ZWANZIG

Paris

Und wieder stieß Sarah mit dem Dornenschneider in die Sperrholzplatte. Inzwischen hatte sie drei Nägel freibekommen und die Platte so weit gelockert, dass sie bei jedem Stoß heftig vibrierte. Wer hätte gedacht, dass so etwas Belangloses wie das Vibrieren einer Holzplatte so befriedigend sein könnte? Sie musste über sich selbst lächeln, als sie auf dem Flur ein Geräusch hörte. Den Dornenschneider bereits zum nächsten Stoß erhoben, hielt sie angespannt inne.

Das Geräusch schien von rollenden Rädern herzurühren. Das war neu. Unverzüglich legte sie ihr Arbeitsgerät auf den Plastikuntersetzer, in dem sie es gefunden hatte, stellte einen Stapel weiterer Untersetzer darauf, warf das Hemd in die Truhe und zog die Pritsche unters Fenster, um die Sperrholzspäne zu verbergen.

Dann eilte sie an die Tür und säuberte sich mit schmerzverkrampften Händen Gesicht und Kleider. Die Tür ging auf, und ein Mann mit der obligatorischen Strumpfmaske über dem Kopf kam in die Zelle, trat zur Seite und richtete seine Uzi auf sie. Zwei weitere Männer schoben eine Bahre mit einem Tropf in den Raum. Sarahs Herz begann heftig zu klopfen. Sie schaute, bang … und zugleich voller Hoffnung …

Sie konnte ihre Erregung nur mit Mühe im Zaum halten, als einer der Männer der Gestalt auf der Bahre die Kapuze vom Kopf zog. Vor Freude machte ihr Herz einen Sprung, und sie stürzte auf ihn zu. Asher! Seine Augen waren geschlossen und sein Gesicht schlaff, aber es war Asher. Und er lebte! Seine schwarzen Brauen und das dicht gelockte schwarze Haar hoben sich deutlich von dem weißen Krankenhaus-Kissenbezug ab. Die einzelnen grauen Strähnen an seinen Schläfen ließen ihn furchtbar verletzlich aussehen.

»Was soll das?«, schimpfte sie. »Warum ist er nicht im Krankenhaus? Warum …«

Aber die Männer gingen bereits wieder. Einer warf eine Papiertüte auf die Bahre. Die Tür ging zu. Das Schloss klickte.

»Asher, Liebling.« Sie küsste ihn auf die Stirn. »Asher?«

Er reagierte nicht. Eine Träne lief ihre Wange hinunter. Sie wischte sie wütend weg. Er lebte; das war die Hauptsache.

Sie sah sich den Tropf an. Zu ihrer Erleichterung war es nur eine Kochsalzlösung, um ihn zu hydratisieren. Seine Hauttemperatur fühlte sich normal an. Die Papiertüte enthielt zwei Fläschchen mit Tabletten, die Etiketten mit französischer Beschriftung, ohne Angabe eines Arztes oder einer Apotheke. Eines enthielt ein Antibiotikum, das andere ein Schmerzmittel. Außerdem war in der Tüte Verbandsmaterial, wie es Krankenhäuser in großen Mengen einkauften und wie es in Apotheken nicht erhältlich war. Sie hob die Decke und sein Krankenhaus-Nachthemd an und sah sich den Verband auf seiner Brust an. Sauber, kein Blut oder Eiter, keine stark geröteten Hautpartien, die auf eine Infektion hindeuteten.

Erleichtert, schob sie die Bahre neben ihre Pritsche und setzte sich. Als sie Ashers Wange streichelte, begann er sich zu regen. »Asher, Schatz, kannst du mich hören?« Sie strich ein paar Locken aus seiner Stirn. Als seine Augenlider zu flattern begannen, küsste sie ihn aufs Ohr und flüsterte: »Ich bin’s, Sarah. Du bist jetzt bei mir. Es ist schrecklich, dass sie dich erwischt haben, aber ich bin froh, dass du noch am Leben bist.«

Seine Stimme war unbeschwert, fast verträumt. »Hi, Liebling.«

Sie wich zurück. »Asher! Warst du schon die ganze Zeit bei Bewusstsein?«

»Nein, erst seit kurzem.« Er sah ihr in die Augen. »Hab nur etwas gewartet, um sicher zu gehen, dass sie nicht zurückkommen. Die Drecksäcke haben mich im Krankenhaus mit Medikamenten voll gepumpt. So haben sie mich nach draußen geschmuggelt.«

Sarah schnürte sich die Kehle zusammen. »Asher …«

»Komm her«, forderte er sie heiser auf. »Ich kann noch gar nicht glauben, dass du es wirklich bist. Du hast mir so gefehlt. Es war fürchterlich, mit ansehen zu müssen, wie sie dich in ihre Gewalt brachten.«

Sie beugte sich vor, um ihn auf die Wange zu küssen, aber er erwischte ihre Lippen mit den seinen. Was sie als zärtliche und aufbauende Geste gedacht hatte, explodierte zu ungeahnter Intensität. Zu Überlebenswillen und Auflehnung und Lebensgier. Sein Mund war fest und unwiderstehlich. Ihr wurde am ganzen Körper heiß. Er schlang einen Arm um sie und zog sie an sich. Sie schmolz dahin.

Als er sie losließ, hatte sie weiche Knie. Sein dunkles Gesicht glühte.

»Du überrascht mich immer wieder von neuem.« Sie lächelte ihn an. Die schmerzende Leere, die sich in den letzten zwei Tagen um ihr Herz gelegt hatte, war verflogen. »Wie schlimm ist deine Verletzung. Mit so einer Brustwunde ist nicht zu spaßen.«

»Glatter Durchschuss. Na ja, eine Rippe und ein paar andere Sachen hat die Kugel schon erwischt. Aber sie haben die Splitter rausgeholt und mich zusammengeflickt. Ich habe die Nähte gesehen. Gute Arbeit.« Er sah sich in ihrer Zelle um. »Die Arzte meinten, ich könnte in ein paar Tagen entlassen werden, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dabei an das hier gedacht haben. Reden wir lieber über das, was wirklich wichtig ist – über dich.« Seine Stirn legte sich in Falten, als er sie prüfend betrachtete. »Bei dir alles okay?«

»Mal abgesehen davon, dass ich einen leichten Zellenkoller habe, geht es mir gut. Sieh mich nicht so an, Asher. Ich mache dir nichts vor. Es geht mir wirklich gut, vor allem jetzt, wo ich weiß, dass du auf dem Weg der Besserung bist.«

»Ab sofort kann es gar nicht mehr besser werden«, erklärte er. »Wir sind wieder zusammen.«

»Sie haben keine Chance, egal, wer sie sind.«

»Weißt du das denn nicht?«

»Ich weiß nur, dass sie sich große Mühe geben, nicht von mir erkannt zu werden, und das kann eigentlich nur heißen, dass sie vorhaben, mich irgendwann wieder freizulassen. Aber verlassen möchte ich mich darauf natürlich lieber nicht. Und du?«

»Die drei Kerle, die mich im Krankenhaus abwechselnd bewacht haben, habe ich zu sehen bekommen, aber du hast Recht … sonst niemanden. Doch jetzt zu den schlechten Nachrichten …« Er erzählte ihr, wie raffiniert sowohl Liz als auch er getäuscht worden waren. »Von wegen CIA, dass ich nicht lache! Sie haben Liz und mich ganz schön an der Nase rumgeführt. Die Typen im Krankenhaus hatten das ganze Gehabe, den Jargon, das Procedere so gut drauf, dass ich nicht auf die Idee gekommen bin, sie könnten nicht von der CIA sein. Und ich habe natürlich auch nicht angerufen, um mich nach ihnen zu erkundigen.«

»Was ist mit den Aufzeichnungen? Hat sich Onkel Hal tatsächlich welche gemacht?«

»Bei dem Aufstand, den sie deswegen machen? Da muss man ja fast davon ausgehen. Liz sagt, sie haben in Santa Barbara zweimal versucht, sie umzubringen, und zwar vermutlich die Leute, die sie haben. Das Problem ist, ich habe nur einmal mit ihr gesprochen. Deshalb weiß ich nicht, was sie in der Zwischenzeit herausgefunden hat. Was mir Sorgen macht, ist, dass sie möglicherweise immer noch denkt, sie würde mit Langley zusammenarbeiten.«

»Nicht auszudenken.«

Als sie sich darauf gegenseitig ansahen, waren sie sich sehr deutlich bewusst, wie unsicher sowohl ihre als auch Lizs Zukunft war.

»Wir müssen unbedingt hier raus.«

»Daran arbeite ich bereits«, sagte Sarah.

»Ach ja? Lass hören.«

 

Chantilly Simon stürzte aus dem Arbeitszimmer von Baron de Darmond auf den Flur hinaus, blieb dann aber stehen. Um die Ecke schloss sich, in der Stille deutlich hörbar, eine Tür. Wo war der Dreckskerl? Wütend rannte Simon, Tür um Tür aufreißend, den Gang hinunter. So hatte er in vier Zimmer gesehen, als er die Stimmen eines Mannes und einer Frau hörte, die nach oben kamen. Hausangestellte. Offensichtlich war der schallgedämpfte Schuss in dem riesigen Château ungehört verhallt. Es gab noch drei Türen in diesem Flügel.

Simon rannte weiter und öffnete die nächsten zwei Türen, aber die Zimmer dahinter waren leer. Auch im letzten, einer Art Sekretariat, befand sich niemand. Aber durch eins der Fenster erhaschte Simon einen Blick auf einen Mann, der da, wo er schon vorher kurz jemanden gesehen zu haben glaubte, unter den Bäumen hervorrannte.

Simon lief ans Fenster und blickte nach unten. Er erkannte ihn sofort wieder: Es war der Killer mit dem Gehstock, der Terrill Leaming umgebracht hatte, nur dass er diesmal keinen Gehstock dabeihatte. Dennoch blitzte etwas Metallisches in seiner Hand auf. Ein Messer?

Um herauszubekommen, warum der Mann auf die Seite des Schlosses rannte, wollte ihn Simon weiter beobachten, aber die Stimmen der zwei Hausangestellten auf der Treppe kamen immer näher. Deshalb huschte er aus dem Zimmer und um die nächste Ecke, hinter der sich eine weitere Treppe befand. Er musste unbedingt aus dem Schloss kommen, ohne dass ihn jemand bemerkte.

Sobald er das Erdgeschoss erreichte, hörte er jemanden auf sich zukommen. Mit klopfendem Herzen strich er sein Haar glatt, rückte seine Livree zurecht und ging mit gesenktem Blick weiter. Zuerst erschienen die Schuhe der anderen Person in seinem Blickfeld – Männerschuhe, billig, auf Hochglanz poliert. Ein korrekter, zuverlässiger Diener. Simon schaute auf, nickte dem Mann von Kollege zu Kollege zu und ging weiter. In diesem Moment wurden im Obergeschoss aufgeregte Stimmen laut. Hilfe für den Baron. Die Stimmen wurden schriller, panisch. Le Baron war erschossen worden.

Rasch füllte sich der enge Seitenflur mit beunruhigten Hausangestellten, die laut überlegten, was passiert sein könnte, während sie sich an der anderen Treppe versammelten. Simon versuchte, sich zwischen ihnen hindurchzuzwängen, aber sie bewegten sich ihm entgegen und drängten ihn zur Treppe zurück. Schließlich gab er es auf, und statt weiter gegen den Strom zu schwimmen, ließ er sich zur Seite treiben. Als er schließlich eine Wand erreichte, drückte er sich gegen die Vertäfelung, während der Menschenstrom die Treppe hinaufschwappte. In ihren Mienen stand Angst.

In wenigen Sekunden war das Schlimmste überstanden, und Simon machte sich wieder auf den Weg. Er wollte versuchen, auf den Angestelltenparkplatz zu kommen. In seinem Kopf begann bereits ein Plan Gestalt anzunehmen. Als er am Aufenthaltsraum der männlichen Angestellten vorbeikam, blieb er stehen und lauschte. Da inzwischen vermutlich alle oben waren, um zu sehen, was mit dem Baron passiert war, hätte der Aufenthaltsraum eigentlich leer sein müssen.

Und sobald er die Tür öffnete, stellte er fest, dass er sich nicht getäuscht hatte. Er durchsuchte die Schließfächer und fasste in alle Hosentaschen, bis er einen Autoschlüssel mit Fernbedienung fand.

Dann raffte er seine Kleider zusammen, klemmte sie sich unter den Arm und rannte zu dem Gang zurück, durch den er in das Château gekommen war. Schwer atmend spähte er nach draußen. Kein Wachmann in Sicht. Wenn er Glück hatte, war auch das ganze Wachpersonal ins Schloss gerannt. Die Ermordung des Barons war der Vorteil, den er benötigte.

Er strich seine Livree glatt und ging so, als habe er eine wichtige Besorgung zu erledigen, zu dem gekiesten Platz vor der Küche, wo die Angestellten ihre Autos abstellten. Das war seine Chance. Wahrscheinlich seine einzige. Als er nahe genug war, drückte er auf den geklauten elektronischen Autoschlüssel.

Die Lichter eines beigen Renault leuchteten kurz auf. Erleichtert sah sich Simon um. Dann lief er auf den Wagen zu, sprang hinein und ließ ihn an. Während er auf den Lieferanteneingang zufuhr, stimmte er sich innerlich bereits auf die Szene ein, die er gleich spielen müsste. Das war einer dieser Fälle, in denen er absolut überzeugend sein musste: Er war ein Diener, über den zwei Katastrophen gleichzeitig hereingebrochen waren. Während er sich konzentrierte, legte sich ein angespannter Ausdruck über seine Züge. Sein Kinn hob sich, die Augen wurden groß. Er öffnete seinen Kragen, kurbelte das Fenster nach unten und fuhr langsamer, als er das Tor erreichte.

Stirnrunzelnd kam der Wachmann aus dem Pförtnerhäuschen. »Was machen Sie denn da mit Monsieur Pietros Auto?«, fragte er auf Französisch.

Aufgelöst sah Simon durch das Seitenfenster zu ihm hoch und antwortete auf Französisch: »Etwas Furchtbares ist passiert. Einfach furchtbar. Jemand hat den Baron erschossen! Und jetzt steht meine Frau kurz vor der Entbindung. Was soll ich denn machen? Ich weiß überhaupt nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Aber freundlicherweise hat mir Monsieur Pietro seinen Wagenschlüssel gegeben und gesagt: ›Fahren Sie.‹ Wussten Sie denn das mit dem Baron gar nicht?«

Das Gesicht des Mannes wurde aschfahl. »Merde alors, non!« Im Pförtnerhäuschen klingelte ein Telefon, und er sprang nach drinnen, um dranzugehen. »Tot? Er ist tot? Ermordet? Wirklich?« Er fasste sich bestürzt an die Mütze.

Simon lehnte sich aus dem Fenster des Renault, zeigte hektisch auf das Tor und drückte auf die Hupe. Der Wachmann hatte gerade die Bestätigung erhalten, dass Simons Geschichte zur Hälfte wahr war; mit ein bisschen Glück machte das den Teil, der eine Lüge war, ebenfalls glaubhaft.

Der Wachmann machte ein erstauntes Gesicht, als hätte er Simon ganz vergessen. Dann nickte er, drückte auf einen Knopf seines Pults und konzentrierte sich wieder auf das Telefongespräch.

Das große Tor ging reibungslos nach innen auf. Simon fuhr auf die Straße hinaus. Die örtlichen Gendarmen waren wahrscheinlich bereits unterwegs. Er musste einen möglichst großen Abstand zwischen sich und das Château bringen, bevor Monsieur Pietro – wer immer das war – sein Auto vermisste oder bevor der Wachmann am Tor genauer über den Fremden nachdachte, der kurz davorstand, Vater zu werden.

Trotzdem fuhr er nicht schneller als erlaubt. Unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken galt es jetzt mit allen Mitteln zu vermeiden. Aber nachdem das Schlimmste überstanden war, gestattete er sich endlich, darüber nachzudenken, wie nahe er davorgestanden hatte, den Verbrecher zu finden, der seinen Vater in den Tod getrieben hatte. Sein Brustkorb schnürte sich zusammen, und seine Hände krampften sich um das Lenkrad.

Bäume wischten verschwommen an den Seitenfenstern vorbei, und die Straße vor ihm lag da wie eine graue Schlange. Er hätte aus der Haut fahren können, aber stattdessen sagte er sich immer wieder, nachdem er es einmal geschafft hatte, diesem Verbrecher so nah zu kommen, würde es ihm auch ein zweites Mal gelingen.

Die Minuten vergingen, und er spürte, wie er sich allmählich beruhigte und wieder rationaler reagierte. Er hatte einiges herausgefunden. Noch konnte er zwar vieles davon nicht einordnen, aber er würde noch mehr herausbekommen, und irgendwann würde er das Rätsel lösen, wer der Killer war.

Er atmete tief durch. Lauschte dem Klopfen seines Herzens. Und befasste sich in Gedanken mit dem, was er als Nächstes tun musste – nämlich den Film möglichst schnell entwickeln und vergrößern lassen. Der Erpresser hatte mit dem Baron eine Abmachung getroffen, und die Aktenordner auf dem Schreibtisch waren vermutlich das, womit sich der Baron gerade beschäftigt hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach enthielten sie also Informationen über diese Abmachung. In Paris kannte Simon eine Frau, der er den Film zum Entwickeln anvertrauen konnte.

Er war so in Gedanken versunken, dass er kaum den eleganten schwarzen Citroën mit den getönten Scheiben bemerkte, der ihn überholte. Er war ebenfalls in Richtung Chantilly unterwegs. Blinzelnd konzentrierte sich Simon wieder auf die Gegenwart. In der entgegengesetzten Richtung – auf dem Weg zum Château – raste mit jaulender Sirene ein Polizeiauto vorbei.

Sobald es außer Sichtweite war, gab Simon Vollgas und fuhr erst wieder langsamer, als er sich dem Dorf näherte. Dort schien alles seinen gewohnten Gang zu gehen. Touristen und Einheimische kauften ein. Auf den Straßen herrschte lebhafter Verkehr.

Er parkte hinter seinem Leihwagen, stieg aus und ging um den gemieteten Peugeot herum, um Türschlösser und Reifen zu inspizieren und zugleich unauffällig nach einem Schatten Ausschau zu halten. Er bemerkte nichts und niemanden, der in irgendeiner Weise verdächtig wirkte. Durch den Stoff seiner Hose tastete er nach der Mini-Kamera. Ja, sie war noch da. Beruhigt ließ er den Schlüssel des geborgten Renault auf dem Boden des Wagens liegen und ging zu seinem Sportwagen.

Doch gerade als er die Tür öffnete, raste ein Radfahrer an ihm vorbei und streifte mit dem Lenker die Autotür. Und dann ging alles ganz schnell: Das Fahrrad schleuderte seitlich unter dem Radfahrer davon, sodass dieser stürzte und mit der Schulter unter den vorderen Kotflügel von Simons gemietetem Peugeot rutschte. Dort blieb er kurz reglos liegen, nur sein Arm hob sich unter den Wagen, als wolle er einen Schlag abwehren.

Simon schloss die Tür wieder und eilte dem Radfahrer zu Hilfe. »Est-ca-que je vous ai sait mal?« Alles in Ordnung?

Benommen den Kopf schüttelnd, kroch der Radfahrer, ein Jugendlicher, unter dem Auto hervor. »Imbécile!« Unter seinem Helm stand verschwitztes blondes Haar hervor. Mit finsterem Gesicht schimpfte er auf Französisch: »Passen Sie doch auf! Das war Ihre Schuld! Sie sind doch nicht allein auf der Straße!« Sein Hemd war von dem Sturz zerrissen. Aus frischen Abschürfungen perlten Blutstropfen.

»Tut mir Leid.« Simon versuchte ihm aufzuhelfen. »Aber Sie sind auf dem Bürgersteig gefahren.«

Der junge Mann schüttelte Simon ab, richtete sich auf und hinkte auf sein Fahrrad zu. Mit jedem Schritt wurde seine Balance besser, sein Ärger größer.

Er hob das Fahrrad vom Boden auf. »Sehen Sie sich mal den Lack an!«

Das einfache 5-Gang-Rad wies nur ein paar geringfügige Kratzer auf. Entweder hing der Kerl ganz besonders daran, oder er versuchte, Geld herauszuschlagen. Die ersten Neugierigen begannen sich um sie zu scharen. Simon durfte jetzt keine Zeit verlieren. Er musste sich schleunigst von dem gestohlenen Auto entfernen, bevor jemand, speziell die Polizei, neugierig wurde. Außerdem musste er auf schnellstem Weg zurück nach Paris, um den Film entwickeln zu lassen.

Er holte seine Brieftasche heraus und erklärte einlenkend: »Ich weiß natürlich, dass sich so etwas mit Geld allein nicht richten lässt.

Wirklich schönes Fahrrad, das Sie da haben. Ich gebe Ihnen so viel, dass Sie es reparieren und vielleicht sogar neu lackieren lassen können.«

»Nicht so schnell.« Die Wut in der Stimme des Jungen verflog, als er Simon die Euroscheine zählen sah.

Bei 150 machte Simon Schluss. Er beobachtete die Augen des Kerls, die auf das Geld geheftet waren. Was er dort sah, war blanke Gier, und das genügte in der Regel, um jedes Geschäft zum Abschluss zu bringen.

Simon zog das Geld zurück. »Stimmt, ich hätte Ihnen kein Geld anbieten sollen«, erklärte er aalglatt. »Damit habe ich Sie beleidigt.« Er machte sich daran, die Scheine wieder in seine Brieftasche zu stecken.

»Non, non. Zum Teil war es ja auch meine Schuld. Ich hätte nicht auf dem Bürgersteig fahren sollen …« Der Radfahrer schnappte sich die Euros.

Simon lächelte. »Das ist großzügig von Ihnen.«

Der Radfahrer stopfte sich die Scheine in die Tasche und fuhr davon. Während die kleine Menschenmenge sich unter Murmeln und Kopfschütteln auflöste, stieg Simon in den Peugeot und fuhr los. Bald war er auf der Autobahn nach Paris, unterwegs zu den Antworten, die dort sicher auf ihn warteten.

 

Der Radfahrer fuhr ein Stück die Straße hinunter und bog dann in eine Durchfahrt, in der neben einem eleganten schwarzen Citroën ein Mann in einem maßgeschneiderten Anzug wartete. Der Motor des Citroën lief, und in der Durchfahrt stank es nach seinen Auspuffgasen.

Der Junge sprang von seinem Fahrrad. »Haben Sie das gesehen?«, fragte er mit gewohntem Selbstbewusstsein. Er hielt sich für einen glänzenden Schauspieler. Bisher hatte er nur in zwei kleinen Provinztheatern gespielt, aber eines Tages würde er berühmter sein als Jean-Paul Belmondo oder Gérard Depardieu oder sogar Tom Cruise. So viel Geld wie bei seinem heutigen kleinen Auftrag hatte ihm sein schauspielerisches Talent allerdings noch nie eingebracht. Er war nämlich auch ein kleiner Dieb und Ganove, aber damit wäre bald Schluss.

»Ich hab’s gesehen, Etienne«, bestätigte ihm Gino Malko, während er sich fragte, wer der Fahrer des Peugeot war.

Zum ersten Mal war Malko dem Mann mit Terrill Leaming in Zürich über den Weg gelaufen. Vor weniger als einer Stunde hatte er ihn auf dem Balkon des Château entdeckt und ihn dann den Renault vom Angestelltenparkplatz stehlen sehen. Das alles waren für Gino Malkos Geschmack eindeutig zu viele Zufälle, aber im Château hatte er nichts gegen den Mann unternehmen können. Dort war er zu sehr damit beschäftigt gewesen, den Butler aus dem Weg zu räumen und dann seinen Boss schnellstmöglich vom Landsitz des Barons zu schaffen, was ihm nur mithilfe einer hohen Summe Bargeld gelungen war. Deshalb hatte er, als sie dem gestohlenen Renault ins Dorf folgten, mit seinem Handy kurz einen Anruf gemacht, um den Einsatz des Radfahrers zu veranlassen. Danach hatte er mit seinem Citroën den Renault überholt, um rechtzeitig ins Dorf zu kommen und dem Radfahrer die Zielperson zu zeigen.

Malko ging an Etienne vorbei zur Mündung der Durchfahrt und spähte vorsichtig auf die belebte Straße hinaus.

Neugierig fragte Etienne: »Warum sollte ich eigentlich diesen Magneten unter seinem Auto befestigen? Sie werden ihn doch nicht in die Luft jagen, oder?«

Malko antwortete nicht. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass niemand dem jungen Burschen gefolgt war, machte er auf dem Absatz kehrt, ging direkt auf ihn zu und schlug dem nichts ahnenden Jungen mit der Handkante mit voller Wucht unters Kinn.

Sein Kopf zuckte zurück, seine Wirbelsäule knackte. Der Junge flog rückwärts gegen sein Fahrrad. Bevor er und das Rad auf dem Pflaster aufschlugen, hatte Malko bereits sein Stilett in der Hand. Es war dasselbe, mit dem er vor weniger als einer Stunde den Butler getötet hatte, der als Einziger den Baron hatte bedienen dürfen, als dieser mit Malkos Boss gegessen hatte.

Malko fuhr mit der Spitze des Stiletts über das Lycra-Hemd des bewusstlosen Jugendlichen, bis er die richtige Stelle zwischen seinen Rippen gefunden hatte. Dann stieß er die Klinge mit einer kraftvollen, flüssigen Bewegung nach oben in sein Herz. Es trat kaum Blut aus. Erst als er das Stilett herauszog, begann es heftig zu spritzen. Aber in diesem Moment war Malkos Hand bereits weg. Kein Tropfen berührte ihn.

Er wischte das Messer am Hemd des Jungen ab und steckte es in die Scheide an seinem Unterarm zurück. Dann zog er die Leiche und das Fahrrad auf die Seite und nahm die Euros an sich, die der Fremde dem Jungen gegeben hatte. Die Unfallzeugen würden sich daran erinnern, dass der Junge Geld erhalten hatte, und man würde den Mord auf einen Raubüberfall zurückführen.

Malko blickte sich ein letztes Mal um, bevor er zufrieden in den Citroën stieg. Kurz darauf glitt die elegante Limousine, ihre getönten Scheiben wie schwarze Löcher im Sonnenschein, auf das andere Ende der Durchfahrt zu. Niemand konnte Malkos Boss sehen. Niemand konnte Malko sehen.