24
Den Rest des Tages verbrachten sie mit der Monotonie modernen Reisens. Zuerst kam die verregnete Autofahrt zum Flughafen Dorval. Dann die lange Wartezeit, die durch die Weigerung Air Canadas, mehr Information herauszurücken als »Eisglätte in Ontario«, nicht unbedingt erleichtert wurde. Sie zückten beide ihre Handys. Cardinal rief Musgrave an.
»Ich hab hier war für Sie, das Sie unter gesicherte Fakten verbuchen können«, sagte Musgrave. »Leon Petrucci hat nicht die Ermordung dieses Mannes befohlen, und Leon Petrucci hat auch nicht Paul Bressard angewiesen, ihn an die Bären zu verfüttern, und Leon Petrucci hat nicht diesen Zettel geschrieben.«
»Und wieso nicht?«
»Leon Petrucci ist tot.«
»Tot?«
»Ja. Leon Petrucci ist hundertprozentig tot. Er hat sich vor zwei Monaten unten im Toronto General noch mal operieren lassen und ist in ein Koma gefallen, aus dem er nicht mehr aufgewacht ist. Er ist letzten Dienstag vor einer Woche gestorben – lange bevor Ihr Opfer in Algonquin Bay auftauchte.«
»Und wieso stand das nicht in der Zeitung?«
»Kommt noch. Er hat sich nicht unter seinem richtigen Namen angemeldet.«
»Jeder Zweifel ausgeschlossen?«
»Cardinal, ich bin bei der RCMP. Organisiertes Verbrechen ist unser Metier. Wer auch immer Miles Shackley ermordet hat, glauben Sie mir, Leon Petrucci war es nicht. Und apropos vertrauensvolle Zusammenarbeit, ich möchte mich auf das Herzlichste für Ihre prompte Mitteilung bedanken, dass Squier gekündigt hat«, sagte Musgrave. »Geht doch nichts über eine lückenlose Information unter Kollegen.«
»Tut mir leid. Aber ich hatte wirklich noch keine Gelegenheit. Wissen Sie, dass Squier sich am Ende wahrhaftig als nützlich erwiesen hat?«
»Bestimmt aus Versehen. Ich muss Ihnen allerdings sagen, dass der Druck laut meiner Quelle im CSIS von ziemlich weit oben kam. Gestern Morgen bekamen sie Besuch – keinen Anruf, sondern einen Besuch – von Jim Coultier höchstpersönlich. Wissen Sie, wer Jim Coultier ist?«
»Hab den Namen schon mal gehört.«
»Stellvertretender Leiter der CSIS-Einsatzzentrale in Ottawa und ein richtiger Mistkerl – ehemaliger Mountie zu allem Überfluss, ich weiß also, wovon ich rede. Na jedenfalls hat Jim Coultier ein kleines Plauderstündchen mit dem CSIS Toronto, und zwei Stunden später steht Calvin Squier auf der Straße. Zählen Sie zwei und zwei zusammen. Squier mag gekündigt haben, aber ich glaube, sie haben ihn rausgeekelt.«
»Also, wir wissen jetzt, wieso der CSIS hinter Shackley her war. Sie wollen unter dem Deckel halten, dass Raoul Duquette von einem CIA-Spitzel ermordet wurde – der wiederum Informant für einen Agenten des CAT-Teams war.«
»Autsch. Tja, das wär wirklich nicht gerade ein Beitrag zur Imagepflege.«
»Hören Sie, haben Sie jemanden, der ein Phantombild nach einem alten Foto machen kann?«
»Aber sicher. Tony Catrell ist Ihr Mann.«
»Hat der auch eine Telefonnummer?«
Es kam keine Antwort.
»Sind Sie noch dran?«, fragte Cardinal.
»Ja, bin ich. Überlege nur gerade noch mal wegen des Fotojobs. Wissen Sie was? Nehmen Sie nicht Tony. Tony ist ein Präzisionsgenie. Kennt sich mit der Software aus wie kein anderer, aber, ich weiß nicht, ein kalter Fisch irgendwie. Nein, ich glaube, am besten sind Sie bei Miriam Stead aufgehoben, von der örtlichen Polizei Toronto.«
»Ich dachte, es würde die Sache vielleicht beschleunigen, wenn wir einen von Ihren Jungs nehmen.«
»Miriam Stead ist wie ein Guru der age progression. Macht seit dreißig Jahren nichts anderes. Eine Bessere gibt es nicht. Auch keine, die es schneller macht. Der Unterschied ist, von Tony kriegen Sie ein Bild, das dem Typ ähnlich sieht, aber Miriam – Miriam ist eine wahre Künstlerin. Ich weiß nicht, wie sie es macht, aber geben Sie Miriam ein Foto, und Sie kriegen von ihr einen Menschen aus Fleisch und Blut zurück. Außerdem ist sie ein Workaholic, die nichts Besseres zu tun hat, als ihre Wochenenden im Büro zu verbringen. Ach übrigens, haben Sie eine leise Ahnung, was hier oben mit dem Wetter los ist?«
»Wieso, schneit es?«
Musgrave kicherte nur und hängte auf.
Ihr Flugzeug startete um vier. Cardinal schlief die meiste Zeit bis Toronto.
»Junge, Sie sind ja ganz schön von der Rolle«, sagte Delorme, als er aufwachte und sich die Augen rieb. »Ist Ihnen nicht gut?«
»Bisschen daneben. Konnte letzte Nacht nicht schlafen.«
»Ach so, ja, das Zimmer war überheizt.«
»Ehrlich gesagt lag es daran, dass Sie mit im Zimmer waren. Das war irritierend.«
»Kommen Sie, Cardinal. Das ist lächerlich.«
»Kommen Sie mir nicht so, als wär das ein großer Schock oder so. Sie meinen wohl, nur weil ich verheiratet bin, würde ich mich von Frauen nicht mehr angezogen fühlen? Bin ich ein Chorknabe in Ihren Augen?«
»Nein.«
»Und wo liegt dann das große Rätsel?«
»Nichts. Ich bin einfach nur überrascht, okay? Das ist nichts Illegales, überrascht zu sein, okay?«
»Gott. Vergessen Sie einfach, was ich gesagt habe, ja?«
»In Ordnung. Schon erledigt.«
Sie landeten in Toronto, nur um zu erfahren, dass ihr Anschlussflug nach Algonquin Bay gestrichen war. Und auch diesmal die lakonische Erklärung: Eisglätte.
»Oh, Mann«, sagte Delorme. »Ich hab keine Lust, noch eine Nacht in einer großen Stadt zu verbringen.«
»Ich rufe Jerry Commanda an – vielleicht kann uns irgendein OPP-Hubschrauber mitnehmen. Wie dem auch sei, ein Gutes hat die Sache.«
»Wirklich?«, stöhnte Delorme. »Da bin ich aber gespannt.«
»Die Zentrale der Spurensicherung ist in Toronto in der Jane Street, Ecke Wilson. Das ist nicht sonderlich weit von hier. Wir können ein Taxi nehmen.«
»Na großartig«, sagte Delorme, »einfach großartig.«
Am Wachtisch der Spurensicherung nahm sie Miriam Stead in Empfang. Sie war das Gegenteil von dem, was Cardinal erwartet hatte. Sie trug ihr weißes Haar als Igel und dazu silberne Kreolen an den Ohren. Zu den schwarzen Jeans hatte sie einen grauen Rollkragenpulli an und ein Paar scharlachrote Keds-Schuhe. Sie hatte kein Gramm Fett am Leib, und ohne das graue Haar wäre sie glatt für Mitte vierzig durchgegangen. Eine Marathonläuferin, dachte Cardinal, anders ist das nicht möglich.
Sie führte sie zu ihrem Arbeitsplatz, einer Kabine, die im Wesentlichen mit Apparaten ausgestattet war, die Cardinal nicht kannte. Auf einem der gigantischen Monitore der beiden Mac-Computer war ein ausgetrockneter Schädel zu sehen.
»Der ist aber süß«, sagte Delorme.
»Tut mir leid«, sagte Ms. Stead und klickte das Bild weg. »Rekonstruktionsprojekt, wie Sie sehen. Mein Hauptgebiet – Rekonstruktion und vermisste Kinder. Aber wie ich höre, haben Sie ein bisschen was anderes für mich.«
Cardinal reichte ihr das Gruppenfoto und erklärte ihr, was sie brauchten. Während sie sich unterhielten, schob Ms. Stead das Bild in den Flachbett-Scanner, und es erschien, Stück für Stück, auf dem Mac-Bildschirm hinter ihr. Während sie weiter zuhörte, drehte sie sich auf ihrem Schreibtischsessel um und machte sich mit der Maus an die Arbeit. Nachdem sie hier ein bisschen weggeschnitten, dort ein bisschen vergrößert hatte, füllten Kopf und Schultern von Yves Grenelle bald fast den ganzen Monitor aus.
»Wenn Sie seinen richtigen Namen nicht kennen, nehme ich an, dass Sie mir auch keine Fotos von Mama und Papa oder Oma und Opa geben können, oder?«
»Leider nein.«
»Damit arbeiten wir natürlich meistens. Wenn Sie, bei einem vermissten Kind zum Beispiel, wissen wollen, wie der Betreffende sieben Jahre später aussieht, dann agen Sie ihn in Richtung seiner Eltern. Ohne solche Informationen wissen wir nicht, ob Ihr Mann dünn oder dick ist, behaart oder kahl.«
»Dann ist die ganze Sache vielleicht keine so gute Idee«, sagte Delorme.
»O nein, ich kann Ihnen trotzdem helfen. Worum es immer geht, ist der Kampf des Menschen mit der Schwerkraft. Im Wesentlichen senkt sich alles – das Fleisch neigt sich zur Erde, Knorpel werden länger, die Nase fängt an, sich nach unten zu biegen. Ein schlimmer Konstruktionsfehler. Aber wenn wir wie hier keine genetischen Eingaben machen können, tun wir Folgendes: Wir geben Ihnen mehrere Möglichkeiten an die Hand – wobei wir die Variablen berücksichtigen, die ich eben nannte, und natürlich auch die Frisuren auf den neusten Stand bringen und so weiter. Was können Sie mir über die Lebensweise von diesem Burschen sagen? Trinkt er? Raucht er? Macht er Bodybuilding? Ist er Gesundheitsfanatiker? All das hat Einfluss darauf, wie Menschen altern.«
»Also, jetzt komme ich mir wirklich ziemlich blöd vor«, sagte Cardinal. »Ich hab die Leute, die ihn kannten, nicht einmal nach solchen Dingen gefragt. Es war eine spontane Idee, hierher zu kommen.«
»Das ist schon in Ordnung. Auch wenn ich Zivilistin bin, ist mir schon klar, dass euereins mir nicht absichtlich die Arbeit schwer macht, auch wenn ihr genau das ständig tut.«
»Wie hoch ist die Chance, dass eine Ihrer Varianten der Realität nahe kommt?«, fragte Delorme.
»Falls er dick und glatzköpfig ist, dann wird ihm die dicke und kahlköpfige Version ziemlich ähnlich sehen. Nicht nur ein bisschen, sondern sehr. Natürlich können Sie es ohne Fingerabdrücke oder DNA oder sonst irgendetwas nicht vor Gericht verwerten, aber tatsächlich verändern sich die Proportionen eines Gesichts nicht. Daher kommt es, dass Sie, wenn Sie jemanden, sagen wir, dreißig, vierzig Jahre nicht mehr gesehen haben und er plötzlich nah genug vor ihnen steht, ihn, kaum dass er den Mund aufmacht und Sie ihm in die Augen sehen, auf Anhieb wiedererkennen.«
»Um uns alle diese Varianten zu geben«, sagte Cardinal, »brauchen Sie vermutlich ein paar Tage?«
»Sie müssten sie eigentlich bis morgen haben.«
»Tatsächlich? Musgrave hat gesagt, dass Sie gut sind.«
»Sergeant Musgrave von den Mounties! Ich liebe den Mann! Ich möchte wetten, der ist schon mit dem Kasack und dem Smokeyhut auf die Welt gekommen.«
»Sie hat recht, wenn sie sagt, dass Leute unterschiedlich altern«, sagte Delorme, als sie wieder am Wachtisch waren. »Ich kann nur hoffen, dass ich so gut aussehe, wenn ich in ihrem Alter bin.«
»Sie müssen nur immer schön diese Poutine essen«, sagte Cardinal.
»Haben Sie die Plakette in ihrer Kabine gesehen?«
»Hab ich. Miriam Stead war beim letzten New Yorker Marathon unter den ersten zwanzig Senioren.«
Nach ungefähr dem tausendsten Telefonat von Jerry Commanda bei der Provinzpolizei Ontario (»Um Himmels willen, Cardinal, bleiben Sie bloß in Toronto! Diese Stadt ist zugefroren, ich mach keine Witze.«) gelang es Cardinal, mit Hilfe der OPP einen Helikopter zu bekommen.
Es war eine Sache, ständig von Glatteis zu hören, und eine ganz andere, es mit eigenen Augen zu sehen. Der Pilot erzählte ihnen, dass die Situation in Algonquin Bay »ziemlich haarig« sein sollte, aber das kenne man ja bei dem Wetter da oben. »Wir haben erst mal eine zwei- bis dreistündige Regenpause, wir sollten also keine Probleme kriegen. Für Flugzeuge ist die Landebahn allerdings unbrauchbar«, erzählte er ihnen. Danach wurde jede Konversation von den Propellerflügeln erschwert, und es war zu dunkel, um von oben viel zu sehen.
Als sie über Bracebridge flogen, tippte Delorme mit dem behandschuhten Finger ans Fenster. »Keine Autos!«, rief sie Cardinal zu.
Es stimmte. Der Highway zog sich wie ein blassgraues Band zwischen den Bergen hindurch, vollkommen leer. Eine Geisterautobahn.
Dennoch verlief der Helikopterflug so reibungslos, dass man kaum verstand, wieso der Linienflug gestrichen worden war – bis sie landeten. Der Pilot stieg als Erster aus und fiel platt auf die Nase; die Rollbahn war eine einzige dicke Eisfläche. Außer zwei Mann Wachpersonal und einem einsam dreinschauenden Mann vom Wartungsdienst war der Flughafen wie ausgestorben.
»Das ist unheimlich«, sagte Delorme. »Genau wie in einem Traum, den ich früher dauernd hatte.«
Die Frau des Piloten wartete mit laufendem Motor auf dem Parkplatz. Cardinal und Delorme lehnten das Angebot, sie mitzunehmen, dankend ab – dummerweise, wie sich herausstellte. Der Wagen, den Delorme am Flughafen gelassen hatte, war zu einer Eisskulptur gefroren. Sie brauchten eine halbe Stunde, um die Türen aufzubekommen, was ihnen mit ein paar Hämmern gelang, die sie sich von dem Wartungsmann hatten ausleihen können.
Es war ein frustrierendes Unterfangen. Cardinal fiel mehrmals auf die Knie, und seine Sehnsucht, nach Hause und ins Warme zu kommen, nahm mit jeder Minute zu. Delorme trotzte der Schwerkraft mit Leichtigkeit und fiel nicht einmal hin, sondern leistete effiziente Arbeit, auch wenn sie sich in ein paar Flüchen Luft machte, das erste Französisch, das Cardinal je gelernt hatte – auf dem Spielplatz, nicht in der Schule.
Der Highway in die Stadt war gefährlich, auch wenn viel Salz gestreut war. An den Straßenrändern und Rinnsteinen standen verlassene Fahrzeuge in abenteuerlichen Winkeln zur Fahrbahn verstreut. Nirgends waren Fußgänger zu sehen. Ein einziges weiteres Auto leistete ihnen auf der Straße Gesellschaft, ein roter Minivan direkt vor ihnen, der mehrfach in die Böschung zu rutschen drohte.
Es war halb zehn, als Delorme endlich in die Madonna Road einbog. Knapp hundert Meter hinter der Abzweigung musste sie vor einem riesigen Ast stehen bleiben, der von einer vereisten Pappel abgebrochen war. Cardinal kannte den Baum genau. Im Sommer, nach einem heftigen Schauer, hing der Ast immer am tiefsten herunter, und im August streifte er im Vorbeifahren zuweilen das Autodach. Kein Wunder, dass das Ding abgebrochen war; es steckte in einer gut anderthalb Zentimeter dicken Eishülle. Als Cardinal ihn an den Straßenrand zog, klang es, als wenn tausend Knöchelchen zersplitterten.
»Hören Sie«, sagte er, nachdem er wieder eingestiegen war. »Wegen dem, was ich gesagt habe – gestern Nacht.«
Delorme starrte angestrengt auf die Straße vor ihr, das Gesicht bleich in einem Streifen Mondlicht. »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken.«
»Es tut mir leid, dass ich es überhaupt gesagt habe. Das war unprofessionell, und ich möchte nicht, dass uns das irgendwie im Wege steht.«
»Wird es nicht, jedenfalls nicht, was mich betrifft.« De lorme kam langsam zum Stehen. »Ich glaube, bei dem Eis traue ich mich nicht auf Ihre Einfahrt.«
»Dann ist also alles in Ordnung?«
»Vollkommen«, sagte Delorme.
Cardinal dachte, sie würde noch etwas sagen, aber sie starrte nur geradeaus und wartete, dass er ausstieg.
»Dann bis morgen«, sagte er.
»Ja, bis morgen.«
Catherine hatte auf der Einfahrt Salz gestreut, doch es war immer noch schwer, die Steigung hochzulaufen, ohne hinzufallen. Er musste sich am Geländer der Hintertreppe festhalten.
»Catherine?«, rief er, als er in die Küche trat.
Catherine kam herein und umarmte ihn. »Ich fürchte, du kommst in eine Massenveranstaltung. Tess und Abby sind hier. Drüben in Ferris haben sie keinen Strom mehr, deshalb hab ich Sally und sie eingeladen, zu uns zu kommen.«
»Über Nacht?«
»Sie sind ohne Heizung in ihrer Wohnung. Gott sei Dank haben wir den Holzofen. Die halbe Stadt ist ohne Heizung.«
»Hi, John.« Sally Westlake, eine stämmige Blondine in einem Rentier-Sweatshirt, winkte ihm aus dem Wohnzimmer entgegen. »Tut uns leid, hier so reinzuplatzen.«
»Nein, nein. Das macht gar nichts, Sally. Bleibt so lange, wie ihr wollt. Wie lange seid ihr denn schon ohne Strom?«
»Seit gestern Nacht. Jedes Mal, wenn sie ihn wieder anhaben, bricht er ihnen nach einer halben Stunde wieder zusammen.«
»Ist es nur in Ferris? Auf der Airport Road waren die Lichter noch an.«
Draußen war eine gewaltige Explosion zu hören.
»Was zum Teufel war das denn?«
»Ein Ast«, sagte Catherine. »Sie fallen von den Bäumen und zersplittern einfach, und es macht dieses unglaubliche Geräusch. Es ist nicht gerade leicht, darüber einzuschlafen.«
»Ich erschrecke mich jedes Mal zu Tode«, sagte Sally.
Cardinal zog Catherine beiseite. »Hast du mit Dad gesprochen?«
»Vor ein paar Stunden, ja. Es schien ihm gut zu gehen. Wollte natürlich nichts davon hören, zu uns zu kommen.«
»Ich fahr besser rüber und seh nach ihm. Ich kann sonst nicht schlafen. Da wir gerade davon reden, wir sind hier nicht gerade das Sheraton. Ich nehme mal an, Sally und die Mädchen können in Kellys Zimmer schlafen, und wenn ich Dad überreden kann, bei uns zu schlafen, kann er die Ausziehcouch haben.«
»Er hasst die Ausziehcouch. Falls er kommt, müssen wir uns auf jeden Fall was Besseres einfallen lassen.«
Cardinal hatte die Kuppe des Airport Hill erreicht, als der Strom ausging. Ohne dass etwas zu hören war, tauchte der Highway in völliges Dunkel, als ob jemand eine Abdeckplane über den Wagen geworfen hätte. Er fuhr an den Straßenrand und wartete, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten, bevor er seine Fahrt fortsetzte.
Der Camry kroch über die Kuppe des Airport Hill, während die Scheinwerfer Sichtkegel in die Dunkelheit schnitten, dann bog er in die Cunningham ein. Auf der unbefestigten Straße kam man noch schwerer voran. Hier war kein Salz gestreut, und es kam Cardinal so vor, als führe er auf einer Schlittschuhbahn. Er blieb im ersten Gang. Seitlich der Fahrbahn war es so pechschwarz, dass er keineswegs sicher war, ob er das Haus seines Vaters finden würde, doch als er um die letzte Kurve rollte, tauchte der Mond hinter einer Wolke auf, und die weißen Umrisse des Hauses nahmen hinter den Bäumen Gestalt an. Das grünspanüberzogene Eichhörnchen bildete eine schwarze Silhouette vor der mondhellen Wolke, und an Schwanz und Nase schimmerten Eiszapfen.
Das Haus war dunkel.
Cardinal ging zur Veranda herum. Von drinnen kam ein phosphoreszierender Lichtschein. Sein Vater hörte den Lärm und kam, im Mantel, zur Tür.
»Was zum Teufel willst du denn hier?«
»Ich freu mich auch, Dad. Ich bin gekommen, um zu sehen, wie du hier oben zurechtkommst.«
»Mir geht’s gut, danke.« Sein Vater starrte ihm aus dem Schatten der Küche entgegen. Hinter ihm zischte eine Coleman-Lampe auf dem Tisch.
»Aber du hast keinen Strom.«
»John, ob du’s glaubst oder nicht, das wusste ich schon, bevor du herkamst.«
»Dad, du bist ohne Heizung. Wieso kommst du nicht für eine Nacht zu uns runter?«
»Weil es mir hier einfach gut geht. So kalt ist es draußen nun auch wieder nicht, ich hab meine gute alte Coleman-Lampe, und ich hab ein gutes Buch. Ich hab auch noch ein Transistorradio und einen Coleman-Ofen – falls ich mal Wasser heiß machen muss.«
»Du kannst keinen Coleman-Ofen benutzen, Dad. Das Kohlenmonoxid würde dich umbringen.«
Sein Vater kniff die Augen zusammen. »Das weiß ich auch. Ich benutze ihn auf der Veranda.«
»Dad, komm bitte zu uns. Der Strom könnte für Stunden weg sein.«
»Mir geht’s hier gut. Also, falls du nicht noch wegen was anderem hier bist –?«
»Dad –«
»Gute Nacht, John. Ach, wie war’s in Montreal?«
»Gut. Hör mal, nur weil du eine Nacht bei uns schläfst, heißt das noch lange nicht, dass du völlig auf uns angewiesen bist. Wir haben Eisregen, verflixt noch mal. Meinst du nicht, dass du ein bisschen unvernünftig bist?«
»War nie gern in Montreal – wahrscheinlich, weil ich kein Französisch kann. Konnte nie einsehen, wofür. Also, danke, dass du vorbeigekommen bist, John. Ich seh dich dann vermutlich zum Lunch am Dienstag.«
»Dad, um Himmels willen, was willst du denn machen? Unter vierzig Pfund Decken schlafen?«
»Genau das habe ich vor. Nicht vierzig Pfund, aber ich hab meinen Daunenmantel und einen Daunenschlafsack, und ich werde vor dem Kamin schlafen.«
»Worauf denn?«
»Auf meiner verdammten Matratze, darauf. Es ist schon alles fertig, und es besteht kein Grund zur Sorge.«
»Du hast die Matratze alleine rübergeschleppt? Solche Anstrengungen packt dein Herz nicht mehr.«
»Nett, dass du mich dran erinnerst. Aber wenn ich dich gebeten hätte, mir zu helfen, hättest du mir einen Vortrag dar über gehalten, dass ich zu euch kommen soll. Kapierst du denn nicht, dass es mir hier gut geht? Ist das so schwer zu glauben? Weißt du, ich hab vierunddreißig Jahre für mich selber gesorgt, bevor du geboren wurdest, und ich bin vollkommen in der Lage, auch jetzt für mich selber zu sorgen. Der Strom wird in ein paar Stunden wieder da sein, und damit wird sich die ganze Diskussion von selbst erübrigen. Nicht, dass sie jetzt nötig gewesen wäre. Gute Nacht.«
»Ich bring ein bisschen mehr Brennholz auf die Veranda«, sagte Cardinal, doch sein Vater machte schon die Tür zu.
Als Cardinal vom Airport Hill Richtung Algonquin Bay abbog, das normalerweise wie eine Schachtel Rheinkiesel glitzerte, lag unter ihm ein schwarzer Tümpel. Es roch stark nach verbranntem Holz. Wenn der Mond zum Vorschein kam, konnte er sehen, wie die Rauchschwaden sich, jungen Bäumen gleich, nach Osten neigten, als ob die ganze Stadt nach Westen unterwegs wäre. Selbst die Ampeln waren aus. Auf seinem Weg zurück in die Madonna Road zählte Cardinal sechs Teams der Elektrizitätswerke.
Als er wieder nach Hause kam, blieb er eine Weile in der Auffahrt stehen und lauschte – er war sich nicht sicher, auf was. Falls Bouchard ihm auflauerte, dann sicherlich nicht in einer Nacht wie dieser. Aber er lauschte trotzdem. Es war kein Laut zu hören außer dem Klicken und Knattern der vereisten Zweige.
»Nichts zu machen, oder?«, fragte Catherine, kaum dass Cardinal zur Tür herein war.
»Nein. Lieber friert er sich da oben den Arsch ab, als eine Nacht im Haus seines Sohnes zu verbringen. Er hat keine Heizung außer dem Kamin. Und er hatte vor, auf dem Coleman zu kochen – eine sehr wirkungsvolle Methode, sich umzubringen. Wie dem auch sei, ich hab ein bisschen Brennholz auf die Veranda gelegt. Für die Nacht müsste er eigentlich zurechtkommen.«
»Jetzt setz dich erst mal, und ich wärm dir etwas Chili auf.«
»Sally schläft schon?«
»Hm. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich sie zu uns eingeladen habe.«
»Natürlich nicht. Du tust immer das Richtige.«
Catherine stellte die Schüssel mit dem Chili vor ihm auf den Tisch, und er erzählte ihr von Montreal. Er berichtete ihr von den Gesprächen mit den Akteuren der Krise vor dreißig Jahren, er erzählte ihr von dem Gefühl, als hätte er einen Sprung durch ein Zeitfenster gemacht, und wie er sie vermisst hatte.
»Ach, bevor ich’s vergesse«, fügte er hinzu. »Ich hab in Montreal mit einer anderen Frau geschlafen.«
»Ja?«
»Also, im selben Zimmer zumindest. Delormes Zimmer wurde überflutet, und das Hotel hatte nichts mehr frei. Bei mir stand ein zusätzliches Bett.«
»Lise sieht sehr gut aus.«
»Ja, kann man sagen.«
»Das muss eine ziemliche Versuchung gewesen sein.«
»Jedenfalls was anderes, als McLeod als Bettnachbar zu haben, so viel ist sicher.«