SIEBENUNDVIERZIG

Irgendwo im Norden Europas

Sarah schrak aus dem Schlaf hoch, obwohl das rhythmische Hämmern der Brandung nachgelassen hatte, was vermutlich bedeutete, dass Ebbe herrschte. Das Morgenlicht, das schräg durch die vergitterten Fenster fiel und von den Wänden aus jahrhundertealten roten Sandsteinblöcken zurückgeworfen wurde, tauchte alles in einen matten rosafarbenen Schein. Sie löste sich von Asher, der tief geschlafen zu haben schien, seit ihm wieder warm geworden war. Sie stand auf und ging in ihrer Gefängniszelle umher, um nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen. Doch die mächtigen Sandsteinquader erstickten jede Hoffnung im Keim.

Sie untersuchte gerade die massive Holztür mit den schweren Eisenbeschlägen, als sie ein metallisches Quietschen hörte. Ein Riegel wurde zurückgezogen. Sie trat rasch zurück, und die Tür ging auf. Vor ihr stand einer der Männer von vergangener Nacht. In einer Hand hatte er eine AK-47, mit der anderen hielt er ihr eine Papiertüte hin. Hinter ihm war ein schmaler, niedriger Steingang zu erkennen, wie er für mittelalterliche Burgen typisch war.

»Sandwiches.« Der Mann sah sich nur flüchtig in der Zelle um.

Sie beobachtete ihn so beiläufig wie möglich. Er hatte dichte Augenbrauen, und sein schiefes Gesicht wirkte gelangweilt. Er hielt das Gewehr locker in der Hand, und in einem Lederfutteral an seinem Gürtel hatte er ein Handy hängen.

»Danke«, sagte Liz freundlich. »Haben wir heute gutes Wetter?«

Der Mann sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren, und wandte sich zum Gehen.

»Sollen wir davon etwa satt werden?«, protestierte Sarah. »Wir haben Hunger.«

»Mehr gibt’s nicht.« Der Mann schloss die Tür, und Sarah hörte, wie von draußen der Riegel vorgeschoben wurde.

»Gibt’s was zu essen?« Asher setzte sich auf seinem Bett auf.

Seine Stimme klang kräftiger als am Abend zuvor, und seine Augen wirkten vollkommen klar. Sein gelocktes schwarzes Haar war wild zerzaust, aber seine Gesichtsfarbe war normal. Er saß aufrecht da, die Füße fest auf dem Boden. Bis auf die Anspannung um Mund und Augen sah er gut aus. Das gesprenkelte Licht, das durch die hoch angebrachten Fenster fiel, spielte über sein markantes Gesicht.

Sarah setzte sich neben ihn, und gemeinsam aßen sie die kalten, mit Eiern und Schinken belegten Sandwiches. Dazu tranken sie eine Flasche Wasser. Seit der Wärter mit dem Essen aufgetaucht war, hatte Liz begonnen, einen Fluchtplan zu entwerfen. »Möglicherweise weiß ich, wie wir hier rauskommen können. Aber bist du schon wieder so weit bei Kräften, um mir dabei helfen zu können? Dazu ist nämlich etwas Gewaltanwendung nötig.«

Ashers Augen verhärteten sich zu schwarzen Achaten. »Schieß los.«

»Zunächst brauchen wir einen großen, scharfkantigen Stein. Irgendetwas, was bedrohlich aussieht. Wenn der Wärter wieder auftaucht, stellst du dich mit dem erhobenen Stein so hin, als wolltest du ihn angreifen. Da alles darauf hindeutet, dass sie uns – zumindest vorerst noch – am Leben lassen wollen, wird er sicher nicht schießen, sondern nur versuchen, dich niederzuschlagen, vermutlich mit seinem Gewehr. Deshalb musst du weit genug von ihm entfernt stehen, damit er erst auf dich zulaufen muss. An dieser Stelle komme ich ins Spiel. Ich drücke mich neben der Tür mit dem Rücken gegen die Wand. Wenn er in die Zelle stürmt, trete ich ihm das Gewehr aus der Hand, und du schnappst es dir, wenn er auf mich losgeht.«

Asher sah sie skeptisch an. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass so ein simpler Trick funktionieren könnte?«

»Doch. Du hättest mal den Wärter sehen sollen. Der Kerl ist zu Tode gelangweilt, absolut lustlos. Er denkt, von uns droht keinerlei Gefahr.«

Asher dachte nach. »Und wenn er neue Anweisungen erhalten hat oder wenn du das Gewehr nicht fest genug triffst, um es ihm aus den Händen zu schlagen? Bist du dafür in Karate noch gut genug? Ich meine, das ist doch schon eine Weile her.«

Sarah entgegnete kühl: »Ich mache auch noch anderes, als zu recherchieren und zu schreiben, während du dich in der Weltgeschichte herumtreibst.«

Da seine langen Auslandsaufenthalte ein wunder Punkt für sie waren, hielt er es für das Klügste, nichts mehr zu sagen. Außerdem bekam er ein schlechtes Gewissens, dass er nichts von ihrem Karate-Training wusste. Er sah sie an. Ihr Gesicht starrte vor Schmutz, und sie hatte diesen ganz bestimmten Blick aufgesetzt, bei dem man ihr lieber nicht dumm kam. Das hatte er immer schon an ihr gemocht.

Doch bevor er ihr das sagen konnte, fuhr sie fort: »Und dann wäre da auch noch die Frage, ob du überhaupt schon wieder genug bei Kräften bist. Denn selbst wenn mein Plan funktionieren sollte, müssen wir immer noch hier rauskommen, und dazu müssen wir vielleicht auch ein bisschen laufen.«

Asher nickte. »Ich kann meine Schmerzen ignorieren.«

»Außer sie werden so schlimm, dass du umkippst.«

»Dazu wird es nicht kommen«, versicherte er ihr.

Aber beide wussten, dass es nicht auszuschließen war. Aber ihnen blieb keine andere Wahl. Sie aßen zu Ende und machten sich an die Arbeit. Sie suchten die Wände nach einem losen Stein ab, der groß genug war, um den Wärter zu der gewünschten Reaktion zu verleiten.

 

Die Nachmittagssonne wärmte ihre steinerne Zelle, und von draußen drang salziger Meeresgeruch herein. Sarah hatte zwei gesprungene Steinblöcke entdeckt, aber weder ihr noch Asher war es gelungen, sie aus der Wand zu lösen, zumal es in ihrem Gefängnis auch nichts gab, was sie dafür zu Hilfe hätten nehmen können. Der Wärter konnte jeden Moment zurückkommen.

»Ich habe übrigens nachgedacht«, verkündete Asher unvermittelt. »Wir sind, glaube ich, nicht in Elsinore. Ich würde sagen, wir sind in Schottland, irgendwo am Meer.«

»Wie kommst du denn darauf?« Sarah ließ sich auf ihre Hacken nieder und starrte abwesend vor sich hin. Das kam bei Asher oft vor – er überraschte sie mit Schlussfolgerungen, ohne ihr vorher etwas zu erklären.

»Aus verschiedenen Gründen. Erstens wird hier Golf gespielt. Das habe ich verschiedenen Gesprächsfetzen entnommen, die ich aufgeschnappt habe. Golf ist der schottische Nationalsport. Zweitens war der Flug relativ kurz. Besonders weit können wir also nicht gekommen sein. Und drittens« – er schnitt eine Grimasse, während er die richtigen Worte zu finden versuchte – »fühlt sich hier einfach alles nach Schottland an. Regen in der Luft. Ein Hauch von Heide. Brandungsrauschen. Felsküste. Ein Anflug von Kälte, obwohl wir Juli haben. Und dann diese alte Burg hier – davon gibt es in Schottland jede Menge. Natürlich könnte ich mich auch täuschen.«

Aber sie merkte, dass er sich seiner Sache ziemlich sicher war. Die besten Agenten hatten etwas, was man ganz unwissenschaftlich Riecher nannte. Dank einer Mischung aus Erfahrung und angeborener Intuition bewiesen sie in der Einschätzung bestimmter Situationen ein oft geradezu unheimliches Gespür.

»Wahrscheinlich hast du Recht«, erklärte sie. »Aber ich sehe nicht, was uns das helfen soll.«

»Ja. Das habe ich fast befürchtet.« Er wollte gerade ein Gewitter vorhersagen, als unter dem Fenster ihrer Zelle eine Stimme ertönte. Sie war so nah, dass sie deutlich zu hören war.

Sarah hob den Kopf. »Erkennst du diese Stimme?«

»Hört sich nach dem Kerl an, der uns gestern Abend vom Flugzeug hierher gefahren hat.«

»Malko. Kannst du verstehen, was er sagt?«

»Nein. Ich …«

Sie rannte zu dem Feldbett, das sie nicht benutzt hatten. Es bestand aus einem Metallgestell, das mit fleckiger Leinwand bespannt war. Sie lehnte es in einem Winkel von etwas 30 Grad an die Wand.

»Komm her und halt das mal fest.«

»Okay.«

Sobald Asher sich gegen das Feldbett lehnte, nahm Sarah Anlauf und versuchte, zum Fenster hochzukommen. Sie bekam die Gitter-Stangen zu fassen und stemmte die Füße zwischen Leinwandbespannung und Rahmen.

»Kannst du jetzt hören, was er sagt?«, fragte Asher.

»Psst.«

Jetzt wusste sie, wie Malko aussah. Er war stämmig und muskulös und hatte eins dieser unscheinbaren Allerweltsgesichter, die man sofort wieder vergaß, was allerdings für einen Auftragskiller nur von Vorteil war. Er trug einen teuren Anzug und eine Sonnenbrille und sprach in ein Handy. Dabei blickte er sich die ganze Zeit wachsam um, als rechnete er jeden Moment damit, dass hinter dem nächsten Busch eine Horde von Angreifern hervorbrechen könnte. Dennoch zeigte er keinerlei Zeichen von Nervosität, lediglich die konzentrierte Wachsamkeit eines echten Profis. Hinter ihm erstreckte sich, grau und aufgewühlt vom Sturm der letzten Nacht, das Meer.

»… in Alloway«, sagte Malko gerade ins Telefon. »Natürlich haben wir die nötigen Vorkehrungen getroffen. Machen Sie sich da keine Sorgen, Sir. Das ist mehr als genug Zeit. Ich werde es seinem Assistenten ausrichten. Sie können sich auf mich verlassen.« Darauf trat eine Pause ein, und dann wurde seine Stimme so leise, dass Sarah sich sehr anstrengen musste, um ihn zu verstehen. »Danke, Sir. Ja, danke.«

Nachdem er die Verbindung unterbrochen und das Handy in seine Tasche gesteckt hatte, wandte er sich mit gestrafften Schultern dem Meer zu. Seltsamerweise erinnerte er Sarah in diesem Moment an einen scharfen Kampfhund, der von seinem Herrn gerade gestreichelt worden war.

Dann drehte er sich abrupt um und schritt zielstrebig auf das Gebäude zu und seitlich daran vorbei. Als er nicht mehr zu sehen war, rutschte Sarah das Feldbett hinunter und erzählte Asher, was sie gesehen und gehört hatte.

»Ist Alloway nicht in Schottland?«, fragte sie zum Schluss. »Der Geburtsort von Robert Burns? Offensichtlich hattest du mit deiner Vermutung Recht.«

Asher nickte. »Hast du irgendwelche Inseln gesehen, als du aufs Meer hinausgeschaut hast?«

»Ob du’s glaubst oder nicht – ja. Es muss eine Insel gewesen sein, aber sie sah mehr aus wie dicker, fetter Felsen. Oder ein großer runder Laib Brot.«

»Ah! Das muss Ailsa Craig sein. Langsam kommen wir der Sache näher. Demnach befinden wir uns am Firth of Clyde im Südwesten Schottlands. Ich bin vor ein paar Jahren auf dem Weg nach Glasgow mal hier vorbeigekommen. Deshalb machen wir am besten, dass wir hier rauskommen. Wenn das hier ein Hotel ist, muss es hier auch Autos geben. Ich kann es schon kaum mehr erwarten, von hier abzuhauen, du etwa nicht?«

 

 

Dreftbury

Der A77-Motorway führte um den Firth of Clyde herum und schlängelte sich dann zwischen sanft gewellten grünen Hügeln hindurch, auf denen in den filigranen Schatten mächtiger Fichten braun-weiße Ayrshire-Rinder weideten. Simon saß am Steuer eines neuen Land Rover, und Liz hielt Ausschau nach der Ausfahrt nach Dreftbury. Simon sah immer wieder in den Rückspiegel.

Jedes Mal, wenn Liz zu ihm hinübersah, überkam sie ein seltsames Gefühl. An irgendeinem Punkt während der vergangenen achtundvierzig Stunden hatte er aufgehört, ein Relikt aus ihrer Kindheit zu sein. Und jetzt saß er in einer kuriosen Verkleidung neben ihr – schmutzig blondes Haar, Sonnenbrille, billiges Sportsakko, Polyesterkrawatte. Mit seinem breiten Gesicht und der großen Nase hätte er Bestattungsunternehmer sein können – oder Beamter. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihn in dieser Aufmachung noch jemand erkannt hätte, auch seine engsten Freunde nicht – falls er noch welche hatte.

»Du siehst mich ja ständig an«, sagte er schließlich.

»Du wirst gar nicht rot.«

»Sollte ich das denn?«

»Ich bewundere nur dein neues Erscheinungsbild.«

»Oh.« Er grinste sie an.

Er hatte den Land Rover unter einer seiner falschen Identitäten kurz vor Dumfries gemietet, wo sie sich auch des Jeeps entledigt hatten. In der Stadt hatten sie zwei Handys und Kleider und Haartöner gekauft und einen Gasthof gefunden, in dem sie sich ein Zimmer für die Nacht genommen hatten. Dort waren sie aber nur lange genug geblieben, um zu duschen, ihre Haare zu bleichen und sich umzuziehen. Liz hatte aus Sarahs Geldbörse noch ein paar Euros übrig, die sie mit Simon teilte. Danach fotografierten sie sich mit der Sofortbildkamera aus seiner Sporttasche und klebten die Fotos in zwei der MI6-Ausweise, die Simon bei sich hatte. Sie wurde Veronica Young und er Douglas Kennedy.

Schließlich fuhren sie auf der A75 nach Stanraer am Loch Ryan und von dort auf der A77 weiter in Richtung Norden.

»Auch deine Tarnung kann sich sehen lassen«, versicherte er ihr. »Schon ein tolles Gefühl, mit so einer grauhaarigen Sexbombe durch die Gegend zu kutschieren.«

»Wie bitte?«

»Wundert dich das etwa? Du hast die Haare einer Siebzigjährigen, aber das Gesicht einer Studentin. Und so, wie dieser schwarze Hosenanzug sitzt, könnte man schon auf dumme Gedanken kommen.«

»Du tust mir Unrecht.«

»Nur ein bisschen.«

»Du übersiehst die ganzen Falten, die ich mit so viel Mühe aufgetragen habe.«

»Das ist aber auch nicht sonderlich schwer.«

Der Verkehr wurde dichter, und sie mussten langsamer fahren. Als sie um eine lang gezogene Kurve kamen, tauchte links vor ihnen auf einem Hügel über dem Meer ein großes weißes Gebäude mit zahlreichen Säulen und Rundbögen und einem roten Ziegeldach auf.

»Das ist das Dreftbury Hotel.« Liz nickte und fragte sich, was sie dort wohl vorfinden würden. Die berühmten Golfplätze des Hotels lagen auf beiden Seiten des Hauptgebäudes, ein makelloser Teppich aus sattem Grün, durchsetzt von Bunkern und eingefasst von einem wilden Rough aus hohen wogenden Gräsern. Nur wenige Golfer schlugen Bälle. Die Sonne blitzte zwischen dunklen Gewitterwolken hindurch. Über die Landschaft wanden sich tiefe Schatten.

Der Anblick rief zahlreiche Erinnerungen in Liz wach – die große Hotelhalle, die Bar mit der herrlichen Terrasse, von der man auf den Firth und das Tal hinabblickte, Aufzüge, lange Flure mit zahlreichen Biegungen und Abzweigungen und überall Hotelangestellte, bereit, den Gästen jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

Simon trat auf die Bremse. Der Verkehr vor ihm kam immer mehr ins Stocken, und die Durchschnittsgeschwindigkeit sank unter fünfzig Stundenkilometer.

»Was ist da vorne los?« Liz blickte angespannt durch die Windschutzscheibe. Und dann wurde die Straße wieder gerade, und im selben Moment war ihr alles klar.

»Hier hast du die Antwort.« Über Simon brachen Erinnerungen an Viera und an den letzten Abend in Bratislava herein. »Die Globalisierungsgegner sind aufmarschiert.«

Inzwischen hatten sie nicht nur auf das luxuriöse Hotel auf der Anhöhe einen ungehinderten Blick, sondern auch auf die Landstraße entlang der hohen Steinmauer am Fuß des Hügels, auf der sich ebenfalls ein Stau gebildet hatte. Wegen der umfangreichen Sicherheitskontrollen standen vor dem Eingangstor Limousinen mit getönten Fenstern Schlange, vor dem Lieferanteneingang warteten Lkws und Lieferwagen.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatten sich hinter den von uniformierten Polizisten bewachten Absperrungen tausende von Demonstranten aufgereiht, die unter lautem Protestgeschrei Transparente und Schilder in die Höhe hielten. In ihrem Rücken, auf dem Kamm eines Hügels, hatten sich die Organisatoren postiert, die, mit Ferngläsern und Walkie-Talkies ausgerüstet, den Ablauf der Demonstration dirigierten.

»Mach mal das Radio an«, sagte Simon nervös. »Ich sehe jede Menge Reporter und Kameras.«

Während er nach einem Sendewagen Ausschau hielt, erzählte er Liz, dass sich die Globalisierungsgegner unter anderem auch darüber massiv beklagten, dass das Gros der Medien ihre Anschuldigungen und Warnungen nicht ernst nahm. Sie fühlten sich verharmlost, ohne Stimme, unbeachtet.

»Mich überrascht überhaupt nicht, dass sie hier sind«, fuhr er fort. »Ich habe meine Vorgesetzte gewarnt, dass sich da etwas zusammenbraut. Sie suchen schon die ganze Zeit nach einer Möglichkeit, der Öffentlichkeit die Augen zu öffnen, und da bietet sich das Nautilus-Treffen natürlich wie von selbst an. Ob sie allerdings auf nationaler – oder sogar internationaler – Ebene erreichen können, dass …«

»Dort ist das Schild für die Ausfahrt nach Dreftbury«, unterbrach ihn Liz. Inzwischen hatte sie einen Sender gefunden und drehte das Radio lauter.

Als Simon von der Hauptstraße auf eine schmale Landstraße bog, kam die aufgeregte Stimme einer Reporterin aus den Lautsprechern: »… in dem äußerst exklusiven Golfhotel Dreftbury.«

Dem folgten laute Motorengeräusche, gebrüllte Anweisungen und rhythmische Sprechgesänge. Der Lärm war gewaltig.

»Vor dem Hotel haben sich schätzungsweise dreitausend Demonstranten versammelt«, fuhr die Radioreporterin fort. »Einige lassen einen riesigen rosafarbenen Ballon in Form eines Schweins steigen. Sie scheinen einen Sinn für Humor zu haben – auf der Hülle steht: Kapitalistenschwein gleich heiße Luft. Von Minute zu Minute treffen mehr Demonstranten ein. Sie kriechen unter den Absperrungen durch und laufen auf die zwei Eingänge von Dreftbury zu, werden aber von Sicherheitskräften festgenommen, bevor sie auf das Gelände vordringen können. Sie werden in Polizeifahrzeugen abtransportiert. Laut Aussagen Inspector Hepburns von der örtlichen Polizei hat es bislang keine Verletzten gegeben, aber er hat die Anwesenden dringend aufgefordert, sich vom Gelände von Dreftbury fern zu halten. Wir hier vor Ort können ihm da nur zustimmen. Noch nie haben wir auf so engem Raum ein solches Chaos und eine solche Konzentration von Menschen erlebt. Am Lieferanteneingang wurde der Bus des Glasgower Kammerorchesters angehalten, und die Insassen wurden im Zuge einer Sicherheitskontrolle aufgefordert, ihre Instrumente auszupacken. Über diese Maßnahme ist selbstverständlich niemand begeistert, aber jeder, der zu dem Gelände Zutritt erhalten will, muss sich diesen strengen Sicherheitskontrollen unterziehen. Jetzt nähern wir uns den Limousinen der Konferenzteilnehmer. Wir hoffen, mit einigen von ihnen sprechen zu können. Nach Auffassung der Demonstranten handelt es sich bei ihnen um die Führungselite der Welt. Sie sind gekommen, um darüber zu beraten, wie sie im nächsten Jahr die Geschicke der Welt zu leiten gedenken.«

Die Stimme der Reporterin wurde kurz leiser, dann nahm ihre Lautstärke abrupt zu. »Machen Sie Platz, junger Mann. Wir sind von Radio Edinburgh. Sie sind nicht von der Polizei. Was erlauben Sie sich! Sie haben kein Recht, uns aufzuhalten. Mister! Mister!« Man konnte jemand gegen eine Glasscheibe klopfen hören. »Machen Sie das Fenster runter, damit wir reden können!«

Liz drehte das Radio leiser, als Simon bremste. Sie näherten sich dem Verkehrschaos vor der Einfahrt zum Dreftbury-Hotel.

»Wenigstens sind wir bis zur Umfassungsmauer gekommen«, sagte sie.

»Siehst du die Baumgruppe dort drinnen?«

Während sie in Schrittgeschwindigkeit dicht hinter dem Auto vor ihnen herrollten, beobachtete Liz die dichten Baumreihen entlang der Mauer. Ein mit einem automatischen Gewehr bewaffneter Mann in einem schwarzen Kampfanzug hatte einen deutschen Schäferhund an der Leine und musste rasch gehen, um mit ihm Schritt zu halten. Je länger sie hinschaute, desto mehr Männer mit Hunden entdeckte sie.

»Nicht gerade ermutigend«, murmelte sie bedrückt. »Private Sicherheitsunternehmen?«

Simon nickte. »Das war zu erwarten.«

 

Asher neigte nicht dazu, sich Sorgen zu machen. Das lag einfach nicht in seiner Natur. Aber von dem Moment an, in dem Sarah entführt worden war, hatte er ständig ein nervöses Grummeln im Bauch verspürt. Das verriet ihm, dass er sich doch Sorgen machte. Umso fester war er jetzt entschlossen, Sarah und sich aus dieser misslichen Lage zu befreien.

Sarahs Plan hatte durchaus Aussicht auf Erfolg, aber der Stein, den sie dafür brauchten, war immer noch nicht aufgetaucht, obwohl sie bereits drei Wände sorgfältig abgesucht hatten und inzwischen bei der vierten angelangt waren. Sie suchten nach Unebenheiten und zogen an jeder vorspringenden Kante.

Und dann löste sich plötzlich ein unregelmäßig geformtes Stück roter Sandstein von etwa 15 Zentimeter Breite und 30 Zentimeter Länge aus der Wand.

Asher brauchte nur kurz daran zu ziehen, um es ganz herauszulösen.

Sarah sah ihm mit großen Augen dabei zu. »Da hast du ja einen Brocken gefunden. Er ist genau richtig!«

Statt ihr zu antworten, spähte Asher in das Loch, das der herausgelöste Stein hinterlassen hatte.

Das metallische Quietschen des Türriegels ließ sie herumwirbeln und auf die Tür starren.

»Schnell! Stell dich mit dem Stein dort hin«, zischte Sarah. »Und tu so, als wolltest du ihn angreifen!«

»Nein! Warte. Kurzfristige Planänderung. Geh zur Tür und sei die Nettigkeit in Person. Greif ihn auf keinen Fall an.« Er steckte den Steinbrocken an seinen Platz zurück. Den Sand von den Händen klopfend, eilte er zu seinem Feldbett und ließ sich darauffallen. Die Tür ging auf.

Sarah stand da und wartete. »Danke«, sagte sie wie zuvor zu dem bewaffneten Mann, der ihre Zelle betrat.

Die Interesselosigkeit in seinen unregelmäßigen Gesichtszügen hatte noch zugenommen. Er hatte nach wie vor das Gewehr und das Handy an seinem Gürtel. Brummend übergab er Sarah zwei Flaschen Wasser sowie eine Papiertüte mit Essen und ging. Wieder schloss sich die Tür mit einem dumpfen Knall, und der Riegel wurde vorgelegt.

»Klasse.« Asher lächelte zufrieden. Manchmal tat Sarah doch, worum er sie bat.

Sie fuhr herum. »Wenn das, was du in dem Loch in der Wand gefunden hast, keinem kleinen Wunder gleichkommt, gnade dir Gott.«