23

 

Cardinal und Delorme hielten zum Lunch an einer winzigen Imbissstube am Weg, die sich Chez Marguerite nannte. Cardinal hatte sich im Kopf schon seine Bestellung auf Französisch zurechtgelegt, doch als Marguerite – eine riesige Frau mit Brillengläsern so dick wie Aschenbecher – ihre Bestellung aufnahm, lachte sie doch tatsächlich.

»Wieso hat sie gelacht? Ich dachte, ich hab’s richtig hinbekommen.«

Delorme schüttelte den Kopf. »Es ist Ihr Akzent. Sie finden den frankokanadischen Akzent komisch, aber glauben Sie mir, das ist nichts gegen einen Anglo, der versucht, Französisch zu sprechen.«

»Das war’s – ich werde nie wieder ein Wort Französisch reden.«

»Blödsinn. Sie haben sich tapfer geschlagen.«

»Albernes Französisch. Und dann wundern sie sich, dass der Rest des Landes genug von ihnen hat.«

»Hören Sie auf. Sie klingen wie McLeod.«

»Ich hab nur einen Witz gemacht.«

Delorme sah aus dem Fenster über die Felder jenseits des Highways. Die Sonne stand noch tief am Himmel, und das Licht färbte ein paar Strähnen in ihrem Haar kupferrot. »Glauben Sie, dass Sauvé die Wahrheit gesagt hat?«

»Auf jeden Fall war es ratsamer für ihn, die Wahrheit zu sagen. Und alles, was er gesagt hat, passt zu dem, was wir von anderen gehört haben. Ich denke, viel mehr werden wir aus Shackleys Telefonkontakten nicht rausbekommen.«

Die Eigentümerin brachte ihnen das Essen: Burger für Cardinal und für Delorme eine Platte Poutine – eine frankokanadische Spezialität aus Pommes frites, brauner Soße und gebröckeltem Frischkäse.

»Gott, Delorme. Wie können Sie das essen?«

»Lassen Sie mich in Frieden. Ich ess das nur, wenn ich in Quebec bin.«

»Ach so, ich vergaß, diese sensiblen, verfeinerten frankokanadischen Geschmacksnerven.«

Delorme sah ihm mit ihren ernsten braunen Augen gerade ins Gesicht. »Sie sollten prendre sagen, wenn Sie Ihr Essen bestellen. Je vais prendre

Sie waren auf dem Highway 20 und hatten gerade den Stadtrand erreicht, als Cardinals Handy klingelte. Die Stimme am anderen Ende war sehr kultiviert, sehr britisch. »Guten Tag. Kann ich wohl bitte mit Detective John Cardinal sprechen?«

»Am Apparat.«

»Ah, ich glaube, Sie hatten versucht, mich zu erreichen. Mein Name ist Hawthorne. Stuart Hawthorne.«

 

Stuart Hawthorne war schätzungsweise Ende sechzig, doch drahtig und energisch. Sein Haar, auf dem Oberkopf dicht und silbergrau, hatte am Hinterkopf über dem Hals noch ein wenig von seiner ursprünglichen Sandfarbe erhalten. Es war aus der Stirn gekämmt und bildete über den Ohren zwei angelegte Flügel. Cardinal war auf einen Nadelstreifenanzug gefasst gewesen, doch natürlich war Hawthorne jetzt pensioniert und hatte daher keinen Grund, sich formell zu kleiden. Er trug ein flauschiges, weißes Hemd mit Button-down-Kragen, eine Khakihose ohne Umschlag und ein Paar Kodiakstiefel. Er schien der Mann zu sein, der sich auf einer Safari, in einem Fernsehstudio oder beim Unkrautjäten im eigenen Garten gleichermaßen zu Hause fühlte.

»Wissen Sie, Detective, der CSIS hat bei mir angerufen«, sagte er, als Cardinal und Delorme ihn in seinem Haus in Westmount abholten. »Sie wollen unbedingt verhindern, dass ich mit Ihnen rede.«

»Der CSIS will, dass überhaupt niemand mit uns redet«, sagte Cardinal. »Es gibt Aspekte bei diesen Ermittlungen, die kein allzu gutes Licht auf ihre alte Garde werfen.«

»Nun ja, das soll mir recht sein. Ich persönlich bin der Meinung, dass sie in der Oktoberkrise völligen Murks gemacht haben. Wenn sie anders damit umgegangen wären, könnte Raoul Duquette noch am Leben sein.«

»Hat der Anrufer seinen Namen genannt?«

»Nein. Was mir die Sache sofort suspekt machte. Es war ein älterer Mann – nun ja, muss er ja sein, falls er zu der alten Garde gehört –, möglicherweise Frankokanadier. Jedenfalls werde ich wegen eines anonymen Anrufs keine Morduntersuchung behindern.«

Ein kurzes Stück fuhren sie schweigend. Dann sagte Hawthorne: »Wissen Sie, ich bin schon oft gebeten worden, so etwas zu machen, aber ich habe schon seit mehr als zehn Jahren nicht mehr mit den Medien geredet. Das letzte Mal, dass sie an mich herantraten, war Oktober 2000 – dreißigster Jahrestag der alten Geschichte. Ich hab gesagt, nein, kommt nicht in Frage. Ohne mich. Ich möchte 1970 einfach vergessen – zumindest meine Rolle bei dem Ganzen. Andererseits vergeht kein einziger Tag, an dem ich nicht an den armen Raoul Duquette denken muss, der da oben am Mount Royal begraben liegt.«

Delorme fuhr, und Cardinal saß auf dem Rücksitz, ein Arrangement, das sie sich in der Annahme ausgedacht hatten, dass Hawthorne bei Delorme auf ein verständnisvolleres, um nicht zu sagen, attraktiveres Ohr stoßen würde. Und die Rechnung ging auf. Kaum waren sie unterwegs, redete er drauflos, ohne dass sie groß nachhelfen mussten. »Die verdammten Medien«, sagte er. »Ich glaube, die Leute von der CBC hofften, ich würde etwas schrecklich Christliches sagen und meinen Entführern vergeben, aber tut mir leid, ich vergebe ihnen nicht. Mal ganz abgesehen davon, was sie mir angetan haben, vergessen die Leute immer, was meine Familie durchgemacht hat. Wissen Sie, es gab einen Punkt, an dem die Medien mich für tot erklärten – am selben Tag, als Duquette ermordet wurde. Können Sie sich vorstellen, was sie damit meiner Frau angetan haben? Ich hatte einen vierjährigen Jungen, in Gottes Namen. Ihnen vergeben? Nein, danke. Meine Frau war danach nie mehr wie früher«, fügte Hawthorne hinzu. »Schlimmer für sie als für mich. Das kann ich ihnen nicht vergeben.«

Delorme bog Richtung Norden in eine Durchgangsstraße ein, die sie vorher als die zügigste Route nachgeschlagen hatte.

Hawthorne betrachtete im Vorbeifahren das Leben auf der Straße, das vor allem aus Jugendlichen auf Skateboards und arabischen Frauen mit Kinderwagen zu bestehen schien. Am Telefon hatte Hawthorne nicht die geringste Begeisterung für ihr Treffen gezeigt. »Hören Sie«, hatte er gesagt, »das war vor dreißig Jahren, das Leben muss weitergehen.« Und doch war Hawthorne nach der Entführung seltsamerweise in Kanada geblieben. Sogar in Quebec. Als er 1988 in den Ruhestand trat, war es in Montreal, der Stadt, in der er die schlimmste Erfahrung seines Lebens gemacht hatte. Cardinal fragte ihn jetzt danach.

»Nun ja, ich habe tatsächlich versucht, nach England zurückzukehren, wissen Sie. Hab zwei Jahre da gelebt. Aber man gewöhnt sich an eine andere Mentalität, eine andere Lebensart. Ehrlich gesagt, finde ich Großbritannien heutzutage unerträglich bieder, trotz des oberflächlichen Modernismus von Tony Blair. Es hat was Rückständiges – hinkt zwanzig Jahre hinter dem Rest der Welt hinterher.«

Er drehte sich um und sah Cardinal an. »Außerdem habe ich, trotz dieser Geschichte damals, die Kanadier immer gemocht. Die Leute, die mich entführt haben, waren Extremisten. Ich habe – bis heute – viele frankokanadische Freunde. Aber die Kanadier insgesamt sind das ideale Mittelding zwischen den bornierten Engländern und den aufdringlichen Amerikanern. Jedenfalls nach meiner Erfahrung. Vielleicht sind Sie anderer Meinung.«

»Ich weiß nicht«, sagte Delorme. »Einige meiner Verwandten sind unglaublich konservativ. Sie machen mir manchmal Angst. Sie wählen Typen wie Geoff Mantis.«

»Wie Sie sehen, schweige ich dazu lieber. Einmal Diplomat, immer Diplomat.«

Cardinal fand Hawthornes Akzent faszinierend. Oxford oder Cambridge, so viel wusste er, auch wenn er nicht wusste, woher er das wusste. Die simpelsten Wörter klangen einfach schön. Es machte ihn ein wenig neidisch, und er fragte sich, ob es Delorme mit Leuten aus Frankreich ähnlich erging, vorausgesetzt, sie war je welchen begegnet. Hawthorne war glatt, geschliffen, formvollendet – das waren die Begriffe, die einem zu ihm einfielen – auf eine Weise, wie es Kanadier niemals waren. Er nennt uns das ideale Mittelding zwischen Amerikanern und Engländern, dachte Cardinal, doch in Wirklichkeit fühlen wir uns von beiden eingeschüchtert.

»Ich bin noch nie wieder da gewesen«, sagte Hawthorne. »Ich meine, in dem Haus. Die CBC hat mich immer wieder gefragt, ob ich nicht mal mitkommen will. Pünktlich alle fünf Jahre ruft ein einfallsreicher junger Produzent an – die heißen grundsätzlich Mindy, wenn sie Anglo sind, und Lise, wenn sie Franko …«

»So heiße ich«, warf Delorme ein.

»In dem Fall«, sagte Hawthorne, »sollten Sie bei der CBC arbeiten.«

Delorme lachte.

»Jedenfalls klingelt, wie gesagt, alle fünf Jahre das Telefon, und Mindy oder Lise will wissen, ob es mir sehr viel ausmachen würde, ein bisschen in Erinnerungen zu schwelgen. Ein bisschen über meine Zeit bei den Terroristen zu erzählen und vielleicht einen kleinen Ausflug zu dem Haus zu machen, in dem es passiert ist. Vor laufender Kamera selbstredend.

›Eigentlich‹, lass ich sie wie Bartleby wissen, ›möchte ich lieber nicht.‹ Sie verstehen das als große Ermutigung. Sie sind wie ein ausgesetztes Tier, das bei jeder Zurückweisung nur noch anhänglicher wird. Die nächsten vier Wochen rufen sie unverdrossen immer wieder an, laden mich zum Mittagessen ein, zum Abendessen, bieten an, zu mir nach Hause zu kommen – als ob mich das umstimmen könnte –, und würden mir ihre Schwiegermutter verkaufen, wenn ich nur in ein Interview in diesem verfluchten Haus einwillige. Und ich hab es nie getan«, fügte er hinzu und verfiel in Schweigen, als sie in die Delavigne, eine schmale Straße mit Bungalows, einbogen. »Niemals.«

»Es tut mir leid, dass das nicht leicht für Sie ist«, sagte Cardinal. »Aber wie ich schon am Telefon sagte, sind wir dringendst auf Informationen angewiesen. Wir machen das nicht zum Spaß, wir wollen einen Mörder schnappen.«

»Ja, ja, sonst wäre ich nicht hier. Warten Sie, das hier ist die Straße, oder – Delavigne? Ja, das ist sie. Natürlich habe ich sie damals nie zu Gesicht bekommen. Nicht die Straße.«

»Hatten sie Ihnen die Augen verbunden?«, fragte Delorme.

»Im Wagen, ja. Und wissen Sie, was sie dafür benutzt haben? Eine alte Gasmaske. Hatten die Okulare geschwärzt. Konnte absolut nichts sehen. Aber ich kann Ihnen sagen, es hat mir Angst gemacht. Ich wusste ja nicht, dass es nur darum ging, dass ich nichts sehe. Dachte, die wollen mich mit Gas vergiften oder so. Ich meine, sie drückten mich auf den Rücksitz runter, drohten mir, und dann kommen sie mit diesem stinkenden Gummiding und stülpen es mir über das Gesicht. Nicht gerade dazu angetan, einen hoffnungsfroh zu stimmen.«

»Da wären wir«, sagte Delorme. Sie fuhr in die Einfahrt eines kleinen weißen Bungalows, vor dem ein kastanienbrauner Minivan parkte.

»Oh, Mann«, sagte Hawthorne.

Cardinal wollte aussteigen.

»Warten Sie eine Sekunde«, sagte Hawthorne. »Würde es Ihnen sehr viel ausmachen, noch einen Moment einfach sitzen zu bleiben? Es ist alles ein bisschen …«

Cardinal machte die Tür wieder zu.

»Oh, Mann«, sagte Hawthorne noch einmal. »Wissen Sie, dass ich, wenn ich zufällig hier vorbeispazieren würde, das Haus nie wiedererkannt hätte? Nie im Leben. Sicher, ich hab es ja unter dieser Maske auch nie richtig gesehen. Das heißt ja und nein. Als wir ankamen, habe ich aus den Augenwinkeln heraus an den Rändern der Maske ein bisschen sehen können. Und dann am letzten Tag, als sie mich schließlich von hier wegfuhren. Ich kam raus und wurde auf den Rücksitz ihrer alten Schrottkiste verfrachtet, und im Wegfahren habe ich es gesehen. Aber es sah damals ganz anders aus.«

»Es ist das Haus, Sir. Es ist dieselbe Nummer. Und ich hab mir die alten Zeitungsfotos angesehen. Der einzige Unterschied ist, dass sie einen neuen Carport angebaut haben.«

»Oh, Sie haben sicher recht. Es ist bestimmt das Haus. Das Problem ist nur, dass es in meinem Kopf, in meiner Erinnerung so ein Albtraum ist. Inzwischen natürlich nicht mehr ganz so schlimm, aber in den ersten fünf Jahren oder so, als ich noch dauernd davon träumte. Für mich ist das eben die Realität, das Haus, das ich im Geist noch vor mir sehe. Und nicht das hier.«

»Es tut mir wirklich leid, Ihnen das zuzumuten, Sir.« Cardinal wusste nicht so recht, wieso er ihn dauernd Sir titulierte. Das machte er so gut wie nie. Der verdammte Akzent.

»Nein, nein. Keineswegs. Eigentlich ist es vermutlich gut für mich. Den Drachen erlegen, so etwas in der Art. Es ist nichts weiter als ein kleines Haus in einer ruhigen Straße. Keine Folterkammer. Nein, nein, ich bin sicher, es ist ganz gut so.« Hawthorne schlug sich auf die Schenkel. »Worauf warten wir! Nach Ihnen.«

An der Tür begrüßte sie Al Lamotte, der gegenwärtige Eigentümer. Delorme hatte mit ihm telefoniert und den Termin mit ihm vereinbart. Er war wie sie Mitte dreißig und konnte sich kaum an die politischen Ereignisse von 1970 erinnern. Das Haus hatte seit damals ein Dutzend Mal den Besitzer gewechselt; Lamotte wohnte hier seit zwei Jahren mit seiner Frau und seinem Sohn. Frau und Sohn waren gerade nicht zu Hause.

»Hören Sie«, sagte er, nachdem sie sich miteinander bekannt gemacht hatten, »ich will nicht im Weg rumstehen, okay? Sie gehen einfach überall hin, wo Sie hinmüssen, und ich bin so lange in der Küche.«

»Danke, Mr. Lamotte«, sagte Cardinal. »Sehr freundlich von Ihnen.«

Lamotte machte eine abwehrende Handbewegung und ging in die Küche.

Hawthorne hatte währenddessen dagestanden, die Hände unbeschwert in die Hüften gestemmt, und sich umgesehen. Vor dem Fenster glitzerten Bäume und dahinter ein Kirchturm in der Sonne.

Cardinal sah ihn erwartungsvoll an.

»Das Wohnzimmer habe ich bis zuletzt nicht gesehen. Es war fast völlig leer. Ein paar Schlafsäcke, ein paar harte Stühle. Sie hatten offensichtlich nicht damit gerechnet, dass die Sache länger als ein paar Tage dauern würde. Sie hielten mich die ganze Zeit im Schlafzimmer gefangen. Immer eine bewaffnete Wache an der Tür. An viel mehr kann ich mich bei dem Zimmer nicht erinnern. Das Haus war von Polizei und sechstausend Armeesoldaten umstellt. Ich wollte einfach nur raus hier, bevor uns die Kugeln um die Ohren flogen.« Hawthornes Stimme zitterte ein wenig. Ein Riss in der glatten Oberfläche.

»Ich war die ganze Zeit nur im Schlafzimmer, außer wenn ich zur Toilette musste. Selbst da sind sie mit mir reingegangen, verflucht noch mal. Das war deprimierend.« Hawthorne drehte sich zu ihnen um. »Hören Sie, ich glaube wirklich nicht, dass ich mit irgendwelchen großen Offenbarungen aufwarten kann. Es ist alles zu lange her. Und natürlich wollte ich mich nicht erinnern, ich wollte vergessen.«

»Können wir einen Blick ins Schlafzimmer werfen?« Die Frage kam von Delorme, und Cardinal war froh. Es war nicht leicht, einen so beherrschten Mann wie Hawthorne zittern zu sehen.

Der Engländer grub das Kinn in die Brust. Mehr brachte er nicht zustande, um sein Einverständnis zu bekunden. Dann drehte sich Delorme um, und er folgte ihr wie ein kleiner Junge durch den Flur.

Cardinal blieb im Flur, in den aus dem Schlafzimmer ein heller Lichtstrahl schräg einfiel. Hawthorne stand vorgebeugt am hinteren Ende des Zimmers, immer noch das Kinn an der Brust, als ob ihm ein scharfer Wind entgegenbliese.

Derzeit war es ein Kinderzimmer, nach der Sportausrüstung zu urteilen die Domäne eines zehn- oder elfjährigen Jungen. In eine Ecke kuschelte sich ein riesiger Teddybär. An der Wand hing ein bunter Drachen und wartete auf den Sommer, daneben ein Poster von den Montreal Canadiens. Eine gelbe Kommode, deren Schubladen teilweise heraushingen, war von Videospielen, Comic-Heften und Sammelkarten mit Hexen und Zauberern übersät. Auf einem kleinen Schreibtisch stand ein Computer. Auf dem Bildschirmschoner richtete sich ein Tyrannosaurus Rex brüllend auf. Über dem Zimmer lag ein leichter Geruch nach Turnschuhen.

»Oje«, sagte Hawthorne leise.

Cardinal und Delorme warteten. Hawthorne verlagerte sein Gewicht und sah sich um.

»Ich bin froh, dass es ein Kinderzimmer ist«, sagte er ohne weitere Erklärung. Cardinal hatte ohnehin nicht den Eindruck, dass er mit ihnen sprach. »Es ist, als ob man ein Schlachtfeld wiedersieht. Gettysburg oder Poitiers. Mal da gewesen? Ein paar stille Hügel, Blumen und Gras, die im Wind wehen. Man ahnt nicht, was sich da abgespielt hat.

Natürlich kommt es einem heute so unbedeutend vor. Zwei Entführungen, ein Mord. Verglichen mit dem elften September nichts weiter als ein kurzer Echoimpuls auf dem Radarschirm. Aber für den Betroffenen ist es eine schlimme Sache.« Er drehte sich zu Delorme um. »Zwei Monate hab ich hier zugebracht. Zwei Monate.«

»Das ist eine lange Zeit.«

»Am Anfang war es noch nicht so schlimm, nach dem ersten Schock, meine ich. Sie waren höflich, sorgten dafür, dass ich es bequem hatte – das heißt so bequem, wie man es eben haben kann mit gefesselten Händen und einer Kapuze über dem Kopf. Es war ein Kopfkissenbezug, den sie an einer Naht aufgerissen hatten. Ich konnte geradeaus sehen, aber nicht zur Seite. Hatte zwei Monate lang eine prächtige Aussicht auf diese Wand. Sie haben mir immer wieder versichert, dass sie mir nichts tun würden, dass ich nur ein Pfand war und so weiter, ein Verhandlungsgegenstand. Vermutlich waren sie auf ihre Art ganz respektvoll.«

Er drehte sich zum Fenster um. »Das war zugenagelt. Ich hab mir ausgemalt, wie ich ein Brett nach dem anderen losbekomme und eines Tages rausspringe, aber es war ja immer ein bewaffneter Wächter bei mir. Sie brachten mir Bücher zum Lesen — zuerst politisches Zeug und später dann Taschenbuch-Thriller.« Er seufzte, und sein Atem bebte.

»Wie viele waren hier?«, fragte Cardinal, aber Hawthorne schien es nicht zu hören. Leise vor sich hin murmelnd, fuhr er mit seiner Führung durch die Vergangenheit fort, wies mit dem Finger auf eine Ecke, nickte mit dem Kopf in Richtung einer Wand.

»Eine Liege als Bett. Vermutlich einigermaßen bequem, aber sehr schmal. Dadurch hatten sie es leichter, mich festzubinden.«

Eine Drehung, ein Kopfnicken.

»Ein Campingstuhl neben der Tür. Und immer besetzt. Sie waren immer bewaffnet, aber sie haben nie mit der Waffe herumgefuchtelt oder so. Es war genug, dass sie eine hatten.«

Eine Drehung, ein Kopfnicken.

»Hier war ein Klapptisch. Zwei kleine Klappstühle. Da hab ich gegessen. Eine Menge Fastfood natürlich. Sie hatten allerdings eine Frau, die gelegentlich kochte. Madeleine hieß sie. Sie machte eine gute Tourtière und andere Gerichte. Hat sogar manchmal was gebacken. Sie schien wegen des ganzen Unternehmens Schuldgefühle zu haben. »Keine Sorge«, flüsterte sie mir manchmal ins Ohr. »Keine Sorge, Ihnen passiert schon nichts.«

Die Erinnerung schien emotionale Saiten in ihm zum Klingen zu bringen, die bisher stumm gewesen waren. Er drückte sich den Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Und wissen Sie was – mir ist ja auch nichts passiert. Mir ist nichts passiert. Sie hatten die ganze Zeit das Radio oder den Fernseher laufen, und so konnte ich immer die neuesten Nachrichten hören. Und es klang so, als würde die Provinzregierung alles Erdenkliche tun, um die Sache durch Verhandlungen zu einem guten Ende zu bringen. Aber dann rief Ottawa die Armee. In dem Moment, als sie das Kriegsrecht verhängten, ging hier die Luft raus. Die Kidnapper hatten so etwas nicht erwartet, sehen Sie. Sie dachten, es wären echte Verhandlungen im Gange. Aber in dem Moment, als Ottawa die Sache übernahm …«

Mit der Stiefelspitze folgte Hawthorne den Umrissen eines Tigers in dem Teppich zu seinen Füßen. »Sobald sie den Eindruck bekamen, ihre Verhandlungen seien fruchtlos, bekamen sie es mit der Angst. Nun ja, Sie haben ja gesehen, was in der anderen Zelle passiert ist. Einen Tag nachdem das Kriegsrecht verhängt war, haben sie Raoul Duquette getötet …«

Seine Stiefelspitze war am Maul der Wildkatze angelangt und glitt weiter zu den Ohren, dann wieder den Unterkiefer hinab. »Der arme Mann liegt seit dreißig Jahren im Grab. Und ich lebe – reine Glückssache. Er kam zu der gewaltbereiteren Gruppe. Manche Leute haben gemutmaßt, er hätte mit den Entführern Streit angefangen, aber ich bin sicher, dass er nicht so dumm war, die gegen sich aufzubringen. Nein, er hatte lediglich das Pech, von Leuten entführt zu werden, die bereit waren zu töten. Meine Entführer waren es nicht, und ich schreibe es keinen Moment meinen diplomatischen Fähigkeiten zu, dass ich noch am Leben bin. Auch wenn ich tatsächlich so viel wie möglich mit ihnen gewitzelt habe.

Das Wichtigste war mir, in ihren Augen ein Mensch aus Fleisch und Blut zu bleiben, ohne allerdings einen Kotau vor ihnen zu machen. Ich wollte nur, dass sie mich als ein Individuum betrachten, nicht als einen Gegenstand. Disponibel. Ich weiß noch, wie einmal einer von ihnen einen gewaltigen Furz losließ, und ich sagte: ›Ah, votre arme secrète – Ihre Geheimwaffe.‹ Sie mussten darüber lachen.«

»Wie viele Leute waren es eigentlich, die Sie hier festhielten?«, fragte Delorme.

»Vier. Jacques Savard, Robert Villeneuve, das Mädchen, Madeleine, und ein Mann namens Yves, der kam und ging. Er war der Einzige, der mir drohte. ›Glauben Sie nicht, wir würden es nicht tun‹, sagte er mehrfach. ›Ich könnte Ihnen so das Genick brechen!‹ Und dabei schnippte er mit den Fingern. Brutaler Mensch. Die Welt ist leider voll davon.«

»Und Sie haben nie seinen Nachnamen gehört?«

»Nein, nie. Er bestand darauf, dass ihn jeder einfach nur Kamerad oder Soldat nannte, aber dem Mädchen ist ein-, zweimal sein Vorname rausgerutscht. Er blieb Gott sei Dank nie länger als eine halbe Stunde. Ich glaube, er war in erster Linie ein Verbindungsmann.« Hawthorne fuhr mit einem Mal he rum und eilte mit großen Schritten zur Tür. »Ich kann wirklich nicht länger hier drin bleiben, es ist einfach zu viel.«

Im Wohnzimmer stützte er sich auf eine Sessellehne und atmete schwer.

»Alles in Ordnung?«, rief der Eigentümer aus der Küche.

»Ja, bestens«, antwortete Cardinal. »Wir gehen gleich.«

»Vielleicht setzen Sie sich erst mal«, schlug Delorme vor, »und machen eine Verschnaufpause.«

»Nein, nicht nötig. Ist schon in Ordnung. Bitte entschuldigen Sie den kleinen Schwächeanfall.« Hawthorne brachte ein Lächeln zuwege, doch auf der Stirn standen ihm die Schweißperlen.

Cardinal zog das Foto von Miles Shackley heraus. »Erkennen Sie diesen Mann wieder?«

»Nein. Sollte ich?«

»Nicht unbedingt. Und diese Leute?« Cardinal zeigte ihm das Foto mit den vier lächelnden Terroristen vor dem Fenster.

»Also, Lemoyne und Theroux erkenne ich aus den Zeitungsberichten. Sie waren, soviel ich weiß, nie hier. Sie hatten alle Hände voll damit zu tun, Duquette zu töten. Das ist Madeleine, die gelegentliche Köchin.«

»Und der Mann ganz rechts?« Cardinal zeigte auf den Mann mit den schwarzen Locken und dem gestreiften T-Shirt.

»Den Mann vergesse ich so schnell nicht. Das ist der Mann, den sie Yves nannten. Der Rüpel der Gruppe.«

»Wir gehen davon aus, dass er Yves Grenelle hieß«, sagte Cardinal.

»Mag sein. Sie müssen verstehen, dass ich gar nicht scharf darauf war, viel zu wissen. Ich wollte eine möglichst geringe Bedrohung für sie darstellen. Wollte ihnen – abgesehen von der politischen Situation – keinen Grund geben, mich umzubringen. Wenn Sie sagen, das ist Yves Grenelle, glaube ich Ihnen das aufs Wort. Den Nachnamen habe ich nie gehört. Ich kannte ihn nur als einen Dreckskerl, wenn Sie mir den Fachausdruck nachsehen wollen.«

»Wie konnten Sie sein Gesicht erkennen?«, fragte Delorme. »Sie hatten doch die Kapuze auf, nicht?«

»Dem Mann war es egal, ob ich sein Gesicht sehe. Und das machte mir Angst. Einmal hat er mir die Kapuze heruntergerissen, als Madeleine im Zimmer war.«

»Ist er die ganze Zeit, die Sie hier waren, hergekommen? Waren seine Besuche regelmäßig?«

»Keineswegs. Anfangs kam er drei-, viermal. Danach hab ich ihn nie wiedergesehen. Womit ich nicht sagen will, dass er tatsächlich nicht kam. Schließlich war ich im Schlafzimmer eingesperrt.«

»Aber nach der zweiten Woche haben Sie ihn nie wiedergesehen?«

»Ich glaube nicht. Die Nachrichten liefen die ganze Zeit, und ich weiß, dass er nicht mehr kam, nachdem sie Duquette getötet hatten. Ich würde mich daran erinnern, weil er mir vorher solche Angst eingejagt hatte. Ich hatte panische Angst davor, dass er wiederkommen und die anderen aufwiegeln könnte, aber falls er noch mal da war, hab ich ihn nicht gesehen.« Hawthorne sprang plötzlich auf. »Hören Sie, ich glaube, ich hab Ihnen so weit geholfen, wie ich konnte, Detective. Wenn Sie gestatten, würde ich jetzt gerne nach Hause fahren.«

Cardinal ging in die Küche, um sich beim Eigentümer zu bedanken.

»Gern geschehen«, sagte Lamotte. »Furchtbare Sache, die hier passiert ist. Furchtbare Sache. Ich bin froh, dass es nicht, wissen Sie, dass es nicht das andere Haus ist. Das, in dem sie…«

»Ja«, sagte Cardinal. »Nochmals vielen Dank.«

»War das der Typ, den sie entführt haben? Der Diplomat?«

»Ich darf Ihnen keine Auskunft geben, fürchte ich. Das hier ist eine laufende Ermittlung.«

»Nach dreißig Jahren? Klingt nicht, als würde da viel laufen.«

»Na ja, wissen Sie«, sagte Cardinal, »mit Geduld und Spucke …«

»Hm, sicher. Und wenn Sie dran glauben … Was ist?«

»Dieses Fenster«, sagte Cardinal, eigentlich mehr zu sich selbst. »Dieser Kirchturm da hinten.«

»Ste-Agathe. Überragt immer noch alles weit und breit.«

Die neugotischen Umrisse des Turms hatten vor der schweren Wolke etwas Theatralisches. Cardinal zog das Foto aus der Tasche, die vier grinsenden Terroristen. Der Blick aus dem Fenster war anders. Es war Sommer, damals; die Bäume waren grün und trugen volles Laub. Doch der Blick auf die andere Straßenseite war ansonsten unverändert: ein braunes Ranchhaus aus Holz, mit einer dicken Zeder davor, und ein Stück weiter rechts, über den Dächern in der Ferne, die Turmspitze von Ste-Agathe. »Das wurde hier gemacht«, sagte Cardinal. »Das Bild wurde in diesem Zimmer gemacht.«

»Mit Sicherheit«, sagte Mr. Lamotte, der ihm über die Schulter blickte. »Das ist das Haus gegenüber. Und da ist die Kirche.«

Cardinal konnte es kaum abwarten, die Neuigkeit Delorme zu erzählen, doch als er in den Wagen stieg, sah er, wie Hawthorne auf dem Beifahrersitz hockte und schluchzte wie ein Kind, und ausnahmsweise schien Delorme einmal nicht zu wissen, was sie machen sollte.

Sie warteten ein paar Minuten. Hawthorne zog ein Taschentuch heraus und wischte sich die Augen, schnäuzte sich die Nase und lehnte sich schließlich erschöpft zurück. »Gott«, sagte er und schüttelte mehrmals langsam den Kopf. »Soll ich Ihnen sagen, was das Idiotischste bei der ganzen Geschichte ist?«

»Sicher«, sagte Cardinal.

»Ich hab ihnen das gleich am ersten Tag gesagt. Sie hatten mich hingesetzt und mir die Kapuze übergestülpt und mein Handgelenk am Bettrahmen festgemacht. Sie hatten aufgehört, sich gegenseitig zu ihrem wundervollen Sieg zu beglückwünschen und so. Und als es still war und nur noch zwei von ihnen im Zimmer waren, habe ich zu ihnen gesagt: ›Mes pauvres amis‹, habe ich gesagt. ›Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie. Um die Wahrheit zu sagen, bin ich nicht mal Engländer, wissen Sie. Wenn Sie also glauben, dass Ihrer Majestät Regierung auch nur einen Finger krumm macht, um mich zu retten, irren Sie sich gewaltig.‹«

Delorme sah ihn an. »Sie sind kein Engländer?«

»Nein, Madam. Das ist ja das Lächerliche.« Hawthorne schüttelte wie vor Staunen über das ganze Ausmaß menschlicher Dummheit den Kopf, und seine nächste Bemerkung kam in einem Ton, als könne er es immer noch nicht fassen. »Ich bin Ire.«