Tragödie
Im Herbst, wenn es regnet, sind die Dörfer am Ufer des Flusses alle schon tot und begraben, und wenn man die Nase aus der Tür herausstreckt, ist es, als ob man auf einen Friedhof schaut. Und wenn man plötzlich einen verzweifelten Schrei von der Straße her hört, dann verschließen die Leute, die noch wach sind, die Fensterläden, und diejenigen, die schon im Bett liegen, stecken den Kopf unter das Kissen.
Don Camillo las gerade einen dicken Sammelband mit alten Nummern der »Domenica del Corriere« voller Zugunglücke, Feuersbrünste und Überschwemmungen, als er ein Kratzen an der Jalousie hörte. Als er sich näherte, vernahm er ein leises Rufen. Er öffnete, und in einem regendurchweichten Mantel und bis zu den Knien voller Schmutz erschien Peppone.
»Was zum Teufel ist denn los mit dir?«
»Ich habe Angst, jemanden umgebracht zu haben.«
»Jemanden was?«
»Einen Mann. Wenn ich Angst hätte, ein Pferd umgebracht zu haben, dann würde ich zum Tierarzt, nicht zum Priester gehen.«
»In solchen Fällen wäre es besser, man ginge zum Wachtmeister der Carabinieri. Aber wie dem auch sei, rede!«
Peppone schob das Haar zurück, das ihm der Regen an die Stirn geklebt hatte:
»Da gibt’s nicht viel zu sagen«, murmelte er, »ich ging gerade nach Hause und überquerte das Borghetto, als ich auf vier Typen stieß, die dabei waren, die Plakate herunterzureißen, die ich heute früh habe aufkleben lassen. Da habe ich ihnen gesagt, was gesagt werden mußte, und so sind alle vier auf mich losgegangen.«
»Peppone«, unterbrach ihn Don Camillo streng, »hier stehst du nicht vor Gericht, hier stehst du vor einem Beichtvater.«
»Also«, fuhr Peppone fort, »mir sind ein paar Ohrfeigen entschlüpft, und die sind zu viert auf mich los. Dann habe ich mich, da ich einen Prügel zur Hand hatte, verteidigt, und drei sind davongelaufen, während einer der Länge nach hingestreckt am Boden blieb. Ich habe versucht, ihn hochzuziehen, aber ich hörte sein Herz nicht mehr schlagen und habe ihn wieder hingelegt. Weil dann Leute vorbeikamen, bin ich davongerannt. Ich habe eine weite Runde durch die Felder gemacht, und dann bin ich hierhergekommen.«
Don Camillo schüttelte den Kopf.
»Schlimme Sache, Herr Bürgermeister.«
»Es ist nicht meine Schuld: Sie haben die Plakate heruntergerissen, nicht ich.«
»Aber du hast sie verdroschen. Es hätte genügt, daß du einen am Kragen gepackt und ihn dann zu den Carabinieri gebracht hättest!«
Peppone zuckte die Achseln. »Das sind wohl gerade die Augenblicke, in denen man an die Carabinieri denkt!«
»Es hätte einfach genügt, sich daran zu erinnern, daß man ein Christ ist.«
»Wenn es um Politik geht, dann vergißt man sogar, daß man ein Christ ist. Meint Ihr, er ist tot?«
»Meiner Meinung nach ist er, wenn sein Herz nicht mehr geschlagen hat, tot. Jedenfalls wird man es bald erfahren.«
Peppone breitete die Arme aus.
»Und nun, was mache ich?«
Don Camillo legte ihm den Finger unter die Nase.
»Das hättest du mich früher fragen müssen, nicht jetzt, wo du ihm schon den Prügel über den Kopf gezogen hast. Jetzt bleibt dir nur die Reue für dein begangenes Verbrechen.«
»Verbrechen! Ich habe keinerlei Verbrechen begangen! Ich bin doch kein Gauner! Ich bin ein Ehrenmann.«
»Na also, da du ein Ehrenmann bist, hast du ein ruhiges Gewissen. Dann brauchst du nicht einmal zu bereuen. Du hast recht. Unrecht hat, wer das fünfte Gebot erfunden hat.«
Peppone hob den Blick.
»Ich dachte, Ihr wärt menschlicher«, sagte er, »christlicher.«
Da ärgerte sich Don Camillo.
»Und wie kann ein Mensch verlangen, Verständnis und Trost zu finden, der einen anderen Menschen umbringt und nicht einmal einsehen will, daß er ein Verbrechen begangen hat?«
»Wenn ich ihn hätte umbringen wollen, dann hätte ich ein Verbrechen begangen. Es war der Prügel, der ihn getötet hat, nicht ich. Das Gesetz kann mir vielleicht sagen, daß ich ihn umgebracht habe. Aber mein Gewissen nicht. Und dann ist nicht gesagt, daß ich ihn getötet habe! Warum wollt Ihr unbedingt, daß ich ihn getötet habe? Wenn Ihr ein Priester und Ehrenmann wärt, dann müßtet Ihr zu Gott beten, daß er nicht tot ist!«
Don Camillo seufzte.
»Ich kann einfach nur hoffen, daß er nicht tot ist. Und ich kann Gott bitten, daß er jenen Unglückseligen, falls er noch nicht tot ist, am Leben hält.«
Peppone ging zur Tür. Dann drehte er sich um.
»Wohin gehe ich?« fragte er. »Die anderen drei haben mich sicherlich erkannt. Wenn ich hinausgehe, verhaften sie mich. Sie werden mich zu Hause holen, vor meiner Frau und meinem Sohn. Ich kann mich bei niemandem verstecken und kann niemandem trauen.«
Peppone sah mitleiderregend aus, so durchnäßt und voller Schmutz, wie er war.
»Peppone«, sagte Don Camillo sanft zu ihm, »du willst wohl nicht, daß ich dich verstecke? Ich kann der Justiz einen Mörder nicht entziehen.«
»Und wenn er nicht gestorben ist? Wenn wir erfahren, daß er tot ist, gehe ich von selbst; inzwischen haben wir Zeit, um zu reden. Wenn sie mich jetzt verhaften, gehe ich ins Kittchen, ohne etwas begriffen zu haben. Das wichtigste aber ist, die Dinge zu verstehen. Wenn jemand begriffen hat, dann kümmert ihn nichts, auch wenn sie ihn aufhängen. Ich habe im Kino eine historische Anekdote gesehen, wo einer mit dem Priester geredet hat und dann lächelnd zu seiner Erschießung ging. Weil er verstanden hatte. Ich verstehe jetzt nichts. Wenn die Carabinieri mich jetzt verhaften kommen, hole ich vielleicht das MG hervor und schieße. Wer weiß schon, was ich tun werde?«
Don Camillo zündete eine Kerze an.
»Zieh dir die Schuhe aus und komm herauf, ohne Lärm zu machen«, sagte er. Auf dem Dachboden gab es ein kleines Zimmer mit einem kleinen Feldbett.
»Mir fällt ein, wie Ihr mich damals versteckt habt, als mich die Deutschen suchten. Und wenn jetzt auch dieses oder jenes ein wenig anders ist, so leben wir alles in allem noch immer unter den Deutschen!«
»Die Situation ist jetzt anders: Damals hast du für eine gerechte Sache gekämpft.«
»Und jetzt etwa nicht? Wenn ich nicht sicher wäre, für eine gerechte Sache zu arbeiten, glaubt Ihr vielleicht, daß ich dann nachts im strömenden Regen herumlaufen würde, um zu entdecken, wer die Schurken sind, die meine Plakate herunterreißen?«
Don Camillo packte ihn am Kragen.
»Du verstockter Krimineller! Wenn du vor das Gericht Gottes treten wirst, dann wirst du keinen Don Camillo finden, der dich auf dem Dachboden versteckt!«
Don Camillo zeigte sich am nächsten Tag gegen Mittag wieder auf dem Dachboden.
»Und nun?« fragte Peppone, der hochsprang und sich aufs Bett setzte. Don Camillo legte eine Flasche und einige Schüsseln auf den Stuhl.
»Schädelbasisbruch, Gehirnerschütterung. Sie sagen, es war ein Schlag mit einer Eisenstange.«
»Das ist nicht wahr!« protestierte Peppone. »Das sind die üblichen Schurken, die die abscheulichsten Infamien gegen uns erfinden.«
»Eisen oder Holz – Tatsache ist, daß jener Unglückselige noch immer bewußtlos ist.«
»Suchen sie mich?«
»Das versteht sich, daß sie dich suchen.«
Peppone warf sich wieder auf das kleine Bett hin.
»Verdammte Politik«, rief Peppone.
Der Abend kam, und Don Camillo erschien mit anderen kleinen Töpfen.
»Und?«
»Man hofft, daß er die Nacht überlebt. Der Arzt garantiert jedoch nicht, daß er es bis morgen mittag schafft. Sie befürchten eine innere Blutung. – Hast du nichts gegessen?«
»Ich denke vielleicht an nichts anderes als ans Essen!« rief Peppone. »Und für mich gibt’s nichts Neues?«
»Sie haben dich zu Hause gesucht und von oben bis unten alles durchstöbert. Deine Frau haben sie zwei Stunden lang ausgefragt. Sie hat nichts gesagt, weil sie nicht weiß, wo du bist.«
Peppone blickte zu Don Camillo, als ob er ihn etwas fragen wollte. Dann senkte er den Blick wieder.
»Nein, sie haben nichts gefunden«, sagte Don Camillo und betonte das »nichts«, »aber du wirst sehen, sie finden schon noch was. Ich glaube, daß sie nur auf diese Gelegenheit gewartet haben, um einen Blick ins Haus des Bürgermeisters werfen zu können.«
»Ich habe nichts, was schlecht versteckt ist!« rief Peppone.
»Das sind deine Angelegenheiten. Ich sage dir das, weil, wenn sie etwas finden, deine Frau mit drinhängt. Nicht, daß mir das leid täte, aber es ist wegen deines unglückseligen Kindes. Trink, das wird dich aufmuntern.«
Don Camillo ging hinaus, und zwei Stunden später, als er hinaufstieg, um ins Bett zu gehen, hörte er Peppone, der von der letzten Geländersprosse herunterrief.
»Du bist ein Idiot!« sagte Don Camillo zu ihm, als er in der kleinen Kammer war, »du darfst nie aus deiner Höhle heraus, oder es nimmt ein schlimmes Ende!«
»Was hat meine Frau damit zu tun?« fragte Peppone, »sie können sie doch nicht mit hineinziehen.«
»Gut«, bemerkte Don Camillo, »dann kannst du ruhig schlafen. Gute Nacht.«
»Don Camillo.«
»Was gibt’s?«
»Hinten in der Werkstatt sind zwei Fässer mit Schmieröl und mit einem kleinen roten Zeichen auf dem Verschluß. Man müßte sie zum Damm hinrollen und dann in den Fluß werfen.«
»Und wieso?«
»Es ist Öl von, sagen wir, nicht sehr gesetzlicher Herkunft. Ich werde es Euch später erklären«
»Versuchen wir es«, brummte Don Camillo. »Wenn aber das Haus umstellt ist, dann fange ich gar nicht damit an. Du sollst wissen, daß das, was du mich machen läßt, eine große Schweinerei ist. Ich tu es, um einem unglückseligen Kind zu ersparen, daß es verlassen in der Gosse endet. Gott möge mir verzeihen.«
Don Camillo erschien erst am Abend des zweiten Tages wieder und fand Peppone sehr aufgeregt vor.
»Ich war bis jetzt dort. Ich hab ihm die Letzte Ölung gegeben. Wenn er es bis morgen früh schafft, dann ist es ein Wunder.«
Peppone nahm den Kopf zwischen seine Hände.
»Wegen der Fässer war nichts zu machen«, erklärte Don Camillo, »das Haus ist Tag und Nacht überwacht. Ich hab deine Frau gesehen.«
»Was sagt sie?«
»Daß man, wenn man Kinder hat, nicht den Kopf verlieren darf wegen der Politik.«
»Und das Kind?«
»Sitzt dauernd auf der Brücke und wartet, daß du zurückkommst.«
Peppone stand auf.
»Ich gehe!« sagte er entschlossen.
»Gut: Die Carabinieri erwarten dich sehnsüchtig.«
Peppone setzte sich wieder.
»Don Camillo, ist das der Trost, den Ihr mir zu geben wißt?«
Peppone konnte einem wirklich leid tun. Er hatte nichts gegessen, und er hatte ein zerschlagenes Gesicht und todmüde Augen. Don Camillo rührte das aber gar nicht.
»Die Kirche ist kein Automat, wo man drei Vaterunser hineinwirft, den Knopf dreht und der Trost herauskommt. Den Trost bezahlt man mit Leid. Und davon braucht es viel. Und du selbst wirst spüren, wann du genug gelitten hast. Ich kann dir nur helfen, tiefer zu leiden und somit die Zeit deines Leidens zu verkürzen.«
Peppone war todmüde und schlief ein. Gegen zehn Uhr am nächsten Vormittag weckte ihn trauervoller Glockenklang. Es war, als ob die Glocken am Dachboden über der kleinen Kammer und über seinem Kopf hingen.
»Er ist von uns gegangen«, sagte Don Camillo, als er sich eine halbe Stunde später in der Tür zeigte, »und die Carabinieri haben auch die Fässer gefunden!«
»Und meine Frau?«
»Verhaftet. Sie haben sie schon eingelocht.«
»Das dürfen sie nicht!« schrie Peppone. »Sie hat damit nichts zu tun! Sie wußte von nichts! – Und der Junge?«
»Er ist noch in deinem Haus, mit deiner Mutter. Er ist ziemlich ruhig.«
Peppone stand auf.
»Meine Frau darf nicht eingesperrt bleiben. Ich stelle mich. Ich werde erklären, wie die Dinge liegen. Vorher will ich jedoch das Kind sehen.«
»Letzten Endes ist das richtig. Warte aber, bis es dunkel ist, sonst schnappen sie dich sofort. Es wäre besser für dich, wenn du vorher zu einem Advokaten gingst, um dich mit ihm zu beraten. Vielleicht ist es besser, wenn du weiterhin flüchtig bleibst.«
»Mein Advokat ist der Himmlische Vater!« antwortete Peppone. »Er weiß, wie alles passiert ist, und er wird mir helfen. Der Himmlische Vater weiß, was ich in diesen Tagen gelitten habe!«
»Es ist besser, wenn du dich rasierst und dich stärkst«, sagte Don Camillo, der schon allzu gerührt war. »So würdest du auch deinem Sohn Angst einjagen. Du mußt ein friedliches Bild in seinem Herzen hinterlassen, an das er denken kann, wenn er auf deine Rückkehr wartet.«
Als der Abend niedergesunken war, begleitete Don Camillo Peppone bis zur Gartenhecke. Peppone sprang drüber, drehte sich dann um und blieb stehen. Da reichte ihm Don Camillo seine Rechte, und es war ein Händedruck, der die Welt hätte zerdrücken können. Der Mann entfernte sich in der Nacht, und Don Camillo lief, um vor dem Christus niederzuknien.
»Armer Peppone«, seufzte der Christus, »jetzt wird er über die Felder in sein Haus gehen und seine Frau vorfinden, die ihm ganz ruhig sagt:>Ach, du bist zurück? Ist das Geschäft gut gegangen?<->Was für ein Geschäft? <wird Peppone fragen. >Das, von dem du mir in dem Brief geschrieben hast, den du mir aus der Stadt geschickt hast.<Dann wird sie ihm sagen:>Weißt du, es ist Don Camillo gekommen, um die zwei Fässer Schmieröl abzuholen, wie ihr abgemacht habt<, und dann wird sie ihm Neuigkeiten erzählen:>Vor zwei oder drei Tagen hat dieser Trottel von Piletti einen Schlag über den Schädel von einem deiner Leute bekommen, der ihn dabei überrascht hat, wie er ein Plakat heruntergerissen hat. Eine Kleinigkeit, eine Beule so groß wie eine Nuß und nichts weiter. Sie sagten, daß es du gewesen bist, aber wie ich deinen Brief aus der Stadt vorgezeigt habe, waren sie still. Heute morgen ist der Großvater Corini gestorben. Derselbe Don Camillo hat übrigens unterstellt, daß du nicht in die Stadt, sondern nach Belgrad gegangen bist, um Höllenbefehle vom Cominferno zu empfangen und anderen Blödsinn.<… Don Camillo, was glaubst du gewonnen zu haben mit dieser schändlich inszenierten Komödie?«
»Vieles, Herr Jesus.«
»Und was?«
»Erst einmal zwei Fässer, die statt mit Öl mit MGs, Pistolen, Munition und anderen Schweinereien gefüllt sind. Zweitens habe ich einen Menschen darüber belehrt, was geschehen kann, wenn man zur Gewalt greift. Drittens habe ich einem Menschen Familie und Leben geschenkt, die er schon verloren zu haben glaubte. Herr Jesus, das ist kein Pfaffenscherz, sondern die ehrliche Tat eines Priesters, der Seelen rettet, bevor sie verlorengehen. Er ist nun einer, der wohl kaum mehr einen Menschen verprügeln wird. Herr Jesus, es war kein Pfaffenscherz, und Ihr wißt es: Denn Ihr wißt, was ich fühlte, als ich diesen Unglücklichen leiden sah.«
Der Christus seufzte.
»Don Camillo hat immer recht. Don Camillos Augen sind klein, doch sie sehen weit. Gott möge ihm die Sehschärfe erhalten.«
Peppone und Don Camillo trafen sich einige Tage später.
»Es endet damit, daß ich Euch umbringe«, sagte Peppone finster.
»Denk ein wenig darüber nach. Es könnte vielleicht sein, aber ich glaube nicht daran.«
»Ich auch nicht«, brummte Peppone, »aber irgend etwas Furchtbares wird sicherlich geschehen.«
Sie sprachen nicht über die Fässer, die entleert am Grund des Flusses lagen, zusammen mit ihrer inzwischen verrosteten Ladung.