VIERZEHN
Anruf in Brüssel
»Hier Hyperion.«
»So früh schon? Ist etwas passiert? Wo sind Sie?«
»Auf dem Weg zu meinem château. Ich würde gern über etwas reden, was für uns beide von größter Wichtigkeit ist, Kronos.«
»Sie hören sich sehr überzeugt an.«
»Aber sicher. Wie es aussieht, kann ich Ihnen vielleicht sagen, wer der Erpresser ist.«
»Oh! Sie können meiner ungeteilten Aufmerksamkeit gewiss sein. Wer?«
»Noch nicht, Kronos. Aber wenn alles so kommt, wie ich glaube, werde ich Ihnen den Namen in Kürze mitteilen können. Allerdings unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Absolute Geheimhaltung. Niemand darf erfahren, dass ich die Quelle bin. Sind Sie mit dieser Abmachung einverstanden?«
»Interessant. Werden Sie erpresst, Hyperion?«
»Das tut dabei nichts zur Sache.«
»Ist dieser Erpresser jemand, den wir beide kennen?«
»Ich werde nicht weiter darüber sprechen. Also was ist? Steht unsere Abmachung? … Kronos? Sind Sie noch dran?«
»Ja, natürlich. Abgemacht. Ich freue mich schon auf Ihren Anruf. Aber seinen Sie vorsichtig, Hyperion. Der Mann, der die Aufzeichnungen hat, ist ein Killer. Aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen, oder?«
London
Das Londoner East End, noch nie als wohlhabende Gegend bekannt, war im Zuge der Globalisierung noch mehr unter die Räder gekommen. Die wirtschaftlichen Umstrukturierungen, die allerorts die Mittelschicht ausbluten ließen, fanden hier in heruntergekommenen Häusern und dichtgemachten Geschäften ihren Niederschlag. Liz kam an fünf Läden in Folge vorbei, die allesamt mit Brettern vernagelt waren. Vor den Pubs des Viertels standen Männer und Frauen, alle mit einem Bierglas in der Hand, ihre Zigaretten bis auf den Filter herunter geraucht. Auf den Straßen herrschte dichter Verkehr, und Menschen mit stumpfen Gesichtern trotteten müde nach Hause.
Obwohl sie keinen Schatten hatte entdecken können, wurde Liz das Gefühl nicht los, die ganze Zeit observiert worden zu sein. In Heathrow hatte sie auf einer Toilette erneut ihr Aussehen verändert, damit sie nicht mehr genau wie die Frau aussah, die aus Paris abgereist war. Die Hose des hässlichen Hosenanzugs hatte sie anbehalten, aber Baskenmütze, Jacke und Sarahs Sonnenbrille hatte sie in ihrer Umhängetasche verstaut. Sie hatte sich das Haar gekämmt und Wimperntusche und dunkelroten Lippenstift aufgetragen. In ihrem ärmellosen Top und mit ihrer normalen Haltung würde Tish sie auch nach all den Jahren sofort erkennen. Nötigenfalls konnte sie aber auch jederzeit wieder in ihre frühere Tarnung schlüpfen.
Unauffällig die dämmrige Straße beobachtend, hielt sie nach dem Mietshaus Ausschau, in dem Tish Childs wohnte. Eine Straße weiter entdeckte sie es. Die Eingangstür befand sich in der Durchfahrt. Sie warf einen letzten prüfenden Blick hinter sich. Dann stieg sie die Treppe hinauf und klopfte an die Tür von Tishs Wohnung. Von dem Gemüseladen im Erdgeschoss stieg der Geruch von verfaulendem Obst und Gemüse nach oben.
Tishs Miene leuchtete überrascht auf, als sie die Tür einen Spalt breit öffnete. Sie war eine müde aussehende Frau Ende fünfzig mit einem flotten roten Schal um den Hals und sorgfältig aufgetragener schwarzer Wimperntusche.
»Liz, komm rein. Das ist aber eine Überraschung. Eine Tasse Tee? Hab grade Wasser aufgestellt. Ist sofort fertig. Wie hast du mich überhaupt gefunden?«
Sie trug einen abgetragenen Morgenmantel und Pantoffeln. Sie strich den Morgenmantel glatt, drehte sich um und ging etwas unbeholfen in die Wohnung zurück, allerdings immer noch mit der stolzen Haltung, die Liz von früher in Erinnerung hatte. Das Bett stand in einer Ecke, und gegenüber befand sich eine Sitzgruppe. Dazwischen war die Kochnische. Telefon gab es keines. Im Moment wahrscheinlich zu teuer.
Liz betrat die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. »Ich habe deine Adresse aus dem Internet. Wie geht’s dir so, Tante Tish?«
»Ach, du meine Güte. Aus dem Internet? Damit werde ich mich wohl nie mehr anfreunden. Aber lass bitte diesen ›Tante‹-Unsinn. Da fühle ich mich ja noch älter. Außerdem bin ich ja gar nicht mehr deine richtige Tante.«
»Und ob du das noch bist. Einmal Tante, immer Tante.«
»Das ist wirklich nett von dir, Liz. Möchtest du dich vielleicht dort drüben setzen? Dort ist es zumindest sauber.«
Das Sofa, das sie meinte, war durchgesessen und verblichen, aber ordentlich. Liz nahm Platz und sah zu, wie Tish das Gas unter einem Wasserkessel aufdrehte. Durch das einzige Fenster fielen die Strahlen der tief stehenden Abendsonne. Im Zimmer war es kühl geworden, und die einzige Wärme kam vom Herd, wo auf einer Gasflamme eine große Kaffeedose ohne Deckel und Boden stand, in deren Seiten Löcher gestanzt waren. Keine sehr wirksame Heizung, aber eine billige: In England waren die Energiepreise wieder einmal in astronomische Höhen gestiegen.
Liz erzählte erst einmal munter drauflos, während Tish Wasser heiß machte, um Tee zu kochen.
»Leider habe ich nur Orange Pekoe«, sagte Tish. »Aber ich trinke ihn sehr gern.«
Liz vermutete, dass es ihre einzige Teesorte war – einfach und billig. »Eine meiner Lieblingssorten«, versicherte sie Tish. »Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Danke, ich komme schon zurecht.«
Tish stülpte einen gehäkelten Teewärmer über die Teekanne. Dann stellte sie die Kanne, ein Milchkännchen und zwei Teetassen auf ein Tablett und trug es zu dem verschnörkelten Couchtisch. Ihre Schritte waren eckig und ungelenk. Schließlich ließ sie sich in einen ramponierten Ohrensessel sinken und beugte sich vor, um das Tablett auf den Tisch zu stellen. Über die Rückenlehne des Sessels war eine elektrische Heizdecke geworfen.
Liz sagte: »Ich möchte ja nicht neugierig sein, aber hast du nach der Scheidung von Mark keinen Unterhalt oder irgendeine Abfindung bekommen?«
Tish prustete vor Lachen. Sie ließ sich gegen die Heizdecke zurücksinken und wischte sich die Augen. »Du bist gut. Mark hatte nie auch nur einen Penny übrig, meine Liebe. Warum, glaubst du wohl, hatten wir keine Kinder? Ich musste mich ja schon um ein Kind kümmern. Um ihn!« Sie fasste an die Seite des Sessels und drückte auf einen Knopf. »Die Heizdecke ist gut für meinen kaputten Rücken. Würdest du bitte den Tee einschenken, meine Liebe?«
»Mit Vergnügen.«
Der Teewärmer war einmal elegant gewesen, von Hand gehäkelt und kunstvoll gefältelt und gerafft, aber inzwischen war er nur noch schäbig. Liz goss zuerst Milch in die Tassen und dann durch ein Sieb den Tee. Aus Sparsamkeitsgründen war der Tee dünn. Doch die Tassen waren aus echtem, mit zarten gelben Rosen verziertem Porzellan, ein klassisches Muster, das Liz schon Jahre nicht mehr gesehen hatte.
Sie griff nach ihrer Tasse. »Uns gegenüber hat sich Mom nie in dieser Richtung über Onkel Mark geäußert. Ich meine, er war sehr charmant. Sah gut aus. Mir war nicht klar …«
Tishs Lachen war zu einem wissenden Lächeln abgeklungen. Sie hielt ihre Tasse mit beiden Händen umschlossen, als wollte sie sie wärmen. »Natürlich war er das. Ein richtig bezaubernder Schlawiner. Da hat er sich ja auch mächtig angestrengt. Das war allerdings auch das Einzige, wo er sich angestrengt hat. Ich war damals noch ein unbedarftes junges Ding und ging ihm total auf den Leim. Meistens hatten wir durchaus Geld, muss ich zugeben, und phasenweise habe ich es auch genauso zum Fenster rausgeworfen wie er. Im Nachhinein wundere ich mich oft, woher es eigentlich kam und wohin es ging. Aber das wollte er mir nie sagen, und nach ein paar Jahren wollte ich es auch gar nicht mehr wissen. Deshalb fing ich wieder zu arbeiten an, um sicher zu sein, dass ich immer ein paar Shilling fürs Essen und ein Dach über dem Kopf hätte.« Sie zuckte schicksalsergeben mit den Achseln, wie Liz das Mark immer hatte tun sehen. Dann fuhr sie leiser fort: »Inzwischen kann ich aber nicht mehr arbeiten. Probleme mit dem Rücken, weißt du.«
»Das tut mir Leid. Ich wusste nichts von deinen gesundheitlichen Problemen. Du solltest sehen, dass du von der Familie Hilfe erhältst.« Sie sah Tish mitfühlend an und nahm sich vor, ihren Cousin Sir Michael – Mick –, den Haupterben des Childs-Vermögens, anzurufen und ihn zu bitten, Tish finanziell unter die Arme zu greifen. »Hat denn niemand mitbekommen, wie Mark wirklich war? Onkel Robert hätte doch bestimmt etwas getan. Mutter ganz bestimmt.«
»Robbie hat uns sehr geholfen. Mark war schließlich sein kleiner Bruder. Robbie versuchte ständig, ihm einen Job zu beschaffen, aber das war nicht, was Mark wollte. Er hatte es nur aufs Geld abgesehen, so einfach ist das. Kapital für die einmalige große Chance. Deshalb unterstützte ihn Robbie jahrelang mit kleinen Beträgen, bis er irgendwann keine Lust mehr hatte, was ich ihm übrigens nicht verdenken kann. Er sagte Mark, er solle endlich mal erwachsen werden, und damit war dann Schluss mit Robbies Gewissensberuhigungs-Zahlungen, wie ich es immer nannte. Wie schlimm es wirklich war, wusste eigentlich niemand, nicht einmal Melanie. Robbie jedenfalls war sehr diplomatisch und verstand es, den Mund zu halten, und Mark selbst hatte sicher nicht vor, es irgendjemandem zu erzählen.« Ihre Stimme bekam einen bitteren Unterton.
»Was meinst du mit Sir Roberts ›Gewissensberuhigungs-Zahlungen‹?«, fragte Liz.
Tish nippte schweigend an ihrem Tee, bevor sie fortfuhr: »Ich habe Mark geliebt, Liz. Aber im Lauf der Zeit wurde er immer verbitterter, dass der Adelstitel und das Familienvermögen an Robbie gegangen waren. Aber so waren und sind die Dinge nun mal, und Melanie und Blake konnten das verstehen. Sie stellten sich darauf ein und bauten sich selbst etwas auf, wie das Töchter und jüngere Söhne seit Jahrtausenden tun. Aber genauso gab es in diesen Jahrtausenden immer schon welche, die das nicht konnten, und einer von ihnen war Mark. Er hielt stur an seiner Überzeugung fest, ihm stünden kraft seiner Geburt die traditionellen Privilegien des Landadels zu, darunter auch, nicht wie ein gewöhnlicher Bauernlümmel arbeiten zu müssen, wie er es immer ausdrückte. Deshalb trank er, nahm Drogen, spielte und machte auf großen Lebemann, als würde er ewig achtzehn bleiben und einmal die ganze Welt erben.« Ihre Lippen spannten sich. »Umgekehrt glaube ich, hatte Robbie ein schlechtes Gewissen, weil er mehr oder weniger alles bekommen hatte und seine Geschwister nur wenig. Deshalb unterstützte er Mark – nicht, dass es Mark etwas genützt hätte. Irgendwann kam dann der Punkt, an dem ich es nicht mehr mit ihm aushielt.«
»Eine traurige Geschichte, Tish.«
»Allerdings.« Sie nickte. »Für Mark und für mich.« Sie schien kurz ihren Gedanken nachzuhängen, vermutlich ihren Erinnerungen an bessere Zeiten. Dann erhellte sich ihre Miene wieder. »Aber jetzt genug damit. Das Leben geht weiter, oder etwa nicht? Noch eine Tasse Tee?«
»Gern. Ich habe ganz vergessen, wie gut englischer Tee ist.«
Liz schenkte zuerst Tish ein, dann sich selbst. Sie stülpte den Teewärmer wieder über die Kanne und griff nach dem Milchkännchen. »Ich weiß, du hast dich kurz vor seinem Tod von Mark scheiden lassen, aber hast du eigentlich mal mit ihm darüber gesprochen, warum er damals Mutter in Amerika besucht hat?«
Tish schien erstaunt über die Frage und rührte stirnrunzelnd in ihrem Tee. »Das ist ja eigenartig. Dass du das jetzt fragst, meine ich.«
»Warum, Tish?«
»Na ja, weil mir diese Frage schon einmal jemand anders gestellt hat. Ich erinnere mich deshalb so genau, weil es so ein vornehmer Typ war und weil ihm seine Neugier etwas peinlich war – völlig zu Recht, finde ich übrigens. Kannst du dir das vorstellen? Ein wildfremder Mensch, der sich nach familiären Dingen erkundigt? Ich meine, Mark und ich mögen ja geschieden gewesen sein, aber das heißt noch lange nicht, dass ich mit jedem über die Familienangelegenheiten der Childs’ spreche. Allein, auf so eine Idee zu kommen.«
»Er war nicht von der Polizei?«
»Von der Polizei? Nein, nichts Derartiges. Das wäre vielleicht etwas anderes gewesen, aber dann hätte er schon einen verdammt triftigen Grund haben und mir seinen Ausweis zeigen müssen.«
»Dann hast du diesem Mann also nichts erzählt?«
»Wäre ja noch schöner!« Sie grinste verschlagen. »Das heißt, nicht ganz. Ich erklärte sehr bestimmt, dass Mark und ich natürlich darüber gesprochen hätten. Er hatte nur eine Schwester, und es war höchste Zeit, sie zu besuchen, auch wenn sie im Ausland lebte und der Flug eine Menge Geld kostete. Natürlich stellte er mir auch noch ein paar andere Fragen, aber das war meine Antwort, und bei der blieb ich auch.«
»Wann war das, Tish? Genau. Es ist wichtig.«
Tish überlegte. »Ich würde sagen, vor fünf Jahren. Ja, fünf oder sechs Monate nach dem Tod Marks und deiner armen Mutter und ziemlich bald nach Robbies Tod. Das waren wirklich schwere Zeiten für die Familie.«
Fast genau zum selben Zeitpunkt, als die CIA sie zu einem zweiten Verhör bestellt hatte, bei dem es vor allem um die Aufzeichnungen ihres Vaters gegangen war. »Dann hat Onkel Mark also über die Reise mit dir gesprochen?«
»So ist es, ja. Er rief mich immer an, wenn es ihm dreckig ging und wenn er sentimentale Anwandlungen bekam. Aber an diesem Tag tauchte er plötzlich wie aus heiterem Himmel hier auf. Stocknüchtern. Sehr gepflegt, frisch rasiert, geschniegelt und gestriegelt. Redete von einem Neuanfang. Meinte, er hätte sich am Riemen gerissen und könnte in Kürze seine Schulden abbezahlen, sodass wir wieder zusammenleben könnten.« Ihre Augen wurden feucht. »Er flehte mich an. Er sagte, deine Mutter würde uns helfen, und es würde alles gut werden.«
Liz stellte ihre Tasse ab und beugte sich vor. »Mom wollte euch helfen? Wie?«
»Das habe ich ihn auch gefragt. Ich kann mich heute noch erinnern, wie seine Augen leuchteten. So aufgekratzt und voller Hoffnung. Er meinte, er dürfte noch nicht darüber sprechen, aber er und Melanie hätten eine Abmachung getroffen, die ihn reich machen würde. Es hatte irgendwas mit ›Great Waters‹ zu tun. Die Sache wäre schon so gut wie perfekt, meinte er.«
»Sonst hat er dir nichts über diese Abmachung erzählt? Welche Rolle Mom dabei spielte?«
Tish sah in ihre Tasse. »Nein, aber er ließ mir das Wenige, was er hatte, hier. Als er und Melanie starben, sah ich seine Unterlagen durch und stieß auf eine Akte. Sie enthielt nur Notizen, die keinerlei Sinn ergaben. Ich dachte immer, Great Waters müsste irgendeine einträgliche Ferienanlage sein. Aber selbst wenn Melanie ihm Geld gegeben haben sollte, kann ich mir nicht vorstellen, dass es so viel gewesen ist, dass er eine ganze Ferienanlage hätte kaufen können.«
Es gab also eine Akte. Liz ließ sich ihre Aufregung nicht anmerken. »Was hast du damit gemacht?«
»Ach, sie ist immer noch bei seinen Sachen. Irgendwie kann ich mich nicht von ihnen trennen, verstehst du? Der ganze Krempel ist in Fulham eingelagert. Bei Lawrence Storage. Möchtest du dir die Sachen mal ansehen? Das wäre nett. Vielleicht findest du ja ein paar Dinge, die du behalten möchtest. Kleine Erinnerungen, du weißt schon. Ich fände es schade, wenn Mark völlig vergessen würde. Ich gebe dir die Adresse und den Schlüssel.«
Zwei Stunden später war es im Londoner East End vollends Nacht geworden. Straßenlaternen warfen Pfützen aus Licht auf das schmutzige Pflaster, während Drogenbosse in blitzenden Jaguars und Bentleys vorbeiglitten. Mädchen, Jungen und Frauen standen in eng anliegenden Textilien an Straßenecken und hofften, ihren Lastern frönen zu können. Entsprechend wenig Beachtung wurde da der Gestalt im schwarzen Overall geschenkt, die lautlos die Tür öffnete, die zu den Wohnungen über dem Gemüseladen hinaufführte.
Einmal im Haus, zog sich der Eindringling die Skimaske über das Gesicht und stieg leise und ohne Eile die Treppe hinauf. Er klopfte an Tish Childs’ Tür. Sobald er hörte, wie der Riegel zurückgezogen wurde, drückte er mit der Schulter die Tür auf.
»Wo ist sie?«
Er schob Tish Childs in das Zimmer zurück und schloss die Tür hinter sich ab. Wegen ihrer dunkel geschminkten Augen sah sie aus wie ein in die Enge getriebener Waschbär.
»Wovon reden Sie überhaupt?«
Ihre Stimme war leise und seltsam beherrscht, nicht so verängstigt, wie der Eindringling erwartet hatte. Er nahm an, sie war im Lauf der Jahre bereits von anderen Agenten befragt worden und wartete ab, wie ernst es ihm war. Er zog die gestohlene Walther und hielt sie hoch. Das verfehlte seine Wirkung nicht. Ihre Augen verwandelten sich in verblichene Achate, blieben aber hart.
»Liz Sansborough«, sagte er. »Wo ist sie hin?«
Aufmüpfigkeit huschte über das Gesicht von Tish Childs. »Liz war nicht hier«, sagte sie triumphierend.
Er lachte kalt. Natürlich sträubte sie sich. Er hatte gewusst, dass sie das tun würde, von dem Augenblick an, in dem er den aufrührerischen Funken in ihrem Blick gesehen, den Triumph in ihrer Stimme gehört hatte. Das gefiel ihm. Er schlug sie so lang, bis sie es ihm, wimmernd und blutüberströmt, sagte. Es dauerte nicht lange. Bei Frauen war das meistens so. Bei gewöhnlichen Männern auch, und die meisten Männer waren gewöhnlich.
Zum Schluss schraubte er einen Schalldämpfer auf die Walther und tötete sie mit zwei Schüssen – einen in den Bauch, den anderen ins Herz. Er verwüstete das Zimmer, ließ etwas Kokain neben der Leiche zurück und ging rasch nach unten, wo er die Walther in eine der Mülltonnen in der Durchfahrt warf.
Seine Leute hatten ihm die Waffe, die aus dem Handschuhfach von Liz Sansboroughs Auto stammte, aus Santa Barbara geschickt. Sie würde zusammen mit der Leiche gefunden werden, sobald er der Polizei telefonisch einen Tipp gäbe.
Lawrence Lockup & Storage befand sich südlich der Brompton Road in Fulham und war ein großer Hallenkomplex mit abschließbaren Abteilen, die man auf monatlicher oder jährlicher Basis mieten konnte. Auf den Hauptverkehrsstraßen, auf denen die Londoner nach späten Geschäftsterminen oder abendlichen Vergnügungen in die Vororte zurückkehrten, herrschte dichter Verkehr, aber das Gewerbegebiet mit seinen Lagerhäusern und kleinen Fabriken war still und verlassen, und zwischen den weit voneinander entfernten Straßenbeleuchtungen lag undurchdringliches Dunkel. Simon Childs fuhr in einem Leihwagen langsam die Straße entlang. Im Büro der Lagerfirma, das sich in einem kleinen frei stehenden Bau befand, brannte kein Licht. Dahinter standen mehrere große Hallen, in denen die Lagerräume waren.
Simon parkte und stieg aus. In der Ferne waren die Flutlichtmasten eines Stadions zu sehen, und es drangen die Rufe trainierender Fußballspieler herüber. Die Nacht roch nach Staub und sich abkühlendem Asphalt.
Nach seiner Ankunft in London hatte Simon als Erstes den Anwalt der Familie Childs aufgesucht, der auch Tish Childs’ Erbschaft abgewickelt hatte. Onkel Mark hatte ihr nicht viel hinterlassen, nur etwas Geld und ein paar persönliche Dinge. Da ihre Wohnung dafür nicht genug Platz bot, hatte sie ein Lagerabteil angemietet, in dem sie anscheinend regelmäßig vorbeischaute. Der Anwalt konnte nicht verstehen, warum sie ihr weniges Geld für einen Haufen nutzloser Dinge ausgab, die bestenfalls ideellen Wert hatten. Simon fand es sympathisch.
Das Tor am Eingang des Geländes war abgesperrt. Zu dieser späten Stunde war das zu erwarten gewesen. Simon inspizierte den Maschendrahtzaun, der das Gelände umgab. Er war etwa zweieinhalb Meter hoch und mit Überwachungskameras versehen. Das hieß, irgendwo auf dem Gelände gab es einen Raum voller Monitore und einen Kerl, der diesen Job schon so lang machte, dass er sich, mit ein bisschen Glück, fürchterlich langweilte und den ewig gleichen Ansichten auf den Bildschirmen kaum Beachtung schenkte.
Kurz entschlossen sprang Simon am Zaun hoch, hielt sich fest, kletterte nach oben und sprang auf der anderen Seite zu Boden. Dann rannte er sofort auf das Bürogebäude zu und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, sodass er sich außerhalb des Blickwinkels der Kameras befand. Auf dem betonierten Hof blieb es still, und keine Lichter gingen an. Nachdem er zehn Minuten gewartet hatte, schlich Simon an einem Pick-up vorbei auf die Rückseite des Gebäudes.
Tish Childs hatte Abteil G-3 gemietet. Wie sich herausstellte, bezeichnete G die Halle, und 3 war die Nummer des Abteils. Als Simon die Tür mit der Aufschrift G-3 erreichte, war das Vorhängeschloss aufgebrochen und hing offen von seinem Bügel. In der Umgebung der Tür war kein Licht zu sehen.
Simon zog seine Pistole, riss die Tür auf und stürmte nach drinnen.
Bevor er dazu kam, sein Gleichgewicht wiederzufinden und sich darüber klar zu werden, ob seine Vorsicht berechtigt gewesen war, erhielt er die Antwort: Er bekam einen Schlag auf den Kopf, und die Pistole fiel aus seiner Hand.