SIEBENUNDZWANZIG
Aus der Luft gesehen, erstreckten sich die glitzernden Lichter des nächtlichen Paris über den ganzen Horizont. Fasziniert blickte Sir Anthony Brookshire durch das Fenster seines Privatjets, der zum Landeanflug auf den Flughafen Charles de Gaulle ansetzte. Der Anblick rief Erinnerungen an seine Jugend in ihm wach, wenn er in den 50er-Jahren seine Mutter und seine Tante ab und zu nach Paris begleitet hatte, um dort einzukaufen und etwas Kultur und »Leben« zu schnuppern, wie sie es voller Begeisterung genannt hatten. Sie fuhren damals immer von der Victoria Station nach Newhaven, wo sie die Fähre nach Dieppe nahmen, und stiegen in Paris im Ritz oder Bristol ab.
Abendessen gingen sie mit Vorliebe im Crillon, an dessen eleganter Bar Diplomaten aus dem nahe gelegenen Botschaftsviertel reihenweise Dritte-Welt-Länder verschacherten, und hinterher ging es zu ein paar späten Drinks noch in Privatwohnungen und versteckte Bistros, in denen Staatsaffären eine wesentlich wichtigere Rolle spielten als Herzensaffären. Er schwamm in der Piscine Deligny in der Seine, wurde in einem Jazzkeller in St-Germain von ausgebufften älteren Jungen, die glaubten, von seinem großzügigeren Taschengeld profitieren zu können, in die Vorzüge von Kronenbourg-Bier eingeweiht und zog bei Tagesanbruch allein zum Place de Clichy weiter, wo Paris nie schlief – während die Straßenkehrer bereits die Straßen fegten, wimmelte es in den Cafés noch von Kaffee trinkenden Nachtschwärmern.
Bis er zwanzig wurde, war das alles anders geworden: Seine Eltern hatten sich scheiden lassen. Seine Tante war an ihrer Alkoholsucht gestorben – ihre Leber hatte ihr einfach den Dienst versagt. Er stand kurz vor dem Abschluss seines Studiums in Cambridge, und er hatte »eine Zukunft«. Da war keine Zeit mehr, um nachts schwimmen zu gehen oder dem Lockruf des Jazz zu folgen. Sir Anthony neigte keineswegs zur Nostalgie, aber an diesem Abend lastete die Welt genauso schwer auf ihm wie damals. So sentimentalen Gedanken über Paris hatte er schon lange nicht mehr nachgehangen.
Als der Jet nach der Landung ausrollte, lehnte er sich zurück. Die Angelegenheit mit den Aufzeichnungen des Carnivore war ziemlich kompliziert. Aber egal, wie unerfreulich die Sache auch war, er würde sie erfolgreich zum Abschluss bringen.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Sir?« Sein Diener Beebee erschien neben ihm. Eigentlich hieß Beebee Horace Bedell, aber Sir Anthonys ältester Sohn Thomas hatte den Namen nicht richtig aussprechen können, als er noch klein war.
»Ein Brandy wäre schön. Den Cordon Bleu, würde ich sagen. Zwei Gläser, ja?«
»Sehr gern, Sir.« Die Stimme wurde leiser. Schritte entfernten sich. Wenig später kam Beebee zurück. Ein Cognacschwenker berührte Sir Anthonys Handrücken. »Zum Wohl, Sir.«
Sir Anthony ergriff das Glas am Fuß. Er nippte daran, schmeckte den milden Cognac, der wärmend seine Kehle hinunterfloss. Das andere Glas stellte Beebee auf den Klapptisch, der an dem gepolsterten Sitz auf der anderen Seite des Mittelgangs angebracht war, und kehrte an die Bar zurück, wo er sich wieder daranmachte, die längst polierten Gläser noch einmal zu polieren.
Als die starken Rolls-Royce-Triebwerke des Jet verstummten, ging die Tür auf. Sir Anthony hörte die forschen Schritte seines Gasts die Gangway heraufkommen. Er musste vielleicht eine schwere Entscheidung treffen, aber er versagte sich jede Form von Rührseligkeit.
Er erhob sich, strich mit den Händen über seine Anzugjacke und rückte seine Krawatte zurecht.
Helios betrat den Jet, und Sir Anthony ging ihm entgegen. Sie schüttelten sich die Hände.
»Schön, Sie zu sehen«, begrüßte ihn Sir Anthony. »Wie gingen in Paris die Geschäfte?«
»Es geht so. Wie war Ihr Flug von Brüssel?«
Helios – Nicholas Inglethorpe – war groß und schlank, mit energischem Kinn und scharfer Nase, das grau melierte goldblonde Haar streng nach hinten frisiert. In seinem Armani-Anzug strahlte der Medienzar Charme und Intelligenz aus. Sir Anthony kannte ihn schon seit zwanzig Jahren. Damals war er noch ein legerer junger Heißsporn in Jeans und Pullover gewesen, der im amerikanischen Süden Radiostationen aufkaufte und auf diese Weise den Grundstock zu seinem künftigen Medienimperium legte. Inzwischen war er der Besitzer von InterDirections, trug Designer-Anzüge und ließ sich in seinem Büro hoch über dem Wilshire Boulevard von Los Angeles von »Künstlern« die Nägel maniküren und die Haare schneiden.
Dennoch hatten mit den Jahren die Schärfe in seinem Blick und die Gier in seinem Gesicht noch zugenommen. Vom Erfolg besessen, hatte er ein Milliardenvermögen angehäuft, und wenn er auch die Annehmlichkeiten des Reichtums zu schätzen gelernt hatte, war er im Innersten seines Herzens immer noch der alte Freibeuter und somit nicht hundertprozentig zuverlässig. Und genau das war der Grund, weshalb Sir Anthony ihn jetzt brauchte.
»Der Flug verlief ohne Probleme«, antwortete Sir Anthony, »aber die Fahrt zum Flughafen war grauenvoll.«
»Das ist sie immer.«
»Wie geht es Mindy und den Kindern?«
»Gott sei Dank habe ich sie gerade eine Weile vom Hals. Sie machen in unserem Haus auf Mallorca ein paar Wochen Ferien.«
»Um diese Jahreszeit ist es dort sehr schön.« Sir Anthony trat in die Kabine zurück. »Schön, dass Sie mir Gesellschaft leisten. Ist Ihre Assistentin schon vorausgeflogen?«
»Wir treffen uns in Belgravia.« Inglethorpe unterhielt auch in dem Londoner Nobelviertel eine Wohnung. Seine Assistentin war eine seiner Geliebten.
»Gut.« Sir Anthony nahm wieder Platz und forderte auch seinen Gast dazu auf. Inglethorpe setzte sich ihm gegenüber und lockerte seinen Krawattenknoten. Sir Anthony nahm es missbilligend zur Kenntnis. Typisch Amerikaner. Sie versuchten ihr legeres Auftreten mit den unterschiedlichsten Gründen zu rechtfertigen, angefangen von Bequemlichkeit bis hin zu einem Ausdruck der Gleichheit, aber in Wirklichkeit war es nichts anderes als ein Zeichen von schlechten Manieren und Nachlässigkeit.
Als die Triebwerke lauter wurden, nahm Inglethorpe die Krawatte ganz ab, griff nach seinem Cognacschwenker und roch genießerisch daran. »Vorausschauend wie immer. Cordon Bleu.« Er hob das Glas. »Auf Ihr Wohl, Kro–«
Kronos schüttelte warnend den Kopf und wandte sich Bedell zu. »Vielen Dank, Beebee.«
Er sah zu, wie sein Butler die Bar verließ und sich ins Cockpit zurückzog, wo er bliebe, bis er wieder gerufen wurde. Als sich Kronos wieder in seinem Sitz herumdrehte, fiel sein Blick kurz auf sein Spiegelbild im Fenster auf der anderen Seite des Jet – perfekt geschnittenes silbergraues Haar, rosige Wangen und ein Ausdruck weiser Strenge, den er zu einem Wesenszug kultiviert hatte. Der Unterschied zu Helios, was Alter und Auftreten anging, war unübersehbar – zwei gleichwertige Titanen, aber angesichts des Altersunterschieds von zwanzig Jahren stand einer mit vornehmer Gelassenheit für die Alte Welt, der andere mit forschem Unternehmergeist für die Neue.
»Nach all den Jahren weiß er doch sicher von der Schlange«, führte Inglethorpe zu seiner Rechtfertigung an.
»Wahrscheinlich. Dennoch erwarte ich von ihm absolute Diskretion, auch mir gegenüber. Man sollte einem Angestellten nie ein Geheimnis unter die Nase reiben, wenn man ihm gleichzeitig zu verstehen gibt, dass er nichts darüber wissen darf. Das hat zur Folge, dass selbst die Loyalsten nachdenklich zu werden beginnen.«
»Diese Decknamen sind doch nur lästig.«
»Sie sind nötig.«
»Ach, kommen Sie mir doch nicht damit. Unsere Handys sind abhörsicher. Niemand kann uns abhören. Wir leben inzwischen im elektronischen Zeitalter.«
Sir Anthony stellten sich die Nackenhaare auf. »Der Code ist seit über fünfzig Jahren ein wichtiger Bestandteil unserer Sicherheitsmaßnahmen. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Existenz der Schlange geheim bleibt, gerade jetzt mehr denn je. Möglicherweise ist der Code tatsächlich überholt, aber er hat uns wertvolle Dienste geleistet. Wie drücken Sie das in Amerika gleich wieder aus?«
»Was nicht kaputt ist, repariert man auch nicht.«
Sir Anthony zuckte zusammen. »Ja.«
Achselzuckend hob Inglethorpe sein Glas. »Auf die Schlange.«
»Auf die Schlange«, erwiderte Sir Anthony, »und ich finde, zumindest hier können wir auf die Decknamen verzichten, meinen Sie nicht auch, Nick?«
»Ach, ich weiß nicht, Tony. Irgendwie gefallen sie mir auch.« Nicholas Inglethorpe lachte.
Sir Anthony lächelte.
Sie tranken und sahen sich gegenseitig an, während das Flugzeug zur Startbahn rollte.
Inglethorpe stellte das Glas ab. »Also, es gibt bestimmt einen Grund, weshalb Sie mich gebeten haben, Sie zu begleiten. Ich bin ganz Ohr.«
»Haben Sie von dieser Geschichte mit Hyperion gehört?«
»Von de Darmond? Ja, natürlich. Schrecklich. Übrigens habe ich bei seiner Bank erst vor kurzem einen Kredit für InterDirections beantragt.« Inglethorpe wischte ein imaginäres Stäubchen von seiner Hose. »Das wäre eine gute Investition für Hyperion gewesen.«
Sein Ton war nonchalant, aber Sir Anthony entdeckte dahinter die Besorgnis, wo jetzt das Geld herkommen sollte. Er verkniff sich eine beißende Bemerkung über InterDirections. Es war ein Medienkonzern, geprägt von der Persönlichkeit seines Zusammensetzers, denn letzten Endes hatte sich Inglethorpes Tätigkeit wesentlich mehr aufs Zusammensetzen beschränkt als aufs Aufbauen. Aufbauen erforderte jahrelange Geduld – die Entwicklung und Herstellung guter Produkte und die entsprechende Überzeugungsarbeit, um mehr Leute dazu zu bringen, sie zu kaufen. Fusionen und Zukäufe waren eine rein mechanische Angelegenheit – man musste wissen, wie man das Geld verschob und wo die Leichen im Keller waren. Die Leichen gingen nie aus, aber die Finanzierung solchen Wachstums auf dem Papier erforderte einen nie versiegenden Kapitalfluss … oder korrupte Wirtschaftsprüfer. Aber angesichts der jüngsten Wachsamkeit in Hinblick auf getürkte Bilanzen war es besser, angesehene Wirtschaftsprüfer zu engagieren und das Geld aufzunehmen. Er hatte gehört, dass Inglethorpe sich wieder einmal mit Fusionsplänen trug, diesmal in Deutschland.
»Laut Duchesne«, sagte Sir Anthony, »hält die französische Polizei bestimmte Einzelheiten über den Mord zurück, solange die Ermittlungen noch laufen.«
Inglethorpes blaue Augen begannen zu strahlen. »Diese Geschichte hat in der Tat hohe Wellen geschlagen. Weiß Duchesne, was sie zurückhalten?«
»Offensichtlich hatte der Baron einen offiziell nicht angekündigten Besucher, den er persönlich an einem Seiteneingang abholte und nach einem Mittagessen auf einer geschützten Terrasse unbemerkt nach oben in sein Arbeitszimmer mitnahm. Seinen Bediensteten zufolge war er bei seinen wichtigsten Kunden sehr auf Diskretion bedacht.«
»Zweifellos einer der Gründe, warum der Baron Ärger mit den Behörden hat – beziehungsweise hatte. Hat jemand seinen ›Besucher‹ gesehen?«
»Ein Diener – der Butler, der das Mittagessen servierte. Er wurde ebenfalls ermordet. Ziemlich üble Geschichte. Er wurde erstochen.«
Inglethorpe schaute in sein Glas. »Aber wahrscheinlich nicht wirklich überraschend. Er hätte den Mörder identifizieren können.« Er blickte auf. »Hat die Polizei schon irgendwelche Spuren entdeckt?«
»Eine kleine Unregelmäßigkeit. Etwa zur gleichen Zeit stahl ein Hausangestellter ein Auto. Das Problem ist allerdings, dass im Schloss kein Hausangestellter fehlte. Dennoch behauptet der Wachmann am Tor steif und fest, einen Mann in Livree mit dem gestohlenen Auto wegfahren gesehen zu haben. Der Wagen wurde später in Chantilly gefunden.«
Inglethorpe nahm einen Schluck Cognac. »Der Wagen kann ja wohl schwerlich von selbst dorthin gelangt sein. Wie erklären Sie sich das? War der Autodieb der Mörder?«
Sir Anthony wollte gerade antworten, als über Lautsprecher der Start angekündigt wurde. Als darauf die Triebwerke aufheulten und der Jet die Startbahn hinunterraste, nahm er einen kräftigen Schluck Cognac. Die Räder lösten sich vom Boden, und die Maschine stieg hoch und drehte nach Norden ab. Sir Anthony blickte wieder auf das glitzernde Lichtermeer hinab, aber statt einer romantischen Idylle sah er jetzt eine von schwerer Arbeit erschöpfte Stadt, die sich erlösendem Schlaf entgegensehnte, einen Ort, an dem vieles schief gehen konnte und auch schief ging. Wo das Oberhaupt einer alteingesessenen Bankiersdynastie in seinem streng bewachten Schloss ermordet werden konnte, ohne dass die Polizei irgendwelche Hinweise auf den Täter hatte.
»Gibt es sonst noch etwas über die Ermordung des Barons?«, fragte Inglethorpe.
Wieder fiel Sir Anthony Helios’ Interesse auf. Dennoch durfte er nicht zu viel hineinlesen. Unter Umständen bedeutete der Tod des Barons auch nur, dass er seinen Kredit nun nicht mehr zu den günstigen Bedingungen bekäme, wie sie vielleicht ein Mitglied der Schlange einem anderen gewährt hätte.
»Das ist leider alles, was ich darüber weiß«, erklärte Sir Anthony. »Außer natürlich, dass die Baronin untröstlich ist.«
»Das war zu erwarten.«
»Es gibt bestimmt ein großes Begräbnis. Ein Trauerzug von der Länge der Champs-Elysées, oder zumindest hofft sie das, was angesichts seiner Prominenz und der ihrer beiden Familien vermutlich auch gar nicht so unrealistisch sein dürfte.«
Die zwei Männer nickten sich gegenseitig zu.
»Wir werden einen Ersatzmann wählen müssen«, sagte Inglethorpe vorsichtig. Er war erst fünf Jahre dabei und der letzte Neuzugang der Schlange, weshalb er bisher noch nicht an der Wahl eines neuen Mitglieds teilgenommen hatte. »Haben Sie schon jemand Bestimmten im Auge? Natürlich jemanden aus der Alten Welt, damit das ausgewogene Verhältnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten erhalten bleibt.«
»Ein paar Ideen habe ich auf jeden Fall. Sie doch sicher auch.«
»Der Bruder des Barons wäre ein nahe liegender Kandidat«, sagte Inglethorpe sofort. »Er übernimmt doch jetzt sicher die Leitung der Bank.«
»Natürlich.« Und wenn er der neue Hyperion würde, bekäme InterDirections das Darlehen höchstwahrscheinlich zu ähnlich günstigen Konditionen wie von seinem ermordeten Bruder. Sir Anthony stellte die Frage, die ihm schon die ganze Zeit auf den Nägeln brannte. »Haben Sie irgendeine Idee, wer ein Interesse am Tod des Barons haben könnte?«
Inglethorpe zog seine blonden Augenbrauen hoch und wandte den Blick ab. »Wie gesagt, hatte er Ärger mit den Behörden. Vielleicht hat den Mord einer seiner Kunden angeordnet. Es war ja mit Sicherheit auch geschickter, ihn in Frankreich zu beseitigen, anstatt direkt in Zürich.« Er richtete seine blauen Augen wieder auf Sir Anthony. »Und was gibt es sonst noch? Was ist mit den Aufzeichnungen des Carnivore? Gibt es da etwas Neues?«
»Was die Aufzeichnungen selbst angeht, nein. Aber Mac wurde ermordet, und Liz Sansborough hat gemerkt, dass ihr Handy abgehört wurde. Wir haben sie aus den Augen verloren, aber nachdem sie in London ihrem Cousin Simon Childs begegnet ist, wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach bald Kontakt mit ihm aufnehmen.« Er kannte die Childs-Familie gut. »Simon Childs arbeitet für den MI6.« Inglethorpe ließ eine lange Reihe wüster amerikanischer Flüche vom Stapel.
»Childs fand heraus, dass sein Vater erpresst worden war«, fuhr Sir Anthony fort, »und jetzt unternimmt er einen privaten Rachefeldzug, um herauszufinden, wer die Aufzeichnungen in seinen Besitz gebracht hat. Das könnte durchaus von Vorteil für uns sein, wenn es uns zu verhindern gelingt, dass er es gleich an die große Glocke hängt, und wenn wir ihn nicht aus den Augen verlieren.«
»Und wenn er es nicht im Auftrag des MI6 tut?«, fragte Inglethorpe ungehalten.
»Allem Anschein tut er das auch nicht. Aber andererseits ist da ja auch noch die CIA. Sansborough hat mit ihrem alten Kontaktmann Verbindung aufgenommen, weil sie natürlich dachte, sie würde für die CIA arbeiten.«
Inglethorpe explodierte. »Wie konnten Sie diese Operation dermaßen außer Kontrolle geraten lassen! Sansborough ist verschwunden, MI6 und CIA könnten uns jeden Moment auf die Schliche kommen, und vor allem wissen wir immer noch nicht, wo diese verdammten Aufzeichnungen sind oder wer sie hat! Sie sind schließlich der Chef der Schlange! Das geht auf Ihre Kappe!«
Sir Anthony verkniff sich eine scharfe Erwiderung. »Ich bin nicht in dem Sinn der Chef, wie Sie das insinuieren, Nick, und das wissen Sie sehr wohl. Ich bin lediglich der Primus inter pares. Vergessen Sie nicht, dass auch ich nur eine Stimme habe. Wir – und zwar jeder von uns – haben uns für diesen Plan entschieden. Was hätten wir auch anderes tun können, als klar wurde, auf welch großes Interesse ihre Fernsehsendung stieß und dass sie eine Folge über Attentäter plante? Wie hätte der Erpresser in Anbetracht dessen das Risiko eingehen können, dass Millionen Fernsehzuschauer von den Aufzeichnungen erführen? Das war doch auch Ihre Befürchtung. Oder hätten Sie sonst etwa ihre Serie abgesetzt? Wie sich inzwischen gezeigt hat, lagen wir in unserer Einschätzung der Lage vollkommen richtig. Sansborough wäre in Santa Barbara um ein Haar ermordet worden.«
»Es war eine Entscheidung, die purer Verzweiflung entsprang«, sagte Inglethorpe hartnäckig.
»Die Lage ist ja auch verzweifelt. Wir müssen diese Aufzeichnungen finden, koste es, was es wolle!«
»Weiß der Rest der Schlange, was passiert ist?«
»Ich werde die anderen Mitglieder umgehend informieren. Wir müssen noch heute Abend zusammenkommen.«
Inglethorpe fasste Kronos hart ins Auge. »Sie wollen doch etwas. Was?«
Es wurde Zeit, den dreisten Amerikaner schmoren zu lassen. In aller Ruhe trank Sir Anthony seinen Cognac aus, genoss seine geschmackliche Fülle und Vielfalt und das einlullende Summen des Jets. Es ging eben nichts über Geld und die Annehmlichkeiten, die man damit kaufen konnte. Er stellte den Cognacschwenker auf seinen Tisch, und sein frostiger, unnachsichtiger Blick heftete sich auf den jungen Inglethorpe. Der Medienzar starrte finster zurück, aber es war auch Nervosität in seinem Blick. Gut.
Sir Anthony begann: »Sansboroughs Kontakt glaubt, sie leidet an Rückblenden. Deshalb mache ich mir etwas Sorgen, die CIA könnte sie von ihren Agenten suchen lassen. Zugleich könnten sie auch der Frage näher nachgehen, ob Asher Flores tatsächlich angeschossen wurde. Jedenfalls ist das Letzte, was wir im Augenblick gebrauchen können, dass die CIA herumzuschnüffeln beginnt. Es gibt zu viel, was sie herausfinden könnten. Sind wir uns so weit einig?«
»Sie könnten unseren Plan vereiteln«, sagte Inglethorpe argwöhnisch. »Das, was davon noch übrig ist.«
»Ganz richtig. Zugleich haben wir noch den MI6. Es ist nicht auszuschließen, dass Simon Childs sie auf die Sache aufmerksam gemacht hat. Jedenfalls können wir es uns im Moment nicht leisten, dass sich auch der MI6 noch einmischt. Das sehen Sie doch sicher auch so.«
»Nicht ganz.«
Sir Anthony ließ sich nichts vormachen. »Um den MI6 werde ich mich kümmern. Aber wie wäre es, wenn Sie sich in Langley der Sache annähmen. Nein, Nick, hören Sie mir erst zu. Sie tun den Geheimdienstleuten schon jahrelang den einen oder anderen Gefallen. Wenn sie mal die Tarnung eines Journalisten brauchten – Sie haben sie zur Verfügung gestellt, und ohne Fragen zu stellen. Sie haben ihnen geholfen, ihre Leute im Irak und in Afghanistan, Pakistan und Bosnien einzuschleusen … Wir müssen unbedingt verhindern, dass sie über Sansborough Nachforschungen anstellen. Und zwar sofort. Noch können wir die Dienste aus allem heraushalten, aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Sobald die Maschinerie einmal ins Rollen gerät, ist es zu spät. Das heißt, die Sache duldet keinen Aufschub. Die CIA muss sich total zurückziehen, und Sansborough muss auf sich allein gestellt bleiben, falls sie wieder anruft. Sie muss weiterhin vollkommen selbstständig operieren, ohne irgendwelche Einflussnahme von außen. Werden Sie das veranlassen?«
Zunächst schüttelte Helios den Kopf. Doch als er aufblickte, sah Kronos Unschlüssigkeit in seiner Miene. Das war höchst ungewöhnlich. Kronos zog die Stirn in Falten, und Helios wandte den Blick ab. Doch dann setzte er sich aufrecht hin, und Kronos wusste, er hatte eine Lösung gefunden.
Helios lächelte. »Ist das alles? Mein Gott, Kronos, für einen Texaner ist das doch ein Klacks. Dafür kenne ich genau den richtigen Mann. Seine Identität wird allerdings mein Geheimnis bleiben müssen. Es wird alles zwischen ihm und mir bleiben. Aber betrachten Sie die Sache als erledigt.«
Zwanzig Minuten, nachdem der Privatjet in Gatwick gelandet war, hatte sich Nick Inglethorpe in eine Herrentoilette zurückgezogen und telefonierte mit seinem Handy. »Bist du sicher, es fällt nicht auf uns zurück?«
»Nicht, wenn ich die Sache in die Hand nehme, Nick. Das weißt du doch.«
»Ich wusste, dass du für so etwas der richtige Mann bist. Aber davon braucht Kronos nichts zu wissen, ja?«
»Ganz wie du willst. Wusste der alte Herr irgendetwas Neues über die Aufzeichnungen des Carnivore?«
»Nein. Er baut nur ständig weiter Mist.« Inglethorpe spürte schon seit einiger Zeit, dass seine jüngste Erwerbung in bestimmten Kreisen für Befremden sorgte und er seitdem bei der Schlange und insbesondere bei Kronos mehr und mehr in Ungnade fiel. Deshalb war es ein geschickter Schachzug, Kronos in dem Glauben zu lassen, Medienzar Nicholas Inglethorpe hätte immer noch Einfluss auf die CIA. »Jedenfalls vielen Dank. Dafür bin ich dir was schuldig.«
»Ja, Nick, das bist du.« Die Verbindung wurde unterbrochen.