Die Musikkapelle

Der Marchese hatte immer schon den Tick mit der Musik gehabt, und so kam ihm, temporibus illis, zu jener Zeit, die Idee zu einer Musikkapelle. Damals war der Marchese keine dreißig Jahre alt, aber er hatte sich schon seit zehn Jahren dort im Palazzone aufgepflanzt, also seitdem der Alte gestorben war und ihm schier endlose Güter vererbte. Der junge Mann, der in der Stadt studiert hatte, ließ vom Studium und vom schönen Leben ab, um sein Land zu überwachen.

Er ließ von allem ab, mit Ausnahme der Klarinette und der Leidenschaft für die Musik. Und so kam ein berühmter Lehrer zwei- bis dreimal in der Woche aus der Stadt, um ihm Stunden zu geben. Eine Sache, die ihm viel Spott einbrachte, doch es war der einzige Luxus, den sich der Marchese gönnte.

Sechs oder sieben Jahre pendelte der Maestro zwischen der Stadt und dem Palazzone hin und her, dann sagte er eines Tages zum Marchese: »Ich kann Ihnen nichts mehr beibringen. Es bleibt Ihnen nichts anderes, als sich einen besseren Lehrer zu suchen.«

»Um den Landwirt zu spielen, genügt mir das«, antwortete der Marchese. Doch er bemerkte sehr bald, daß es ihm nicht genügte. Denn die Klarinette ist zwar ein wunderschönes Instrument, aber in einer Klarinette steckt nun mal nur das drin, was drinnen ist. Aus dem Bauch eines Klaviers fischt man alles, und wenn man es versteht, kommen – drückt man die Tasten eines Klaviers – ganze Opern heraus mit Tenor, Sopran, Baß, Chor und Bühnenbild. Aber jemand, der Klarinette spielt, fühlt sich wie ein Maler, auf dessen Palette es nur das Rot gibt. Zugegeben, man kann ein Bild malen, indem man nur die rote Farbe und ihre Abstufungen verwendet, aber man kann sich nicht allein von Huhn ernähren. Der Marchese fand keinen Ausweg, und nach langem Nachdenken beschloß er, daß es das beste wäre, die Klarinette zu vergessen. Deshalb heiratete er um die Klarinette zu vergessen. Doch waren nicht ganz zwanzig Monate vergangen, als er das Bedürfnis verspürte, die Klarinette wieder hervorzuholen, um die Frau zu vergessen. Das Problem war nicht gelöst, im Gegenteil, es hatte sich verschlimmert. Da kam dem Marchese die Idee, im Ort eine Musikkapelle zu gründen. Der Marchese war ungefähr dreißig, und in jener Gegend war es eine goldene Zeit für Musikkapellen.

Irgend jemand hatte die »Tanzmaschine« erfunden, jene große Konstruktion aus Holz und Leinen, die man noch heute auf mancher Kirchweih sieht, kurzum: das »Festival« – eine riesige viereckige Jahrmarktsbude, leicht zusammenlegbar und leicht transportierbar, bedeckt mit einem weißlichen Tuch, das in der Mitte von hölzernen Stangen sehr hoch gehalten wurde und an den Seiten herabfiel, die von einem Bretterzaun von etwa zweieinhalb Metern abgeschlossen wurden.

Der Boden ist aus Tannenholzbrettern gemacht, die ineinander verkeilt wurden, und die Tanzbude hat auch eine hölzerne Front, die mit Zeichnungen oft allegorischen Inhalts geschmückt ist. Zwei Schalter für die Karten und zwei Türen, wobei auf der einen »Männer« und auf der anderen »Frauen« geschrieben steht.

Das Innere des »Festivals« erweckt sowohl wegen der Täfelung des Bodens und den hohen Masten in der Mitte, um deren untere Enden die Seile gewickelt sind, die dazu dienen, die Dachplane hochzuheben, als auch wegen der weißlichen Dachplane selbst, die wie ein großes Segel aussieht, den Eindruck eines Schiffsdecks.

Und damals gab es, um diese Illusion zu vergrößern, auch die Kommandobrücke, nämlich das Podium, das den ganzen hinteren Teil gegenüber dem Eingang einnahm und auf dem die Kapelle thronte.

Die Musikkapellen jener Zeit waren etwas Außergewöhnliches, und niemand kann sie sich vorstellen, denn wenn man auch sagt, daß sie aus Trompeten, Posaunen, Klarinetten, Flöten, Horn und Kontrabaß bestanden, so hat man rein gar nichts gesagt. Im Gegenteil, man hat gerade die Voraussetzungen geschaffen, um alles falsch zu verstehen. Die Leute grinsen, wenn sie von Dorfkapellen reden hören, weil meistens die Dorfkapellen auf »humorvollen« Ansichtskarten dargestellt werden oder von Fotografen und Filmern, deren Wissen eben auf diesen Ansichtskarten oder bestenfalls auf Liebigs Figuren beruht. Um einen Eindruck von der Sache zu geben, genügt die Geschichte einer Musikkapelle jener Zeit. Eine Geschichte der Bassa: eine jener zahlreichen patriarchalischen Bauernfamilien, in denen der Alte an alles und für alle dachte. Der Alte war schon mit Musik im Kopf geboren, er komponierte Walzer. Mazurken, Polkas, kleine Märsche, dann spielte er sie und brachte sie den anderen in der Familie bei. Denn alle in jenem Haus, ob Kinder, Männer oder Frauen, spielten irgendein Blasinstrument. Sie waren Bauern und schwitzten, um aus dem Boden ihre Nahrung herauszupressen, aber sie beschäftigten sich mit Musik, und dies nicht nur in der toten Saison, wenn es also auf den Feldern nichts zu tun gab. Auch während der Zeit der harten Arbeit kam es vor, daß sich der Alte plötzlich in der Tür zeigte, ins Horn blies und zum Appell rief. Da legten alle ihr Arbeitsgerät nieder, liefen nach Hause, griffen zu den Instrumenten und übten die Kompositionen des Alten. Dann kehrten sie zur Arbeit auf den Feldern zurück.

Das war eine besondere Musikkapelle, versteht sich. Aber auch alle anderen Musikkapellen waren außergewöhnlich. Doch wie kann man das Leuten begreiflich machen, die nicht Walzer tanzen können?

Wenn am Abend im Festzelt die bläulichen Azetylenlämpchen brannten und im Dunkeln die große, von unten beleuchtete Plane aussah, als würde sie in der Luft schweben, da spielte jede Kapelle ihre Einladungsnummer. Die Musikanten stellten sich vor dem Wirtshaus auf und spielten einen Walzer, und zumeist war es der Nachtigallenwalzer. Ein Walzer, der dann plötzlich der Klarinette freie Bahn ließ und ihr eine jener wilden Folgen von hohen Tönen erlaubte, die einen den Atem anhalten lassen.

Aber die Klarinette war nicht mit den anderen Musikinstrumenten dort vor dem Wirtshaus, sie war weit weg plaziert worden, man wußte nicht wohin. Und sieh da. sobald die Blechinstrumente und der Kontrabaß ihre kompakte Aktion beendet hatten und sobald das Kornett einen Augenblick allein blieb und jemanden rief, der sich in der Nacht verbarg, da antwortete die Klarinette vom hohen Kirchturm. Und zuerst kamen ihre Triller herab wie eine dichte Formation von Flugzeugen im Sturzflug. Aber auf halber Höhe angelangt, breitete sich der Klangteppich aus, hinter jedem Ton kam der nächste, und alle Töne glitten schnell in den Himmel und streiften die Schornsteine der Häuser, einmal empor-, dann wieder hinabsteigend und kreisend: ein dünner und leuchtend silbriger Faden, der ein kompliziertes Muster in den schwarzen Samt der Nacht zeichnete und plötzlich erlosch. Doch es blieb eine Furche in der Luft.

Der Marchese hatte es sich in den Kopf gesetzt, im Ort eine Kapelle zu gründen. Keine Kapelle, die in den Festzelten spielen sollte, versteht sich, sondern eine, die am Festtag auf dem Hauptplatz spielen und die Leute ein wenig erfreuen sollte. Schon in seiner Jugend erreichte der Marchese immer, was er erreichen wollte, und das wußten alle, die unter ihm arbeiteten, sehr gut. Er kaufte die Musikinstrumente, gründete eine Musikschule und holte einen Lehrer. Er fand auch Leute, die bereit waren, Stunden ihrer Freizeit zu opfern, indem sie die Tonleitern lernten und in die glitzernden blechernen Dinger bliesen. Der Musiklehrer arbeitete drei Jahre, bis er schwarz wurde, dann verkündete er eines Tages dem Marchese, daß die Kapelle. auch wenn sie nichts Besonderes wäre, ein gefälliges musikalisches Programm auf dem Hauptplatz ehrenhaft bestreiten könnte. Der Marchese, der bis zu diesem Zeitpunkt das Interesse an der Sache verloren zu haben schien, wollte sich die Probe anhören. Er verfolgte sehr aufmerksam die Darbietung und teilte am Ende seine Meinung mit:

»Ihr seid nicht in der Lage, auf einem öffentlichen Platz aufzutreten, höchstens auf einem Misthaufen. Von jetzt an kehrt euer Lehrer in sein Dorf zurück, und ich übernehme die Gesamtleitung. Aufgepaßt, jetzt wird das Stück Nr. 5 wiederholt. Seht zu mir her!«

Alle Mitglieder der Musikkapelle fühlten ihr Herz vergiftet und hätten sehr gern den verdammten Flegel mit Fußtritten bedacht, der so rüpelhaft die drei für sie und ihren armen Lehrer so mühevollen Jahre ihres Lebens mit Verachtung gestraft hatte. Sie blätterten zähnefletschend in ihren Noten herum und begannen dann das Stück Nr. 5.

An einer bestimmten Stelle sah das Stück Nr. 5 ein Klarinettensolo vor, doch als er an der Reihe war, verhaspelte sich der Klarinettist. Der Marchese hielt den Laden an.

»Von morgen an lernst du Kontrabaß«, sagte der Marchese dem unglückseligen Klarinettisten: »Du hingegen überläßt den Kontrabaß ihm und kümmerst dich um die Reinigung der Vereinsräume«, sagte er unumstößlich zum Kontrabassisten. Daraufhin ließ er sich ein Päckchen bringen, das er in seiner Kutsche gelassen hatte, und darin war seine Klarinette. Nachdem er sie aus der Hülle herausgezogen hatte, gab er die Anordnung, mit dem Stück Nr. 5 von vorne zu beginnen.

Alle wußten, daß der Marchese auf die Klarinette fixiert war. Da aber der Palazzone abgeschieden inmitten der Felder lag und der Marchese, wenn er spielen wollte, sich in das entfernteste Zimmer des Gebäudes einschloß, so hatte niemand eine Vorstellung davon, um was es sich dabei tatsächlich handelte.

Und die Kapellenmitglieder sahen einander an, und jeder Blick sagte: »Wenn dieser Unglückselige patzt, dann platze ich vor Freude.«

Das Stück Nr. 5 wurde wieder von vorn begonnen, und es kam der fatale Augenblick des Solos. Während der ersten Takte hielt sich der Marchese an die vorgegebene Musik, dann verlor er die Geduld und begann so schwierige und ausgefallene Variationen zu improvisieren, daß dann, als er sich wieder an das Stück Nr. 5 erinnerte, wieder in dessen Notenbahn einbog und das Zeichen zum Einsatz gab, ihn alle mit weit geöffnetem Mund anstarrten. Das Männlein am Kontrabaß ließ von seinem Musikkasten ab, reichte ihn dem ehemaligen Klarinettisten und ging auf die Suche nach einem Besen. Während der arme bisherige Lehrer eilig verschwand und sich nicht einmal umdrehte.

Der Marchese zeigte sich auch in der Folgezeit wirklich nicht von seiner freundlichen Seite, doch schließlich, nachdem Monate und Monate gebüffelt worden war, daß ihnen die Luft wegblieb, stellte sich die Musikkapelle zum ersten Mal auf dem Hauptplatz vor, und es war ein bedeutendes Ereignis. An jenem Tag spielte der Marchese nicht, denn die Marchesa hatte ihm klipp und klar gesagt, daß sie ihn, wenn er sich vor dem Publikum blamieren sollte, für immer verlassen würde.

Und auch am zweiten und dritten Sonntag erschien er nicht auf dem Hauptplatz. Aber am Tag der Kirchweih, als die Kapelle auf dem Podium die Instrumente einstimmte, sah man die Kutsche des Marchese vorfahren: In der Kutsche des Marchese saß der Marchese, und der Marchese hatte die Klarinette bei sich. Inzwischen reiste die Marchesa in Richtung Stadt.

Sie kehrte ein Jahr später zurück, als sie sich überzeugt hatte, daß ihr Gatte eher auf sie als auf die Klarinette verzichtet hätte. Im Grunde war das ein Glück, denn der Marchese fand soviel Freude dabei, daß er glaubte, vom Schöpfer mit besonderen Gaben bedacht worden zu sein, und jene Art von symphonischer Dichtung komponierte, die dann so etwas wie eine Dorfhymne wurde. Sie trug den Titel »Das Lied des Po« und beschrieb den großen Fluß von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Aber eigentlich begann die Beschreibung mit dem Mittag, und das hatte der Marchese richtig bedacht, weil am Morgen ein Fluß nichts zählt und es so ist, als ob er nicht da wäre. Der Fluß ist etwas, das zu Mittag beginnt, wenn die Sonne die Steine glühen läßt und die Hühner den Glocken antworten, welche die Leute von den Feldern in die dunklen und kühlen Häuser zurückgerufen haben. Da beginnt der große Fluß zu existieren, weil er die Einsamkeit braucht und die Stimmen ihn stören. Die Komposition geht vom Mittag aus und beschreibt die majestätische Ruhe der sommerlichen Nachmittage. Dann der Sonnenuntergang: Der Himmel färbt sich rot, und der Fluß hat die Farbe des Himmels. Wäre nicht der dunkle Strich der Uferböschung und der Pappeln, dann wären Fluß und Himmel eins. Die Musik wurde immer feierlicher und dichter. Dann, nachdem die Sonne versunken ist – plötzlich verhaltener und melancholischer. Es ist immer kühl am Abend am Ufer eines großen Flusses, immer kühl, auch wenn das Wetter warm ist.

Hernach singt der Mond seine lange Serenade voller Sehnsucht auf dem Wasser. Und dann folgt eine kleine Pause, weil die Nacht zu Ende ist und ein neuer Tag beginnt. Das Kornett wirft das Kikeriki des Hahns in die Luft. Die Sonne geht bald auf.

Auf dem ruhigen Wasser des großen Flusses gleitet noch, wie ein Schleier des Schlafs, der leichte azurblaue Nebel der Nacht. Dann streckt die Sonne den Kopf hinter dem fernen Pappelzaun hervor und beginnt, golden glänzende Strohhalme aufs Wasser zuwerfen.

Da steigt mitten in einer Wiese die Lerche auf und fliegt hoch in den Himmel, während sie eine Furche ihrer Trillertöne hinter sich zurückläßt. Und das ist der große Augenblick der Klarinette, die sich vom Nebel der Blechbläser befreit und eine lange Notensalve gen Himmel schleudert und die, als sie die Spitze des Pentagramms erreicht, sich dort aufhält, um die allerletzte Note nachklingen zu lassen. Aus der Tiefe setzen die Blechinstrumente massiv ein mit einem Crescendo, das wie der Triumphmarsch aus der »Aida« klingt, aber eigentlich die Hymne des Flusses ist.

Im Dorf gefiel die Sache außerordentlich, und »Das Lied des Po« war das Pflichtstück jedes Konzerts. Den Marchese mochte zwar niemand recht, doch wenn er zum Triller der Lerche kam, wurde er allen sympathisch. Und zumindest, solange er Notensalven gegen den Himmel schoß, verzieh man ihm alles. Auch die Tatsache, daß er ein großer Landbesitzer war und ein Typ, dem man unmöglich ein X für ein U vormachen konnte.

Die Kapelle spielte Jahre und Jahrzehnte, und der Marchese hielt sie stets zusammen. Wenn ein Mitglied verlorenging, zog man ein anderes heran. Durch den Ersten Weltkrieg aufgelöst, formierte sich die Kapelle im Jahr 1920 wieder und machte bis zum Zweiten Weltkrieg weiter. Jedesmal, wenn die Kapelle im großen Saal des Dorfes probte, erschien der Marchese in seinem Auto. Der Fahrer öffnete ihm die Tür und folgte ihm dann mit der verpackten Klarinette in der Hand.

Dann rief der Krieg die Leute zu den Waffen und brachte die Autos zum Stehen. Die Musikkapelle löste sich auf, denn es war eine Zeit, wo eine ganz andere Musik gespielt wurde.

Nach Kriegsende, so etwa im Juli 1945, sah der Marchese einige Rechnungen durch, und man sagte ihm, daß Leute von der Musikkapelle vor der Tür stünden. Er ließ sie hereinkommen und sah sich zwei Alten und dem Falchetto gegenüber, einem Geschöpf von zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren mit einem Schurkengesicht und einem roten Halstuch.

»Wir haben beschlossen, die Musikkapelle wieder aufzubauen«, erklärte Falchetto dem alten Marchese, »und wir sind gekommen, unsere alten Musikinstrumente zu holen.«

»Gerade du nicht«, entgegnete der alte Marchese ruhig, »denn mir ist noch nie aufgefallen, daß du Mitglied der Kapelle gewesen wärst.«

Falchetto grinste:

»Zwangsläufig habe ich nie Mitglied der Musikkapelle sein können. Ich spiele die Klarinette, und dem Herrn Marchese hat es stets mißfallen, Konkurrenten zu haben.«

Der alte Marchese schärfte seinen Blick:

»Ach ja«, sagte er, »jetzt erinnere ich mich. Du mußt jener aufgeblasene Junge sein, der die Okarina oder solches Zeug gespielt hat.«

»Es macht keinen Sinn, daß Ihr den Geistreichen spielt«, erwiderte Falchetto. »Und außerdem sind wir nicht hierhergekommen, um zu diskutieren. Gebt uns unsere Instrumente wieder, und dann>Gute Nacht<.«

»Die Musikinstrumente gehören mir, weil ich sie bezahlt habe«, entgegnete der Marchese, »doch wie dem auch sei, nehmt sie euch und geht zum Teufel.«

Die Musikinstrumente waren überall in einem Zimmer voller alter Möbel und Krimskrams verstreut. Falchetto und die anderen beiden sammelten sie ein und trugen sie, jedesmal eine Handvoll, dort hinaus, wo sie den kleinen Lastwagen stehengelassen hatten. Sie holten auch alle Musiknoten hervor. Das Zeug bildete riesige Bündel.

»Es ist besser, ihr betrachtet es als Altpapier«, brummte der Marchese, »denn das ist Zeug, das viel zu schwer für euch zu lesen ist.«

»Das ist unsere Angelegenheit«, antwortete Falchetto.

Nachdem sie alles hervorgeholt hatten, schauten sie sich noch einmal um.

»Ah, da ist auch noch das da«, sagte Falchetto und ging zu der Truhe, auf der ein schwarzes Etui lag. Doch der alte Marchese stellte sich ihm in den Weg:

»Das geht dich nichts an und wird dich niemals etwas angehen«, erklärte er, »das ist meine Klarinette.«

Falchetto wollte eigentlich noch etwas sagen, doch dann überlegte er es sich und kehrte um. Als er die drei in den kleinen Lastwagen einsteigen sah, zeigte sich der Marchese in der Tür:

»He, du Schwarzkopf!« schrie er Falchetto nach, »du mußt wissen, daß diese schwarzen Dinger Noten sind!«

Es dauerte drei Monate, bis die Musikkapelle wieder auf die Beine gestellt war. Als sie fertig war, kündigte Falchetto als ihr Dirigent und Chef an:

»Also, alle einverstanden: Heute abend bringen wir dem Marchese eine Serenade!«

Gegen elf Uhr am Abend hielt der Lastwagen mit der Kapelle vor dem Gittertor des Palazzone an und stimmte sogleich »Bandiera rossa« an. Und sie spielten »Bandiera rossa« so lange, bis den Mannen die Luft ausblieb.

Der alte Marchese steckte das wortlos ein. Denn das waren nicht die geeigneten Augenblicke, um sich nachts am Fenster zu zeigen.

Vor dem Weggehen schrie Falchetto:

»Das ist die Ouvertüre! Der Rest später, wenn der Augenblick dafür gekommen ist!«

Der Marchese sah Falchetto zwei Jahre später wieder, während des Landarbeiterstreiks. Der Marchese stand da, mit dem Heu auf den Feldern und den verlassenen Tieren im Stall, weil die Knechte verdammt Angst hatten. Also hatte er aus der Stadt eine Mannschaft mit unorganisierten Arbeitern kommen lassen, und da er allein war, folgte er mit der Doppelflinte unterm Arm den Männern auf die Felder, um sie vor üblen Streichen der Streikenden zu verteidigen.

Und dann kam so eine Streiktruppe, angeführt von Falchetto. Der Marchese war schon alt, aber er war so entschlossen, wie er es mit Dreißig gewesen war. Falchetto, der voller Dreistigkeit hervorgetreten war, blieb stehen, als er sah, wie der Marchese die Flinte lud.

»Schickt diese Unglückseligen fort, oder hier geschieht ein Gemetzel!« schrie Falchetto.

»Das kann schon sein«, antwortete der Alte ruhig, »aber wenn deine Leute nicht umkehren und weggehen, dann geht es dir an den Kragen. Du bleibst dort stehen, wo du bist, und die anderen gehen nach Hause!«

Falchetto erblaßte. Mit dem alten Marchese war nicht zu scherzen. Er gab den anderen ein Zeichen, daß sie sich entfernen sollten, und nur er blieb, um finster in die schwarzen Augen der Doppelflinte des Marchese zu blicken. Als der Marchese den kleinen Lastwagen der Polizei kommen hörte, ließ er Falchetto gehen.

»Du bist ein tölpelhafter Revolutionär, so, wie du ein tölpelhafter Klarinettenbläser bist«, sagte ihm der Marchese zum Gruß. »Bleib von meinem Haus fern, denn ich bin fähig, dich die Tonleiter von deprofundis spielen zu lassen.«

Die Polizei mußte den Palazzone längere Zeit bewachen, denn die Roten waren wütend auf den Marchese, und auch als der Sturm vorüber war, gab es für den Alten noch schlimme Tage. Aber der Marchese blieb auf seinem Posten:

»Wenn es Zeit ist zu krepieren, krepiere ich«, sagte er. »Aber ich krepiere hier, wo ich geboren bin.«

Inzwischen hatte er nicht mehr die Luft, um seine Klarinette zu blasen, aber die Symphonie des Flusses trug er weiterhin in seinem Herzen, und der Fluß sang sie ihm jeden Tag und jede Nacht.

Es vergingen weitere Jahre, und eines Tages ging die Nachricht durch das Dorf, daß der alte Marchese gestorben war.

»Dieses verdammte Schwein ist mir entwischt!« rief Falchetto, als er es erfuhr. Er war giftig aufgeblasen und fühlte, daß er den toten Marchese noch mehr als den lebenden haßte.

Und sieh da, ein gutgekleideter Herr kam in Falchettos Haus und legte ihm ein Päckchen mit großen Lacksiegeln in die Hände.

»Bevor er starb«, erklärte der Mann, »mußte ich dem Marchese versprechen, Ihnen persönlich das hier zu überbringen.«

Der Falchetto zerriß die Verpackung und hielt die berühmte Klarinette in den Händen.

»Ich begreife nicht«, stotterte Falchetto.

»Ich noch weniger als Sie«, erwiderte der Mann.>»Das hier bringen Sie persönlich jenem jungen Mann, den man Falchetto nennte, hat der Marchese gesagt. Und ich konnte ihn gewiß nicht um nähere Auskünfte fragen, denn er lag bereits im Sterben.«

Falchetto drehte die Klarinette in seinen Händen und suchte sie nach einem Zettel ab. Er fand nichts. Dann versuchte er, die zerrissene Verpackung wieder zusammenzufügen.

»Das Päckchen habe ich gemacht, und den Siegellack habe ich in Gegenwart von Zeugen angebracht«, erklärte der Mann. »Ich bin der Notar.«

Falchetto schloß sich auf dem Dachboden ein, denn er wollte das Phänomen in Ruhe überdenken. Der Marchese, der ihn einen Okarinaspieler genannt und ihm dann die Doppelflinte auf die Brust gerichtet hatte, dieser verdammte Alte, der ihn schrecklich hassen mußte, er hatte die Kraft, zwei Minuten bevor er krepierte, an ihn zu denken, an Falchetto, und hinterließ ihm als Erbschaft seine Klarinette. Verdrehte Welt, was bedeutete diese Geschichte? Was wollte der alte Mann von ihm?

Die Klarinette lag da, klar und rein wie ein Juwel. Sie war ein herrliches Instrument, ein wertvolles Stück. Falchetto versuchte das Musikinstrument an den Mund zu führen, und es kam ein Triller heraus, der ihm einen Schauer über den Rücken jagte.

Um vom Dorf zum Palazzone zu gelangen, mußte man den Weg über den Uferdamm gehen, und so machte der Marchese seine letzte Reise ein gutes Stück lang in Begleitung des Flusses.

Don Camillo, der Psalmen singend dem Leichenwagen vorausging, sah, als er auf der Höhe des Waldes von Cabianca war, etwas zu Füßen des Damms glitzern. Es war die Musikkapelle, die da wartete, und als der Wagen vorbeikam, gab Falchetto ein Zeichen.

Don Camillo ließ den Leichenzug anhalten und wartete, ebenfalls ohne sich zu rühren. Hinter dem Damm stiegen allmählich Noten auf: »Das Lied des Po«, Mittag, sonniger und regungsloser Nachmittag, Abend, Nacht mit sehnsuchtsvoller Mondserenade. Das Krähen des Hahns, die Morgendämmerung und dann die Notensalven der Lerche.

Und es lag in dieser Klarinette, die zu Füßen des Damms spielte, die ganze schwarze Seele des Marchese, die ganze schwarze Seele des Falchetto und die ganze schwarze Seele all dieser verdammten Leute, die da leben auf diesem Stück Land zwischen dem Berg und dem Fluß. Die Lerche stieg schnurstracks in den Himmel und ließ eine Spur hoher Töne zurück wie einen dünnen silbrigen Faden. Und als sie zur letzten Note kam, hielt sie inne und ließ sie nachklingen.

Dann gab das Kornett von unten Alarm, und Trompeten und Posaunen brachen ungehemmt los: kraftvoll, hochherzig, bewegt erhob sich die triumphale Hymne des Flusses. Und es schien, als ob Giuseppe Verdi persönlich auf jenem Damm die Musikkapelle dirigierte mit den Gesichtsfalten und den üblichen ungelenken Grimassen der Leute, die ein Herz haben, das so groß ist wie diese unsere kleine Welt.

»Gut«, sagte die Seele des Marchese, und der Wagen fuhr seinen Weg weiter.