ZWEI
Santa Barbara, Kalifornien
Auf dem Rasen vor dem psychologischen Institut begann Liz mit dem Dehnen. Während sie, auf einem Bein balancierend, zuerst ein Fußgelenk, dann das andere nach hinten zog, ließ sie die Julisonne auf sich einwirken und genoss die milde Meeresluft auf ihrer Haut. Die Temperatur war mit etwas über 20 Grad optimal, und das, obwohl New York und Washington laut Weather Channel gerade von einer alles erstickenden Hitzewelle heimgesucht wurden. Die Entscheidung, sich an der Westküste niederzulassen, war sicher eine ihrer klügsten gewesen.
Hier war ihr Leben ganz anders als in den finsteren Zeiten, als sie herausgefunden hatte, dass ihre Eltern Auftragskiller waren. Sie konnte sich nicht vorstellen, glücklicher zu sein als jetzt, und das hatte sie Grey Mellencamp zu verdanken, der ihr damals, vor all den Jahren, zu diesem Schritt geraten hatte. Nur schade, dass er so kurz danach gestorben war. Sie hätte ihm gern gesagt, wie sehr er ihr geholfen hatte.
Sobald sie mit dem Dehnen fertig war, walkte sie in Richtung des Marine Sciences Institute der Universität los. Sie fühlte sich so leichtfüßig und energiegeladen, als träte sie zu einem Wettbewerb an. Als zweite Sportart betrieb sie noch regelmäßig Karate-do, eins der wenigen Relikte ihrer früheren Geheimdiensttätigkeit. Ihr Weg führte vorbei an den allgegenwärtigen Cabrios, an den von Styroporbechern aus der Mesa Coffee Company überquellenden Abfalleimern und an Studentinnen in augenklappengroßen Bikinis, die ohne Rücksicht auf Melanome auf den Terrassen vor ihren Unterkünften saßen. Nur wenige Palmen zierten das Universitätsgelände. Stattdessen verbreiteten Platanen, Magnolien und exotische Eukalyptusbäume Country-Club-Flair.
Als sie den gedrungenen Bau, in dem das meeresbiologische Labor untergebracht war, vor sich auftauchen sah, begann sie zu laufen. Sie ließ das Gebäude hinter sich zurück und erreichte die kleine sandige Landzunge, die die große Lagune der Universität umgab. Auf dem felsigen Kliff, das vor ihr aufragte, war niemand zu sehen. Gut so. Sie geriet langsam ins Schwitzen, als sie den sandigen Grat zu dem unbefestigten Pfad hinauftrabte, der oben auf dem schmalen Kliff verlief. Der Wind fuhr flüsternd durch ihr Haar. Ihre Beinmuskeln arbeiteten.
In der sauberen, salzigen Luft blickte sie nach rechts, wo wilde Gräser und Sträucher und Büsche dem Boden des Abhangs Halt verliehen, der sanft zu einer blauen Lagune abfiel, die so gut vor den Elementen geschützt war, dass kaum eine Welle ihre Oberfläche kräuselte. Auf der anderen Seite befand sich der Campus, wo einige vereinzelte Studenten, die sich offensichtlich zu den Vorlesungen verspätet hatten, in den Unterrichtsgebäuden verschwanden. Und dann war der Campus plötzlich vollkommen menschenleer, ein perfektes Stillleben aus schlichten modernen Gebäuden und sorgfältig gepflegten Bäumen, wie aus einem Bildband mit preisgekrönten Architekturaufnahmen.
Liz fiel wieder in ihr gewohntes langsames, aber stetes Schritttempo zurück und schaute nach links auf das Meer, dessen türkises Glitzern sich bis zu den dreißig Kilometer entfernten Channel Islands erstreckte. Hier, auf der dem offenen Meer zugewandten Seite, war die Vegetation völlig anders, nicht dicht und aufrecht und zäh wie auf dem Abhang zur Lagune, sondern mickrig und verkrümmt von dem ständigen Kampf, aus Felsspalten zu wachsen, in denen sie den erbarmungslosen Pazifikwinden ausgesetzt war. Tief unter ihr – mindestens fünfzehn Meter – konnte Liz das Rauschen der Brandung hören, aber sehen konnte sie es vom Weg aus nicht.
Das Kliff zog sich mehrere Kilometer am Campus entlang. Jahr für Jahr starben eine Hand voll Menschen, weil sie entweder beim Radfahren, Wandern oder Joggen oder nach einer Party im Suff hinunterfielen. In den Medien wurde dann ausgiebig über die Tragödie berichtet, und eine Weile waren die Leute vorsichtiger. Aber nach und nach ließ das Gefühl für die Gefahr nach. Alte Gewohnheiten schlichen sich wieder ein. So lange, bis wieder jemand ums Leben kam.
Liz versuchte gegen ein plötzliches Unbehagen anzukämpfen. Es gab immer noch Momente, in denen sie das Gefühl hatte, von ihrer Vergangenheit eingeholt zu werden, und dann überkam sie tiefe Verzweiflung. Aber hier draußen, mit der friedlichen Lagune auf der einen Seite und dem zeitlosen Ozean auf der anderen, passierte das selten. Hier erinnerten sie der strahlende Himmel und die warme Sonne und das muntere Kreischen der Möwen immer wieder daran, wie schön das Leben war. Wenn sie diesen hoch gelegenen Pfad zwischen den zwei Wasserflächen entlanglief, fühlte sie sich normalerweise immer unbesiegbar.
Aber nicht an diesem Tag. Sie war unruhig, wachsam. Das verstand sie nicht. Vor ihr war niemand zu sehen, aber hinter sich konnte sie Leute hören. Wegen des unebenen Untergrunds blickte sie sich vorsichtig um. Da war ein anderer Jogger, groß und muskulös, in Joggingkleidung, mit Sonnenbrille und einer Baseballmütze. In keiner Weise auffällig. Hinter ihm kam, tief über den Lenker gebeugt, ein Radfahrer auf sie zugefahren.
Sie lauschte dem Rhythmus ihrer Schritte, fühlte ihren ruhigen Herzschlag, testete alle ihre Sinne. Gleichzeitig schärfte sie sich ein, Ruhe zu bewahren.
Es dauerte nicht lange, und der Radfahrer zischte auf der Lagunenseite an ihr vorbei. Erleichtert verlangsamte sie das Tempo, um nicht den von den Reifen aufgewirbelten Staub einzuatmen. Wenig später verriet ihr ein Luftzug von hinten, dass sie auch der Jogger gleich überholen würde. Um ihm Platz zu machen, zog sie nach links. Aber er zog nicht nach rechts.
Stattdessen blieb er direkt hinter ihr. Ihr jagte ein kalter Schauder den Rücken hinauf, begleitet von Ärger. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein! Und im selben Augenblick wusste sie es auch schon. Im Hinterkopf, aus einer Zeit, die zu vergessen sie sich sehr bemüht hatte, begriff sie, dass sie schon die ganze Zeit sehr genau auf ihn geachtet hatte, weil er ihr gefolgt war. Er überholte sie nicht, weil er etwas anderes wollte.
Um ihm zu entkommen, rannte sie mit aller Kraft los. Ihre Füße waren leicht, ihr Antritt explosiv. Ihre Muskeln sangen. Die Vegetation huschte an ihr vorbei, doch seine stampfenden Schritte sagten ihr, dass auch er schnell war. Sie wagte nicht, nach hinten zu sehen. Sie hätte stürzen, das Kliff hinunterfallen können.
Sie sprang von dem ausgetretenen Pfad, riskierte, auf wilden Grasbüscheln und losen Felsbrocken zu stolpern, steuerte auf den Abhang zu, der zur Lagune hinabführte. Doch mit einer Plötzlichkeit, die ihr panische Angst durch die Adern jagte, spürte sie den keuchenden Atem des Mannes in ihrem Nacken. Verzweifelt versuchte sie, das Tempo noch einmal zu erhöhen, aber sie hatte nichts mehr zuzulegen. Schneller ging es einfach nicht mehr. Sie würde kämpfen müssen.
Gerade als sie sich umdrehen wollte, klatschte er seine Arme um ihre Taille, hebelte sie von den Beinen und schwang sie auf die dem Meer zugewandte Seite herum.
Der Himmel über ihr kippte weg. Keuchend stieß sie mit dem rechten Ellbogen nach hinten. Er stöhnte vor Schmerzen. Sie hatte seine Brustmuskulatur, kräftig und elastisch, getroffen, allerdings nicht fest genug, um ihm wirklich etwas anhaben zu können. Er war größer und wesentlich stärker. Sie wand sich von einer Seite auf die andere und erhaschte aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick auf sein Gesicht. Kräftiges Kinn, eingefallene Wangenknochen, breite, kurze Nase. Ray-Ban-Sonnenbrille. Seine Lippen waren ein dünner, ausdrucksloser Strich.
Sie rammte ihm voller Panik den anderen Ellbogen gegen die Schulter und schlug mit der Faust hinter sich nach seiner Kehle. Zu wenig, zu spät. Wie ein großes, gelangweiltes Kind schleuderte er sie einfach von sich und wich wankend zurück.
Endgültig aus dem Gleichgewicht geraten, flog sie hilflos durch die Luft. Sie riss den Mund auf, ruderte mit den Armen, und aus ihrem Innern brach sich ein wilder Schrei Bahn. Sie erkannte den Laut nicht, und dann war er plötzlich weg, übertönt vom Rauschen der Brandung tief unter ihr.
Sie fiel auf die Abbruchkante des Kliffs. Da sie nirgendwo Halt fand, stürzte sie mit den Füßen voran in ein beängstigendes, bodenloses Nichts. Verzweifelt um sich schlagend, versuchte sie sich an Grasbüscheln festzuhalten, die sich jedoch sofort mitsamt den Wurzeln aus dem steilen Abhang lösten. Aber wenigstens bremsten sie ihren unaufhaltsamen Sturz, sodass sie nicht in freiem Fall in die Tiefe stürzte. Noch nicht.
In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen, und Panik drohte sie zu lahmen, aber während ihre Füße nach einem Widerstand tasteten, um ihren Fall zu bremsen, klammerte sie sich an Vorsprüngen und Sträuchern fest. Nichts, was sie zu fassen bekam, hielt lange, und spitze hervorstehende Felsen rissen ihr T-Shirt und ihre Shorts auf, während sie weiter in die Tiefe rutschte. Hände, Arme, Brustkorb, Bauch und Beine überzogen hunderte von Schnitten, Aufschürfungen und Stichwunden. Je mehr sie schwitzte, umso mehr schmerzten und brannten sie und lenkten sie ab.
Fast hätte sie es verfehlt: ein mickriges Bäumchen, das aus einem Felsspalt wuchs. Auf Füßen, Beinen und Bauch das Kliff hinunterrutschend, bekam sie es mit beiden Händen zu fassen. Wie durch ein Wunder hielt es ihrem Gewicht stand. Sie blieb baumelnd daran hängen und suchte an den Felsen Halt. Unter ihren Füßen war nichts. Der Wind strich eisig über ihre feuchte Haut.
Die Zeit stand still. Ihr ganzer Körper schmerzte, sie war mutlos und erschöpft und sich sehr deutlich bewusst, dass ein Fehltritt oder ein längerer glatter Abschnitt der Steilwand ohne Halt bietende Vorsprünge oder eine Sekunde der Unachtsamkeit den Tod bedeuten konnten.
Während sie noch gegen die Angst ankämpfte und die Kraft zum Weitermachen aufzubringen versuchte, verschaffte sich in ihrem Kopf eine Stimme Gehör: Du schaffst es. Sie wiederholte die Wörter, und dann wurde Liz plötzlich klar: Ja, es gab ein Problem, gegen das sie etwas unternehmen konnte – sie selbst. Sie musste sich zusammenreißen.
Ihre überreizten Nerven beruhigten sich. Mit zunehmender Konzentration vergaß sie ihre Schmerzen und Verletzungen. Sie reckte den Kopf, um nach oben zu blicken, aber sie konnte den Rand des Kliffs nicht sehen. Zurück nach oben konnte sie jedenfalls nicht klettern.
Der Baum ächzte ominös, als seine Wurzeln sich zu lösen begannen.
Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, und blickte nach unten. Die Wand fiel senkrecht ab, noch etwa zehn Meter, und unten am Strand war niemand, der ihr zu Hilfe hätte kommen können. Die Brandung war stark, aber wenigstens war direkt unter ihr Sand, keine Steine.
Auf der Suche nach einem Halt für ihre Füße entdeckte sie etwa drei Meter unter ihr einen kleinen Vorsprung. Vorsichtig hangelte sie sich am Stamm des Bäumchens, das sich unter ihrem Gewicht immer stärker bog, nach unten.
Endlich berührte ihre Schuhspitze den schmalen Vorsprung, und fast im selben Moment lösten sich die Wurzeln des Bäumchens in einem Hagel aus Sand und Gesteinsbrocken aus der Felswand.
Als sie den in die Tiefe fallenden Baum losließ, geriet sie ins Wanken, fing sich aber wieder und drückte sich mit dem ganzen Körper gegen die Wand. Plötzlich hatte sie wieder überall heftige Schmerzen. Um sie unter Kontrolle zu bekommen, atmete sie tief durch.
Etwas weiter unten befand sich ein anderer schmaler Vorsprung. Vorsichtig kletterte sie von Felsnase zu Strauch zu Grasbüschel nach unten. Sie kam nur stückweise voran. Als sie den Vorsprung erreichte, sammelte sie sich und entdeckte eine dritte Stelle, die ihren Füßen Halt bot. Wenn man sich kleine Ziele setzte, wurde sogar das Unmögliche möglich.
Als sie auch diesen Vorsprung erreicht hatte, blickte sie wieder nach unten. Noch etwa fünf Meter. Eine riesige Welle, die sich auf dem Sand unter ihr brach, spritzte so hoch, dass sie sie fast erreichte. Ein gutes Zeichen. Eigentlich müsste sie jetzt springen können. Sie berechnete die Höhe, beugte die Knie, spannte sich am ganzen Körper an und machte einen Schritt ins Leere.
Mit klopfendem Herzen fiel sie durch die Gischt senkrecht nach unten und landete federnd in nassem Sand. Seevögel flogen erschrocken auf. Ihr durchdringendes Kreischen stieg zum Himmel und wurde immer schwächer. Die Finger im Sand, blieb Liz reglos hocken und sammelte sich schwer atmend.
Als schließlich leuchtend weiße Gischt fast ihre Füße umspülte, fuhr sie sich mit dem Arm über das glühende Gesicht und zwang sich nachzudenken. Es entbehrte jeder Logik, jeder Wahrscheinlichkeit, dass sie das zufällige Opfer eines Irren geworden war. Nein, dieser Kerl war ihr gefolgt. Er hatte sie bewusst zu töten versucht – was ihm um ein Haar gelungen wäre. Aber warum hier? Warum jetzt?
Schaudernd spürte sie noch einmal seinen eisernen Zugriff um ihre Taille, ihre Machtlosigkeit angesichts seiner sorgfältig geplanten Attacke. Schließlich stand sie auf, wischte sich den Sand von den Händen und begann zurückzugehen. Schon nach kurzer Zeit überkam sie eine seltsame Unruhe. Und dann durchzuckte es sie plötzlich wie ein Blitz. Außer sich vor Wut rannte sie los. Hatte die Vergangenheit sie nun doch eingeholt?