NEUNZEHN
Telefonkonferenz in Paris
»Was soll das heißen, Sie haben nichts gehört, Kronos?«
»Jetzt regen Sie sich doch nicht gleich so auf, Helios. Damit habe ich nur gemeint, dass es nichts Neues von unmittelbarer Bedeutung gibt. Sind alle zugeschaltet?«
»Atlas hier. Auch ich warte schon die ganze Zeit auf eine Meldung.«
»Warum dauert das so lang? Hier ist Prometheus.«
»Hier Okeanos. Haben wir die Aufzeichnungen schon?«
»Meine Herren, bitte. Ist Hyperion zugeschaltet?«
»Ja, natürlich.«
»Sehr gut. Sansborough ist wieder in Paris. Sie hat entdeckt, dass Flores nicht mehr im Krankenhaus ist, und ist offensichtlich darüber beunruhigt. Als ich zum letzten Mal mit Duchesne sprach, war sie in einem Taxi unterwegs zu ihrem Hotel. Sobald er etwas für uns hat, gebe ich Ihnen Bescheid. Wichtig ist, dass der Druck auf sie und auf den Erpresser zunimmt. Vergessen Sie das nicht. Und auch nicht, dass noch nie eine unserer Operationen fehlgeschlagen ist. Angesichts unseres gemeinsamen Wunsches, die Aufzeichnungen in unseren Besitz zu bringen, und angesichts unserer Bereitschaft, alles zu tun, was hierfür nötig ist, bin ich absolut zuversichtlich, dass auch diese Operation ein durchschlagender Erfolg wird. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
Wütend und entschlossen, ließ sich Sarah Walker mit dem Rücken auf ihre Pritsche fallen und schlug die Beine übereinander. Sie hob ihre verkrümmten Hände hoch und zwang sich, sie zu öffnen. Sie hatte heftige Schmerzen, als sie die Finger streckte und das Blut wieder in ihnen zu zirkulieren begann. Seufzend ließ sie ihre schmerzenden Hände an ihre Seiten zurücksinken.
Das Zimmer war trocken und staubig und voller Spinnweben, als wäre es jahrelang abgeschlossen gewesen und nicht benutzt worden. Sarah starrte an die Decke. Über den Putz schlängelte sich ein langer Riss, wie die Seine. Da, wo er auf die Wand traf, fächerte er sich zu einem Delta aus breiten Strömen auf, in denen Kakerlaken hin und her flitzten wie ins Wasser tauchende Pelikane. Sie beobachtete die Tiere mit ungewöhnlichem Interesse, voller Bewunderung für ihre schimmernden Panzer, während sie sich gleichzeitig fragte, welche Krankheiten sie wohl übertrugen. Eine ziemlich verrückte Reaktion. Und ein weiterer Grund, warum sie hier dringend rausmusste.
Sarah sprang hoch und ging, die Hände schüttelnd, über den Linoleumboden. Um sich wieder an die Arbeit machen zu können, musste sie wieder ein Gefühl in ihnen bekommen. Inzwischen war sie zwei Tage hier. Das wusste sie, weil sie ihre Uhr noch hatte. Aber sie hatte keine Ahnung, wo »hier« war. Die Entführer hatten nicht nur über den zwei Fenstern Sperrholzplatten angebracht, sondern trugen auch Nylonstrümpfe über dem Kopf und sprachen kein Wort mit ihr. Von dem Moment an, in dem sie Asher niedergeschossen, sie in den Lieferwagen geworfen und ihr die Augen verbunden hatten, waren sie der stumme Feind gewesen – unerkennbar, undurchschaubar, undurchsichtig. Sie hatten sie in einem Lift in dieses Zimmer gebracht. Aber da ihre Augen verbunden gewesen waren, hatte sie nicht einmal die Stockwerke zählen können.
Als sie die Wand erreichte, machte sie kehrt und setzte ihren hektischen Marsch fort. Sie hatte Angst um Asher. Möglicherweise war er schon tot. Am liebsten hätte sie laut losgeschrien. Ihr schoss durch den Kopf, wie sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte – wie er wie eine zerbrochene Puppe im strömenden Regen gelegen hatte. So viel Blut. Zu viel Blut!
Sie sehnte sich so danach, ihn zu sehen. Ihn in den Armen zu halten. Zu wissen, dass er am Leben war. Das war der Hauptgrund, weshalb sie hier rausmusste. Um ihn zu finden.
Mit purer Willenskraft schloss Sarah ihn aus ihren Gedanken aus. Sie musste einen klaren Kopf behalten. Auf der Ranch hatte sie die Grundregeln gelernt, wie man in Gefangenschaft überlebte.
Halten Sie vom Moment Ihrer Gefangennahme an nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau.
Horten Sie alle Gegenstände, die Sie in die Hände bekommen, und verstecken Sie sie. Erfolgreiches Entkommen und Flucht hängen oft von Alltäglichem ab.
Zeigen Sie nie Schwäche.
Vergessen Sie nie, es gibt immer Hoffnung.
Beschäftigen Sie Ihren Verstand, damit Angst, Isolation und Verzweiflung Sie nicht lähmen.
Die erste Aufgabe, die sie sich stellte, war, nach versteckten Wanzen und Kameras zu suchen. Als sie keine fand, nahm sie sich das einzige Möbelstück vor – die Pritsche, die, den Spuren auf dem staubigen Linoleumboden nach zu schließen, erst vor kurzem in den Raum gezogen worden war. Sie konnte jedoch nichts Brauchbares entdecken. Nicht anders erging es ihr mit Waschbecken und Toilette.
Die Finger beugend und streckend, schritt sie an einem Haufen Fahrradreifen vorbei, einer leeren Öldose, einer Truhe mit benutzten Kleidern, leeren Kisten mit der Aufschrift PORZELLAN, leeren Streichholzheftchen und Zigarettenschachteln, die jemand in ordentlichen Packen gesammelt hatte, und einem Berg aus Pflanzentöpfen und Untersetzern aus grünem Plastik. Sie konnte alles so genau aufführen, weil sie es gründlich untersucht hatte. Der Unordnung und den Spuren im Staub nach zu schließen, hatten ihre Entführer alles sorgfältig untersucht, bevor sie beschlossen hatten, sie hier einzuschließen. Aber eines hatten sie übersehen.
Wieder zurück bei ihrer Pritsche, griff sie nach einem Männerhemd und steckte die Hände, um sie zu schützen, in die Ärmel. Dann hob sie ihren Schatz da, wo sie ihn hatte fallen lassen, vorsichtig vom Boden auf – ein Dornenschneider. Er war dünn und schmal. Sie hatte ihn zusammen mit ein paar Päckchen Rosendünger zwischen zwei zusammengeklebten Topfuntersetzern gefunden.
Sie sah zum Fenster hoch, das mit einer Sperrholzplatte vernagelt war. Rechts oben, wo ihre Bewacher es am ehesten übersehen würden, hatte sie mit dem Dornenschneider drei Nägel zu lösen begonnen. Dazu hatte sie sich auf die Pritsche stellen müssen. Jetzt machte sie sich, etwa in Schulterhöhe, an der unteren Ecke zu schaffen.
Sie lauschte. Jedes Mal, wenn sie ein Geräusch hörte, lief sie zur Tür. Normalerweise kamen sie dann in ihre Zelle, sahen sich durch ihre Strumpfmasken hindurch flüchtig darin um und ließen ihr ein Tablett mit Essen da … oder nahmen es mit. Bisher war niemand weit genug nach drinnen gekommen, um die Scharten zu bemerken, die sie in die Sperrholzplatte gehackt hatte. Schließlich ging von ihr keine große Gefahr aus. Sie war nur eine ganz gewöhnliche Journalistin.
Als sie niemanden kommen hörte, packte sie den Dornenschneider mit beiden Händen und stieß seine Spitze in das Sperrholz. Immer wieder hackte sie, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt, auf die Platte ein, trieb die Spitze in das Holz und zog sie wieder heraus. Holzstücke und Splitter flogen durch die Luft. Um die Abfälle an die Wand zu fegen, machte sie alle paar Minuten eine Pause.
Chantilly
Das Château de Darmond lag inmitten sanft gewellter grüner Hügel, nicht weit von dem idyllischen Dorf Chantilly, etwa vierzig Kilometer nördlich von Paris. Dorthin war Simon in einem gemieteten Peugeot unterwegs. Die Türme und Bogengänge des imposanten Châteaus erhoben sich hinter einer hohen Steinmauer, auf der, fast unsichtbar, Drähte gespannt waren, die wahrscheinlich unter Strom standen oder mit Bewegungssensoren versehen waren.
Als er sich dem Schloss näherte, ging das kunstvoll verzierte hölzerne Eingangstor auf und ein von einem Chauffeur gesteuerter Rolls-Royce – ein wunderschöner alter Silver Cloud – glitt nach draußen. Auf dem Rücksitz saß die Baronin. Sie sah genau wie auf dem Foto aus, das er im Internet gefunden hatte – mit grauen Haaren und hartem Gesicht. Der Torwächter zog die Mütze. Die Baronin nickte. Noblesse oblige.
Simon fuhr um den Besitz herum und kam dabei an einem zweiten Tor vorbei, das einem Schild zufolge Lieferanten und Bediensteten vorbehalten war. Er entdeckte mehrere Wachmänner, die entlang der Grundstücksgrenze patrouillierten. Der Besitz war gut bewacht, und es würde nicht einfach, bei Tageslicht hineinzukommen. Er musste sich etwas einfallen lassen.
Rasch fuhr er zur Hauptstraße zurück und weiter nach Chantilly, wo er den Rolls-Royce der Baronin vor ein paar idyllischen Läden stehen sah. Er hängte sich eine Kamera um und brach zu einem kleinen Spaziergang auf. Er sah in jedes Schaufenster und fotografierte die Blumen davor. Als er die Baronin schließlich in der Patisserie entdeckte, betrat er den Laden und bewunderte die pastellfarbenen Meringues in einer Glasvitrine.
»Sie liefern sie doch jetzt gleich ins Château«, sagte die Baronin zu der Verkäuferin.
»Selbstverständlich, Madame.« Die Frau hatte glänzende rote Backen. »Sehr gern.«
Das hörte sich schon wesentlich besser an. Wieder draußen auf der Straße, checkte Simon sein Handy. Es waren keine Nachrichten eingegangen. Er machte es aus und holte ein paar Sachen aus seiner Sporttasche, bevor er sie im Kofferraum einschloss. Obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug, ging er ganz gemächlich in die Einfahrt der Bäckerei. Als er dort niemanden sah, flitzte er nach hinten und konnte gerade noch rechtzeitig hinter einem Müllcontainer in Deckung gehen, als eine Angestellte mit mehreren Schachteln Gebäck durch den Hinterausgang nach draußen kam. Die hübsche, etwa achtzehnjährige Frau stellte die Schachteln in ein Regal im Laderaum eines Lieferwagens und befestigte sie mit Gummibändern.
Sobald sie die Hecktür geschlossen hatte und wieder in der Backstube verschwunden war, sprintete Simon los, riss die Hecktür auf und sprang in den Lieferwagen. Dann schloss er leise die Tür und kauerte neben den Schachteln nieder. Mit ein bisschen Glück brächte ihn der Lieferwagen in das Schloss. Wie er wieder herauskäme, musste er sich überlegen, wenn es so weit war. Einfallsreichtum war entscheidend für das Überleben eines Agenten.
Endlich wurden wieder Schritte hörbar. Da die junge Frau die Tür des Lieferwagens geschlossen hatte, nahm er an, sie würde sich ans Steuer setzen und losfahren. Stattdessen kam sie wieder auf die Hecktür zu. Wenn sie die Tür aufmachte, würde sie fast mit der Nasenspitze auf ihn stoßen. Ihre Schritte waren leicht, aber auf dem Asphalt deutlich zu hören. Sie blieb an der Hecktür stehen.
Still in sich hineinfluchend kletterte Simon in dem Moment, in dem das Mädchen die Hecktür öffnete, auf den Beifahrersitz und stieß sich dabei am Armaturenbrett die Schulter an. Das Rutschen von Pappe. Das Schnalzen eines Gummibands. Die Tür ging wieder zu, und Simon kletterte seufzend in den Laderaum zurück.
Bevor er sich, seine schmerzende Schulter massierend, ganz auf den Boden gesetzt hatte, sprang die junge Frau auf den Fahrersitz, startete den Motor und fuhr los. Sie rauchte Gauloises und beschleunigte vor jeder Kurve, sodass der Lieferwagen gefährlich ins Schlingern geriet. Während scharfer Zigarettenrauch nach hinten wallte, drehte sie den Motor hoch und holperte so wild über eine Reihe von Unebenheiten, dass Simon sich nicht nur um seine Sauerstoffzufuhr Gedanken zu machen begann, sondern auch um seine Zahnfüllungen. Die Füße gegen die Seitenwand des Lieferwagens gestemmt, hielt er sich mit beiden Händen an einem der Türgriffe fest. Kein Wunder, dass sie die Schachteln mit dem Gebäck festgezurrt hatte.
Schließlich hielt sie vor dem Lieferanteneingang des Château de Darmond an, wechselte ein paar Worte mit dem Wachmann und fuhr in moderatem Tempo, fast bedächtig auf das Schlossgelände. Kies knirschte unter den Reifen, bevor sie schließlich parkte. Sobald sie ausstieg, kletterte Simon auf den Vordersitz.
»Monique! Schön, dich wieder mal zu sehen!«, ertönte eine Männerstimme.
Als Simon sich aufrichtete und durch die Windschutzscheibe spähte, sah er, dass sie mit einem Mann sprach, der eine Kochmütze trug. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie das Gebäck ausladen würde, und bis dahin musste er verschwunden sein. Er rutschte auf die andere Seite des Führerhauses, öffnete geräuschlos die Tür, glitt nach draußen und drückte die Tür wieder zu. Geduckt beobachtete er ihre Füße, die jetzt in seine Richtung zeigten. Endlich wandten sie sich wieder der Küche zu, worauf er losrannte und mit einem gewaltigen Satz hinter den Büschen entlang der Küchenmauer in Deckung ging.
Er nahm eine rasche Bestandsaufnahme vor: Der weiße Lieferwagen stand an der Küchentür. Durch ein offenes Fenster drang der Duft von gebratenem Fleisch. Dahinter war eine Frau mit einer Kochmütze bei der Arbeit. Der Platz vor der Küche ging in einen gekiesten Parkplatz über, der von Vorder- und Rückseite des Châteaus wegen des Halbrunds des Küchenflügels und einer brusthohen Mauer nicht einzusehen war. Der überwiegenden Mehrheit alter Autos nach zu schließen, die hier geparkt waren, handelte es sich um den Parkplatz für die Angestellten.
Nachdem Simon sich noch einmal umgesehen hatte, schlich er im Schutz der Büsche an der Mauer entlang auf die Vorderseite des Schlosses. Als plötzlich drei Gärtner mit Gartenscheren unter einer Baumgruppe hervorkamen, zog er sich hinter einen Stützpfeiler zurück. Einen Augenblick lang bildete er sich ein, unter den Bäumen noch jemanden gesehen zu haben. Vielleicht einen Wachmann.
Endlich verschwanden die Gärtner, und Simon huschte dicht an der Mauer des Châteaus entlang weiter, bis er um einen weiteren Stützpfeiler spähen konnte. Und was er jetzt sah, ließ ihn seine verqualmten Lungen und seine schmerzende Schulter vergessen. Etwa fünf Meter weiter saßen zwei Männer in Anzügen auf einer geschützten Terrasse. Sie speisten wie zwei orientalische Potentaten an einem leinengedeckten Tisch unter einem gestreiften Sonnenschirm, der sie und das Tafelsilber und das Kristall schützte, als hinge am Himmel über dem Schloss eine erbarmungslose Wüstensonne.
Simon erkannte das lange, faltige Gesicht von Baron Claude de Darmond, dessen Stuhl ihm zugewandt war. Sehr gut. Der Herr Baron war beschäftigt. Diese Gelegenheit durfte er sich nicht entgehen lassen. Sicher hatte der Baron irgendwo im Schloss ein Arbeitszimmer, und das wollte sich Simon näher ansehen. In der Hoffnung, der andere Mann würde sich umdrehen, wartete Simon ein paar Minuten. Vielleicht kannte er auch ihn. Aber die beiden Männer waren ganz in ihr Gespräch vertieft und unterhielten sich weiter.
Schließlich gab Simon auf und zog sich zurück. Behutsam öffnete er eine kleine Seitentür, die in einen Gang voller alter Gobelins, Porträts und kleiner Gemälde führte. Die Luft stand vollkommen still. Schwitzend eilte Simon in Richtung Küche und machte rasch den Umkleideraum der männlichen Angestellten aus. Dort fand er, was er suchte – eine Dienerlivree in seiner Größe.
Sobald er sich umgezogen hatte, schnappte er sich ein Silbertablett von einem Stapel neben der Tür, wischte sich den Schweiß von der Stirn und brach, das Tablett auf den Fingerspitzen balancierend, zu einem Erkundungsgang auf.
Die Salons waren voll mit Antiquitäten, alle mit dem edlen Glanz jahrhundertelanger Pflege. Das Esszimmer zierten Löwenfelle, Hirschgeweihe und Gemälde mit Jagdszenen. Er war schon ziemlich weit gekommen, als leise Schritte näher kamen. Er zog sich in eine Kammer zurück, in der es nach Bleichmittel und Bohnerwachs roch.
Als sich die Schritte entfernten, verließ er sein Versteck und setzte seine Suche fort, bis er schließlich im Obergeschoss ankam.
Dort fand er das Arbeitszimmer des Barons, groß genug für die Queen Mary und mit einen herrlichen Blick auf den Park des Châteaus. Vor der Glastür zum Balkon standen ein Louis XIV.-Schreibtisch und eine Anrichte. Auf der linken Seite befand sich ein großer Kamin mit einer opulenten Sitzgruppe. Was den Raum als persönliches Refugium des Bankiers zu erkennen gab, war eine Wand voller Fotos, auf denen er mit allen nur erdenklichen Berühmtheiten zu sehen war – von Henry Kissinger bis zu Maria Callas, von Arnold Schwarzenegger zum ehemaligen englischen Premier John Majors, von beiden George Bushs bis zu weniger prominenten internationalen Wirtschaftsgrößen.
Bei der Beschaffung von Geheiminformationen gilt normalerweise: je kleiner, desto besser. Simon hatte eine winzige Digitalkamera dabei, die aussah wie ein englischer Shilling. Damit nahm er jetzt rasch die Wand mit den Erinnerungsfotos des Barons auf. Dann eilte er an den Louis XIV.-Schreibtisch, auf dem ein Stapel Aktenordner der Aufmerksamkeit des Barons harrte.
Sie alle durchzusehen, reichte die Zeit nicht. Deshalb öffnete Simon den ersten und machte sich an die Arbeit. Er fotografierte jede Seite. Er war gerade beim letzten Ordner angekommen, als draußen auf dem Gang Stimmen näher kamen. Hastig fotografierte er die letzten drei Seiten, steckte mit der linken Hand den »Shilling« in die Hosentasche, richtete mit der rechten die Ordner aus und zog sich an die Glastür zurück.
Als die Zimmertür aufging, huschte er auf den Balkon hinaus, zog die Tür hinter sich zu und drückte sich daneben an die Wand.
»Das dauert alles viel zu lang!« Simon kannte die Stimme von einem Internet-Interview. Es war der Herr Baron, der sich aufgebracht beklagte.
»Ihre Aufregung ist unbegründet, Hyperion.« Die zweite Stimme war ruhig, fast teilnahmslos.
Simon erkannte sie nicht. Ihr Französisch war gut, aber nicht das eines gebürtigen Franzosen. Und was sollte dieses »Hyperion«? Ein Deckname? Um der Resistance angehört zu haben, war der Baron nicht alt genug. Ein ehemaliger Agent des Deuxième Bureau? Vielleicht SDECE?
»Rechtliche Grauzonen auszunutzen, um Geld zu verdienen, ist eine Sache«, sagte der Baron, der zunehmend lauter wurde. »Aber jemanden umzubringen ist eine ganz andere. Erst die Frau in London und jetzt der Mann hier in Paris – direkt vor unserer Haustür! Mit diesem Mistkerl Terrill Leaming war das natürlich etwas anderes. Aber inzwischen ist mir klar geworden, dass ich mich da von Ihnen auf keinen Fall hätte hineinziehen lassen dürfen. Wie viele sollen noch sterben? Damit muss Schluss sein. Ich gebe Ihnen das Geld, aber nur für die Aufzeichnungen des Carnivore. Das ist mein Preis. Die Aufzeichnungen, und zwar alle, oder Sie erhalten von meiner Bank keinerlei Unterstützung, und in Dreftbury werde ich massiv gegen Sie opponieren. Sollte es tatsächlich so weit kommen, werde ich sogar die Schlange davon in Kenntnis setzen, dass Sie es sind, der hinter all dem steckt.«
Simon packte eiskalte Wut. Der andere Mann war der Erpresser, nach dem er suchte. Der Mann, der Sir Robert in den Selbstmord getrieben hatte.
»Mon Dieu! Was …« Vor Entsetzen bekam die Stimme des Barons fast etwas Schrilles.
Aufgeregt, rückte Simon näher auf die Glastür zu. Er wollte unbedingt das Gesicht dieses Dreckskerls sehen. Wer war er?
Ein Schuss fiel, ein schallgedämpftes Plopp.
Von einem heftigen Adrenalinstoß angestachelt, riss Simon seine Beretta heraus, nahm die Schulter nach unten und warf sich genau in dem Moment durch die Glastür, als die Tür zum Flur zuging. Gleichzeitig ertönte hinter ihm ein leises Rascheln. Er wirbelte herum und sah den Baron, schlaff wie eine tote Ratte, zu Boden sacken. Die hohe Lehne seines Schreibtischsessels war mit Blut und Gehirnmasse bespritzt. Simon rannte durch das Zimmer auf den Gang hinaus, dem Mörder hinterher.