Wie trägst du dein Haar, schöne Blonde

Es war fast Nacht, und Don Camillo war immer noch dabei, mit einem kleinen Pinsel die Vergoldungen der Kandelaber nachzufahren, als das Kirchentor quietschte. Eine Frau mit einem großen schwarzen Schleier auf dem Kopf trat herein und kniete schluchzend in der erstbesten Bank nieder. Don Camillo unterbrach seine Arbeit und lief, um nachzusehen, was da, zum Teufel, geschah. Als die Frau den Kopf hob, entfuhr ihm ein Ausruf der Verwunderung:

»Sie, Frau Ernestina?«

Die Frau senkte wiederum den Kopf und schluchzte noch heftiger:

»Hochwürden«, wimmerte sie, »ich habe eine große Torheit begangen.«

Don Camillo breitete die Arme aus, denn eine Torheit und noch dazu eine große hätte er sich von allen erwartet, nur nicht von Frau Ernestina. Er konnte einfach nicht glauben, daß sie irgendeine Schweinerei begangen hatte.

»Beruhigen Sie sich, gnädige Frau«, flüsterte Don Camillo. »Vertrauen Sie sich mir an. Schauen wir zuallererst einmal, um was es sich handelt. Es könnte ja einen Ausweg geben!«

»Es ist eine nicht wiedergutzumachende Dummheit!« rief die Frau. »Immer habe ich diese Versuchung gespürt, schon als Mädchen, aber ich hab auch immer die Kraft gefunden zu widerstehen. Und jetzt, mit vollen fünfundvierzig Jahren und mit vier Kindern, habe ich diese Riesendummheit begangen… Ich hab einfach nicht mehr den Mut, nach Hause zurückzugehen… Seit heute morgen bin ich von dort weg… Wer weiß, was Carlo machen wird, wenn er es erfährt!«

Die letzten Worte der Frau versanken in einem stürmischen Seufzermeer, so daß Don Camillo das große gelbe Taschentuch hervorholen mußte, um seine schweißbedeckte Stirn abzuwischen. Der Gedanke, daß Frau Ernestina eine große Torheit begangen haben sollte, erfüllte ihn mit Verwunderung und Schmerz, doch der Gedanke daran, was Carlo Daboni machen würde, wenn er den Fehltritt seiner Frau erfahren sollte, erfüllte ihn geradezu mit Schrecken.

Denn Carlo Daboni war wirklich ein aufrechter, braver Mann. Aber eben einer jener so aufrechten und braven Männer, die schier unfähig sind zuzulassen, daß andere irren können, und die sich daher unumschränkt berufen fühlen, auf jemanden, der ihnen Unrecht getan hat, mit der Flinte loszuballern. In Wahrheit hatte Carlo Daboni freilich auf niemanden geschossen, aber Don Camillo war ein erfahrener Beobachter der Menschheit und wußte, daß das nur aus dem einzigen Grund nicht geschehen war, weil niemand Carlo Daboni wirklich und ernsthaft Unrecht getan hatte. Don Camillo beugte sich zu der Frau hinab, die da wimmerte und das Gesicht in den Händen verbarg.

»Gnädige Frau, verzagen Sie nicht, beichten Sie, das wird Ihnen ein wenig Erleichterung verschaffen.«

»Da gibt es nichts zu beichten!« schrie die Frau. »Denn die Dummheit, die ich begangen habe, können leider alle sehen! Da, schauen Sie, schauen Sie her, Hochwürden!«

Die Frau hob den Kopf und warf den schwarzen Schleier auf die Schultern. Don Camillo bemerkte zwar, daß da irgend etwas nicht stimmte, begriff dennoch nichts. Als er endlich begriff, wandte er sich zum Hauptaltar, schüttelte traurig den Kopf und sagte: »Herr Jesus, ist es denn möglich, daß ein alter Birnbaum, der fünfundvierzig Jahre lang ehrlich Birnen getragen hat, plötzlich Roßkastanien trägt?«

Der Christus antwortete nicht, und Don Camillo wandte sich zu der Frau um und sagte zu ihr streng:

»Hören Sie auf zu schluchzen und sagen Sie nicht mehr, daß Sie eine Riesendummheit begangen haben. Was Sie getan haben, gehört in die Kategorie der Kindereien.«

Damit war die Frau jedoch nicht einverstanden:

»Wenn Sie meinen Carlo wirklich kennen würden, müßten Sie zugeben, daß ich recht habe. Für Sie und die anderen ist das eine Kinderei. Für Carlo ist es eine Dummheit. Eine große Dummheit!«

Don Camillo konnte ihr nicht unrecht geben. Denn Don Camillo kannte Carlo Daboni sehr gut.

Nur um ein Beispiel zu liefern: Im Jahr 1938 barst der Palazzone wie eine überreife Wassermelone auseinander, und Carlo Daboni ließ daher den Groben rufen, der schon damals der beste Maurermeister der Gegend war. Als der Grobe jedoch den großen Sprung sah, schüttelte er den Kopf: »Ich trau mich da nicht ran. Da leg ich nicht Hand an, bevor nicht der Ingenieur kommt und die Verantwortung übernimmt.«

Carlo Daboni brüllte, daß er für alles einstehen würde und daß den Palazzone nicht irgendein Grünschnabel errichtet hatte, sondern sein Urgroßvater Lodovico, der von Häusern mehr verstand als alle Ingenieure des gesamten Universums.

Dennoch erschien, vom Groben herbeigerufen, der Bauingenieur der Gemeinde, und er ordnete Carlo Daboni ohne viel Federlesens an, den Palazzone auf der Stelle räumen zu lassen, da das Gebäude einsturzgefährdet sei. Daboni erklärte wiederum, daß sein Ahne Lodovico der größte Baumeister der Region war und daß deshalb, bevor der Palazzone zusammenbrach, alle Häuser des Universums einstürzen müßten. Doch der Bauingenieur der Gemeinde ließ sich davon nicht beeindrucken.

»Tun Sie, was Sie wollen. Ich verständige die Carabmieri und halte Sie von jetzt an für alle Schäden, die entstehen können, verantwortlich.«

Auf das Ultimatum mit den Carabinieri hin ließ Carlo Daboni räumen, aber – dickschädelig wie ein Maultier – holte er die drei besten Architekten der Stadt, um den Riß im Palazzone zu studieren und um zu beweisen, daß der Bauingenieur der Gemeinde ein Esel war.

Die drei untersuchten den Fall genauestens und stellten nach ihren Berechnungen fest, daß das einzig mögliche, um Ziegel, Balken, Fenster- und Türstöcke zu retten, die Stützung des Gebäudes war.

Daboni bezahlte die Rechnung auf der Stelle und ersuchte die drei, sich davonzuscheren. Es waren drei Unglückselige wie alle anderen, die nicht wußten, wer Lodovico Daboni war und mit welchem Konzept er seine Häuser gebaut hatte. Er erwog nicht einmal den Ratschlag, die Baracke zu stützen. Er suchte vielmehr einen anderen Architekten, und als er mit dem neuen Experten aus der Stadt zurückkam, sah er, daß der Palazzone eingestürzt war und dabei auch Ziegel, Fenster- und Türstöcke vernichtet hatte. Doch er ließ sich nicht unterkriegen:

»Sie machen mir«, sagte er zum Architekten, »während ich dafür sorge, daß der Schutt weggeräumt wird, ein Projekt für das neue Haus und zugleich auch einen genauen Kostenvoranschlag.«

»Sehr gut«, freute sich der Architekt: »Wir werden eine schöne solide Konstruktion errichten, modern und mit allem Komfort. Denn wer neu baut, muß neue Pläne haben.«

»Keine Neuheiten, keine Phantasien«, stellte Carlo Davoni kategorisch fest. »Sie müssen mir ein Haus bauen, das dem Palazzone aufs Haar gleicht. Ich habe noch alle Pläne mit dem Grundriß und den Maßen. Machen Sie es mir identisch und am selben Platz.«

Der Architekt warf einen Blick auf die Pläne, die Daboni ihm besorgt hatte, und versuchte zu retten, was noch zu retten war.

»Da gibt es finstere Räume, falsche Proportionen, versuchen wir wenigstens, die gröbsten Fehler zu vermeiden.«

»Mein Urgroßvater Lodovico hat niemals Fehler gemacht«, entgegnete Daboni: »Alles ist genau richtig, so wie es ist.«

Der Architekt verlor die Geduld und rief:

»Ich würde hoffen, daß Ihr mich wenigstens ein Badezimmer machen laßt!«

»Nicht einmal im Traum«, erwiderte Daboni: »Ich will keine Schweinereien in meinem Haus. Wenn sich jemand baden will, dann läßt er sich den guten alten Kübel bringen. Und wenn jemand aufs Klo muß, dann geht er aus dem Haus und benützt jenes, das alle anständigen Menschen mit dem Kopf auf dem rechten Platz im Hof errichten lassen, im nötigen Abstand zum Wohnhaus. Diese Verrücktheiten mit den Klosetts im Haus soll man den Städtern überlassen.«

Carlo Daboni bekam seinen Palazzone genauso wieder, wie ihn sich der Urgroßvater Lodovico erdacht hatte, und genau am selben Platz. Carlo Daboni war eben so ein Typ, und das war er immer schon gewesen, als wäre auch sein Gehirn vom Urgroßvater Lodovico gezeichnet und konstruiert worden.

Don Camillo kannte ihn ganz genau, und wenn er wieder daran dachte, was Frau Ernestina angestellt hatte, fühlte er, daß die Arme sich keineswegs irrte, wenn sie ihre unschuldige Kinderei eine große Torheit nannte.

»Schon als Mädchen«, hatte Frau Ernestina gesagt, »verspürte ich immer diese Versuchung, und ich hatte stets die Kraft, ihr zu widerstehen. Und jetzt nach vollen fünfundvierzig Jahren und mit vier Kindern…«

In Wirklichkeit war es so, daß, weit mehr als sie selbst, es die anderen waren, die sie die Kraft hatten finden lassen, dieser Versuchung zu widerstehen. Denn Ernestina war bereits mit elf Jahren von ihrer fixen Idee besessen. Sie war ein schönes Mädchen mit kastanienbraunem Haar. Aber sie hörte andauernd Märchen, wo von Feen und Prinzessinnen mit goldenen Haaren die Rede war, und sah ständig irgendwelche Bilder von kleinen Engeln mit goldenen Locken, und so war sie überzeugt, daß es der sehnlichste Wunsch einer Frau sein mußte, blondes Haar zu haben.

Und als sie als junges Mädchen in der Stadt lebte und dort zur Schule ging, war sie immer mehr von diesem Gedanken besessen, denn sie lernte endlich das Kino und die Illustrierten kennen. Das Verlangen nach den blonden Haaren verfolgte sie immer mehr, und mit siebzehn fand sie nach langen qualvollen inneren Kämpfen eines Tages den Mut, ihrer Mutter zu sagen: »Ich würde mir gern die Haare färben lassen.«

Die Mutter blickte sie bestürzt an und erwiderte ihr, daß sie es nicht wagen sollte, an so eine Torheit auch nur zu denken. Dann sprach sie ihr strenges Urteil über die Frauen aus, die sich das Gesicht anmalen und die Haare färben.

Mit achtzehn wagte Ernestina mit mehr Entschlossenheit denn je einen neuen Vorstoß, so daß die Mutter, die ihre Tochter so resolut sah, den Mann zu Hilfe rief. Ernestinas Papa sah seine Tochter an, als handelte es sich um eine Frau, die drauf und dran war, in den Schlund der Verderbnis zu schlittern. Er ließ sie nicht mehr in die Stadt und hielt sie zu Hause strengstens überwacht. Dann sagte er hie und da mit finsterem Ton, um sie daran zu erinnern, wie fest er entschlossen war, sie auf dem Weg der Ehrbarkeit zu halten: »Ernestina, gib acht: Wenn ich bemerke, daß du noch daran denkst, jene Dummheit zu begehen, dann nehme ich den Haarschneider und schere dir den Kopf ratzekahl!«

Und er war dazu und zu noch Schlimmerem fähig, aber Ernestina träumte weiterhin davon, sich die Haare zu färben, trotz dieser Damoklesschere über ihrem Haupt. Und da sie bemerkte, daß sie zu Haus niemals ihren Traum hätte verwirklichen können, dachte sie daran, durch eine Heirat auszubrechen.

Sie war schon seit einiger Zeit mit Carlo Daboni verlobt und gab ihm zu verstehen, daß ihr das Leben daheim unerträglich geworden war und daß sie sehr gut heiraten könnten, auch wenn sie beide erst einundzwanzig waren. Sie heirateten, und nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise, als sie sich im Palazzone niederließen, schoß die selbstsichere Ernestina los:

»Carlo, seit Jahren träume ich davon, mir die Haare zu färben…« begann sie.

Sie kam nicht zum Ende, denn Carlo sah sie mit einem Blick voller Abscheu an und sagte mit einer plötzlich finster und drohend klingenden Stimme:

»Wehe dir, Ernestina!«

Sie versuchte es nochmals, als sie das erste Kind bekam. Die Glückseligkeit des Mannes ausnutzend, sagte sie:

»Carlo, sobald ich aufstehen kann, gehe ich in die Stadt und laß mir die Haare färben.«

Diesmal konnte ihr der Mann nicht mit solcher Gewalttätigkeit entgegnen:

»Ernestina«, erklärte er ihr, »hält’s, wie du willst. Aber mich siehst du einfach nie wieder.«

Es vergingen einige weitere Jahre, das zweite Kind wurde geboren, und weil Ernestina eine Menge wichtiger Dinge zu besorgen hatte, fand sie eine gute Weile lang nicht mehr die Zeit, an die blonden Haare zu denken. Aber die Gelegenheit kam wieder, und da antwortete ihr Mann mit Schreien, die auch draußen vor dem Haus vernehmbar waren. Mit neunundzwanzig hatte die Ernestina bereits vier Kinder und führte sich als beispielhafte Mutter auf: Aber der Gedanke an die blonden Haare verließ sie niemals. Und hie und da tauchte er wieder an der Oberfläche auf:

»Ich verlange nichts, ich begnüge mich, immer hier im Haus zu sein, und ich mache mir nichts aus Vergnügungen und Schmuck. Es gibt nur eines, was ich unbedingt möchte, und das verweigerst du mir! Das ist schiere Bosheit!«

In solchen Augenblicken wurde Carlo Daboni wütend, und es kam zu schrecklichen Szenen, die den Palazzone eine Woche lang in Aufruhr versetzten.

Mit vierzig hatte Ernestina einen siebzehnjährigen und danach einen fünfzehnjährigen Sohn, ein Mädchen mit dreizehn und einen Jungen mit elf Jahren. Vier Kinder, die alles genau verstanden, was im Hause geredet wurde, und die jedem Wink der Eltern folgten. Vier Kinder, die ihre Mutter verehrten, ihren Vater überaus liebten und die glücklich zu Hause lebten. Außer in den Momenten, wo die verdammte Angelegenheit der blonden Haare auftauchte. Beim ersten Anzeichen sperrten sie da die erschrockenen Augen weit auf und erwarteten den Sturm, dessen Ausbruch unvermeidlich war. Dem Vater gelang es zwar immer, sich zurückzuhalten, aber die Kinder begriffen, daß die Sache mit jedem Mal gefährlicher wurde. Die letzte Szene gab es, als Ernestina zweiundvierzig war.

»Genug«, sagte Ernestina in herausforderndem Ton, »morgen gehe ich in die Stadt und tue, was ich tun muß. Bis zum heutigen Tag habe ich wie eine Sklavin gelebt, ohne die Kraft, mich aufzulehnen. Aber morgen werde ich sie finden.«

Carlo Daboni brüllte, und sein ältester Sohn dachte mit Schrecken: »Herr Jesus, was mach ich bloß, wenn mein Vater an meine Mutter Hand anlegt?«

Er versuchte, die Mutter mit einem flehenden Blick zu bremsen, aber Ernestina war wie entfesselt.

»Morgen gehe ich einfach dahin, und niemand wird mich aufhalten können«, wiederholte sie: »Bevor ich sterbe, will ich diese Genugtuung.«

Ihr Mann antwortete mit fürchterlichem Gebrüll. Er zerschlug alle Teller, die auf dem Tisch waren, und biß sich in die Hände. Aber Ernestina gab nicht nach:

»Morgen gehe ich, und wenn die Welt zusammenstürzt.«

Der Mann lief weg, aber bevor er hinausging, drehte er sich zu seiner Frau um:

»Sieh dich vor!« sagte er zu ihr. Und er sagte es in einem Tonfall, der den Kindern einen eisigen Schauer über den Rücken jagte.

Carlo Daboni blieb eine Woche lang von zu Hause fort, und als er zurückkehrte, hatte Ernestina das Haar, das sie immer trug. Sobald er das Haus betrat, waren die Haare immer das erste, das er ansah. Und auch dann, als der Sturm sich – wie üblich – legte, ins Haus wiederum Ruhe einkehrte und Ernestina zum sanftesten und liebenswürdigsten Geschöpf der Welt wurde, betrachtete Carlo Daboni weiterhin mißtrauisch das Haar seiner Gattin Ernestina.

Drei Jahre vergingen, und während dieser Zeit wurde nicht mehr von den blonden Haaren gesprochen. Es schien, als hätte Ernestina diese fixe Idee aus ihrem Hirn verbannt. Jeder hat seine kleine Verrücktheiten. Es gibt keinen vernünftigen Mann und keine vernünftige Frau, die nicht ein Rädchen hätten, das ab und zu quietscht. Im Gegenteil, je vernünftiger ein Mann oder eine Frau ist, um so quietschender ist dieses Rädchen, das man einfach haben muß, weil sonst die Vernunft zur Monotonie würde. Es ist die angestimmte Dissonanz, die die Perfektion der Komposition unterstreicht. Und so weiter.

Man redete im Hause Daboni nicht mehr über blondes Haar, und sieh da, auf einmal, ohne jemandem etwas zu sagen, ging Ernestina, fünfundvierzig jährig, eines Morgens in die Stadt und ließ sich die Haare blond färben. Es war nicht das Ergebnis langer Überlegungen, denn sie dachte nicht einmal daran. Als sie daran dachte, war ihr Haar bereits blond. Rötlichblond. Keine auffallende Sache, aber immerhin eine Wahnsinnstat angesichts des Klimas im Hause Daboni.

Ernestina erkannte vollauf die Torheit, die sie begangen hatte, als sie in den Bus einsteigen wollte, der sie nach Hause gebracht hätte. Da fiel ihr ein, daß im Bus sicher Leute aus dem Dorf waren, die es bemerkt hätten. Also steckte sie ihren kleinen Hut in die Handtasche und kaufte sich ein breites schwarzes Tuch, mit dem sie ihren Kopf verhüllte. Damit war sie jedoch nicht zufrieden, und so kehrte sie erst gegen Abend mit einem Taxi nach Hause zurück. Bevor sie in das Dorf kam, stieg sie aus und nahm den Weg quer über die Felder. Als sie den Palazzone sah, erfaßte sie der Schrecken: Sie dachte an Carlo, sie dachte an die Kinder. Sie fühlte sich voller Scham und Angst. Ernestina wartete, aber sie fand nicht den Mut einzutreten. Als es stockdunkel war, sah sie die kleinen Kirchenfenster erhellt und suchte dort Zuflucht. Und hier fand sie endlich die Kraft, Don Camillo ihren Fehler einzugestehen.

»Hochwürden, sehen Sie nicht? Sehen Sie denn gar nichts?«

Don Camillo betrachtete eine Weile die schluchzende Frau Ernestina, dann sagte er:

»Gnädige Frau, auch wenn Ihr Mann Ihre Tat als große Torheit betrachtet, handelt es sich in Wirklichkeit um eine Kinderei. Und die Tatsache, daß Sie so verängstigt sind, beweist, daß Sie diese Dummheit begangen haben, ohne lange darüber nachzudenken.«

Die Frau nickte.

»Aber sagen Sie mir doch«, fuhr Don Camillo fort, »warum ist Ihnen denn so plötzlich, mit fünfundvierzig Jahren, dieser absurde Einfall gekommen?«

Die Frau hob den Kopf:

»Es war heute morgen«, erklärte sie, »ich habe mich im Spiegel betrachtet, und da habe ich plötzlich bemerkt, daß ich graue Haare hatte. Mit einemmal habe ich entdeckt, daß ich alt bin, und da hat mich die Verzweiflung gepackt. Ich wollte nicht, daß es auch die anderen sehen.«

Don Camillo dachte an eine lange Rede voller Weisheit, doch er beschränkte sich darauf, sie bei sich vorzutragen:

»Kehren Sie nach Hause zurück, gnädige Frau«, sagte er nur ganz einfach, »kehren Sie nach Hause zurück und hören Sie auf zu weinen. Sie haben schon genug geheult.«

Ernestina blickte ihn voller Angst an.

»Hochwürden, was wird mit mir geschehen?«

»Ich werde für Sie zum gütigen Gott beten«, sagte Don Camillo ruhig: »Gehen Sie, und haben Sie Vertrauen in Gott.«

Ernestina bekreuzigte sich und entfernte sich zögernden Schrittes.

Sie kam zum Palazzone und hielt inne, bevor sie das Gittertor öffnete. Aber inzwischen wollte sie, daß die ganze Sache so schnell wie möglich vorübergehe. Mit Herzklopfen trat sie ein. Die Kinder saßen noch bei Tisch.

»Und Papa?« erkundigte sich Ernestina, ohne das Tuch vom Kopf zunehmen.

»Er ist noch nicht zurück«, teilte der älteste Sohn mit.

»Ich fühle mich nicht wohl, ich geh ins Bett«, sagte Ernestina: »Den Bus habe ich versäumt, und die Rückkehr war einfach schrecklich.«

Eilig ging sie die Treppe hoch und nahm erst, als sie in ihrem Zimmer war, das schwarze Tuch ab. Unten hatten sie nichts bemerkt. Sie zog sich rasch aus, warf sich ins Bett und löschte sogleich das Licht. Aber sie konnte nicht einschlafen: In wenigen Augenblicken würde Carlo zurückkehren, das Licht andrehen und diesen verdammten blonden Kopf entdecken.

Die Turmuhr schlug. Und dann schlug sie nochmals. Erst nach Mitternacht vernahm sie Carlos Schritte auf der Treppe. Sie hörte Carlo ins Zimmer treten und wartete, daß das Licht anging. Sie hörte auch, wie Carlo den Schalter drehte. Aber das Licht ging nicht an. Zum Glück gab es einen Stromausfall. Carlo zog sich im Dunkeln aus und schlüpfte unter die Decke.

Ernestina blieb so wach liegen und spürte, daß auch Carlo nicht schlief.

Plötzlich kam der Strom wieder, ohne daß die Ernestina Zeit gehabt hätte, ihren Kopf unter die Decke zu stecken. Der Mann und die Frau blickten einander an. Und Carlo sah, daß Ernestina nicht mehr graues, sondern kupferblondes Haar hatte. Und Ernestina sah, daß Carlo nicht mehr einen grauen, sondern einen schwarz gefärbten Schnurrbart trug. Da fingen beide wie zwei Idioten zu weinen an.

»Wer weiß, was die alle dort morgen sagen werden«, seufzte Carlo Daboni.

»Es wird so sein, wie Gott es will«, erwiderte ebenso seufzend Ernestina.

Und Gott wollte, daß die Kinder am nächsten Morgen so taten, als hätten sie nichts bemerkt. Und dann, von Mal zu Mal. von Tag zu Tag, von Woche zu Woche, senkte sich wiederum sanft der Schnee auf Carlos schwarzen Schnurrbart und auf das kupferblonde Haar der Ernestina. Und sie ließen ihn sich dort ruhig niedersenken, fast freudig, als ob Grau die Farbe der Jugend wäre.