechen festgestellt wurde.«

»Was ich zu tun beabsichtige, wenn Sie mich nicht an der Arbeit hindern.«

»Das Opfer liegt nackt bei Frosttemperaturen mitten im Wald. Wenn Sie mich fragen, haben wir damit bereits festgestellt, dass ein Verbrechen vorliegt.« Szelagy warf Delorme einen Take-it-easy-Blick zu, und Delorme fing an, im Stillen bis zehn zu zählen.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie ausgebildete Pathologin sind«, maulte Barnhouse weiter. »Vielleicht brauchen Sie ja gar keinen Coroner.«

»Doktor«, sagte Delorme. »Wir brauchen Sie, und wir möchten, dass Sie sich die Leiche ansehen. Lassen Sie uns nur erst ein paar Aufnahmen machen, bevor irgendjemand von uns Beweismaterial zerstört.«

»Wir stellen hier hinten gerade die Videokamera auf«, sagte Arsenault. »Lassen Sie sie mit Weitwinkel laufen.«

Collingwood war unterdessen schon dabei, mit einem Fotoapparat und einem Maßband die Spur festzuhalten, die auf die Lichtung führte. Es schien nur eine zu geben. Er drehte sich zu Pascoe um. »Könnten Sie bitte mal einen Fuß hochheben, Sir?«

Pascoe folgte etwas linkisch seiner Aufforderung, indem er sich gegen einen Baum lehnte. Collingwood machte ein paar Fotos von seinen Wanderstiefeln.

Arsenault verknipste einen Film mit der Leiche, und dann gingen Delorme, Szelagy und der Coroner näher heran. Dr. Barnhouse hielt sein Diktiergerät in der Hand, in das er unentwegt hineinsprach, während er sich über die Leiche beugte: gut genährte Frau, Anfang dreißig, Verfärbung an der Kehle, was auf Strangulierung hindeutet.

»Da sind ihre Kleider«, sagte Delorme. Sie lagen seitlich ein Stück entfernt als stummer Zeuge von Gewalt. Die Eiskruste ließ keine genauere Untersuchung zu, doch es gab abgerissene Knöpfe, einen gedehnten Halsausschnitt an einem Sweater.

»Sieht so aus, als wäre sie hier getötet worden«, sagte Szelagy.

»Möglich. Aber sehen Sie sich diese rötliche Verfärbung hier an«, sagte Barnhouse und wies mit einem latexbehandschuhten Finger auf die rötliche Einfärbung des zuunterst liegenden Arms und Beins. »Das Blut ist der Schwerkraft gefolgt – die Unterseite ihrer Schulter und der Beine. Sie ist nicht in dieser Stellung gestorben. Möglicherweise wurde sie hier getötet und nach ihrem Tod von jemandem bewegt. Vielleicht wurde sie aber auch woanders getötet und anschließend hierher gebracht.«

»Aber die Kleider …«, sagte Delorme.

»Ja, sicher. Zweifellos gibt es eine Erklärung dafür, aber ich bezweifle, dass sie medizinischer Natur ist.«

»Können Sie uns einen ungefähren Anhaltspunkt geben, wann der Tod eingetreten ist?«

»Sie ist von Eis bedeckt, daher muss sie offensichtlich schon hier gelegen haben, als es regnete – bevor der Regen gefror. Andererseits gibt es kaum Zersetzung. Demnach hat sie während der warmen Periode nicht lange hier gelegen. Ich würde daher sagen, sie wurde hier Montagnacht, Dienstagmorgen abgelegt. Aber Sie wissen natürlich, dass es bei dem Kühlungseffekt hier draußen schwer sein wird, den Todeseintritt ohne weitere Indizien genauer zu bestimmen. Wenn mir jetzt bitte jemand helfen würde? Ich will die Leiche herumdrehen.«

Delorme, die sich ebenfalls Handschuhe angezogen hatte, griff mit der Hand unter das angewinkelte Knie und hob es an. Die Eishaut auf den Gliedern zersplitterte mit einem knisternden Laut und glitt zu Boden. Das dunkle Haar lag steif gefroren über dem halben Gesicht.

»Blutergüsse in der Vaginalregion weisen auf mögliche Vergewaltigung hin. Auch im Bereich der Kehle sind Kontusionen festzustellen. Strangulation ist eine mögliche Erklärung. Sie werden sie öffnen müssen – und nach petechialen Blutungen in der Lunge suchen. Dann wollen wir mal sehen, wen wir da haben.« Das gefrorene Eis knackte, als Barnhouse es beiseite schob. »Na, so was«, sagte er. »Ich kenne diese Frau.«

»Ich geh mal davon aus, dass wir uns sparen können, diese Handzettel zu verteilen«, sagte Szelagy.

Delorme betrachtete die vereisten Gesichtszüge, den milchigen Schimmer der halb geöffneten Augen. Sie dachte an all die Patienten, denen diese junge Dr. Cates geholfen hätte – Tausenden vermutlich –, wenn sie hätte leben dürfen. Sie fragte sich, was für ein Mensch ihr das angetan hatte. Ihre Gedanken eilten voraus zu den Dingen, die es als Nächstes zu tun galt, zuallererst einmal die Benachrichtigung ihrer Eltern.

Sie sah Barnhouse an. »Wir wissen, dass Dr. Cates Montagabend um 23.30 Uhr zu Hause war. Eine Freundin hat mit ihr telefoniert. Aber wir wissen von ihrem Anrufbeantworter, dass sie am Dienstagmorgen nicht mehr ans Telefon gegangen ist.«

»Das würde mit dem übereinstimmen, was ich hier sehe. Zweifellos wird der Pathologe Ihnen mehr sagen können.«

»Was schätzen Sie, wie lange die Gerichtsmedizin mit den Untersuchungsergebnissen brauchen wird?«

»Nun, da haben Sie Glück. Haben Sie bei denen schon mit Dr. Lortie zusammengearbeitet?«

»Nein.«

»Er ist einer ihrer führenden Pathologen. Wie’s der Zufall will, ist er gerade hier in der Stadt, um die regionalen Erfordernisse zu sondieren. Es dürfte mir, glaube ich, nicht schwer fallen, ihn dazu zu bewegen, den Fall gleich hier vor Ort zu übernehmen. Würde dem Steuerzahler bares Geld sparen und so weiter.«

»Es würde uns jedenfalls viel Zeit sparen«, sagte Delorme.

»Weiß Gott«, sagte Dr. Barnhouse und nickte in Richtung der toten Frau. »Das ist das Wenigste, was wir für sie tun können.«

Sie verfielen in Schweigen. Aus dem glitzernden Wald war nichts zu hören außer dem Knacken im Geäst.