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Alessa Fontana hatte allen Grund, sich miserabel zu fühlen. Mitten in der Nacht hatte sie ihren Freund vor die Tür gesetzt, und diesmal für immer, ihr Kater hatte irgendwo im Abfall gewühlt, etwas Falsches gefressen und kotzte ihr die Küche voll, und der Fall, den sie gerade bearbeitete, bereitete ihr solche Kopfschmerzen, dass sie sogar davon träumte. Ein Ehemann, der seine Frau so heftig verprügelt hatte, dass sie mit einem gebrochenen Arm und einer zersplitterten Nase im Krankenhaus lag. Der Mistkerl hatte sie geschlagen und eine Treppe hinuntergestoßen. Das Schlimme war, dass sie sich entschlossen hatte, keine Anzeige zu erstatten, darum gab es keine Handhabe mehr, um den Mann zu verhaften und vor Gericht zu stellen.
Beim Joggen versuchte Alessa, den ganzen Stress zu vergessen. Sie war keine dieser begeisterten Sportlerinnen, die jeden Morgen mit dem ersten Hahnenkrähen aufstanden, sich in modische Klamotten und sündhaft teure Laufschuhe zwängten und sich an der frischen Luft ihre Glückshormone abholten. Um ehrlich zu sein, wartete Alessa noch immer darauf, dass sich diese Endorphine, oder wie die Dinger hießen, bei ihr meldeten. Aber beim Laufen konnte sie Druck abbauen und den ganzen Gerichtskram vergessen. Für die Glückshormone würde die heiße Schokolade sorgen, die bei Starbucks auf sie wartete. Ohne Sahne, wegen der Figur. Der Göttertrank hielt bis zum Lunch vor, falls sie überhaupt Zeit für eine Mittagspause fand.
Alessa war Staatsanwältin im Büro des Bezirksstaatsanwalts von Chatham County, zu dem auch Savannah gehörte. Eine erfolgreiche junge Frau, die ihren Wunschposten gleich nach dem Studium bekommen und bereits während ihrer ersten Prozesse auf sich aufmerksam gemacht hatte. Ihr einziger Fehler war, so behaupteten manche Kollegen hinter vorgehaltener Hand, dass sie manche Fälle noch persönlich nahm und zu emotional wurde. Sie war schlank und sehr hübsch, so jedenfalls die Meinung ihrer männlichen Kollegen, obwohl sie stets in eher langweiligen Businesskostümen herumlief, wie es die Richter am liebsten sahen, und ihre dunklen Haare zu einem Knoten gebunden trug. Ihre hervorstehenden Wangenknochen und ihre dunklen Augen gaben ihr ein exotisches Aussehen und gingen auf ihre indianische Großmutter zurück, eine Cherokee, wie ihre Mutter behauptete.
So früh wie an diesem Tag war Alessa noch nie am Flussufer entlanggelaufen. Michaels Schuld. Fünf Monate war sie mit dem attraktiven Anwalt zusammen gewesen, hatte mit ihm die wenigen freien Stunden genossen, die ihnen ihr Job ließ, und sich so gut mit ihm verstanden, dass ihre Eltern schon die Hochzeitsglocken hatten läuten hören. Ein Irrglaube, wie sich bald herausstellte, spätestens als sie gemerkt hatte, dass alles nach seinen Vorstellungen verlaufen sollte. Der Tagesablauf, die Wochenenden, alles sollte so sein, wie er es sich vorstellte, nicht mal eines ihrer Bilder duldete er in seiner Wohnung. Endgültig zum großen Krach war es gekommen, als er ihr vorgeschlagen hatte, ihren Job aufzugeben und künftig nur noch Hausfrau zu spielen. »Ich verdiene doch genug für uns beide, Schätzchen«, hatte er vor genau sechs Stunden gesagt, und nur eine Minute später hatte sie ihn hinausgeworfen … auf Nimmerwiedersehen.
Natürlich hatte sich die Trennung schon früher abgezeichnet. Sie waren nicht das Traumpaar, für das sie jeder hielt, nur weil sie beide attraktiv waren. Sie hatten Spaß miteinander, verstanden sich im Bett und standen beruflich auf verschiedenen Seiten, was ihrer Beziehung eine gewisse Würze verlieh, aber sonst hatten sie wenig gemeinsam. Dennoch schmerzte Alessa die Trennung. Immerhin waren sie miteinander vertraut gewesen, und er hatte irgendwie zu ihrem Leben gehört. Schwamm drüber. Sie würde darüber hinwegkommen, so wie sie auch über den Jungen vom College hinweggekommen war.
Unter der Brücke verlangsamte Alessa ihre Schritte. Der Nebel, der an diesem Morgen über dem Fluss hing, legte sich auf ihre Bronchien und machte ihr das Atmen schwer. Sie ging ein paar Schritte, atmete ruhig durch und versuchte, wieder zu Kräften zu kommen. Sie hatte ein wenig geschludert in der letzten Zeit. Das letzte Mal war sie vor zwei Wochen gejoggt, und auch das Jazztanzen hatte sie schon drei oder vier Mal geschwänzt. Der Fall mit dem gewalttätigen Ehemann machte ihr mehr zu schaffen, als sie zugeben wollte. Fast jeden Abend kam sie im Krankenhaus vorbei und versuchte, die Frau zu überreden, ihren Mann endlich anzuzeigen, aber die weigerte sich beharrlich. Kein Einzelfall, wie Alessa von ihren Kollegen und den Cops wusste. Die wenigsten Fälle von häuslicher Gewalt gingen vor Gericht. Die meisten Frauen hatten zu viel Angst vor ihren Männern oder wollten ihnen noch einmal »eine Chance geben«.
Eine Bewegung auf der Brücke ließ Alessa innehalten. Ein dunkler Schatten am Brückengeländer, in den Nebelschwaden nur undeutlich zu erkennen. Sie blickte genauer hin und sah eine Gestalt, wahrscheinlich ein Mann, der etwas auf das Geländer wuchtete. Es sah aus wie ein Sack oder ein Paket.
Ein Umweltverschmutzer, der seinen Abfall in den Savannah River warf ? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Man musste schon ziemlich bescheuert sein, wenn man auf diese Weise eine Strafanzeige riskierte. Und wenn es doch so war? Warum schlich er nicht heimlich zum Flussufer oder lud den Abfall irgendwo im Wald ab? Es gab genug einsame Stellen in der näheren Umgebung, die dafür infrage kamen. Industriegebiete, Waldwege, einsame Parkplätze, eine Raststätte.
Und wenn es kein Abfall war, sondern eine … Leiche? So wie man es in Krimis im Fernsehen sah?
Unsinn, sagte sie sich, ich sehe schon Gespenster. Mein Job färbt langsam aufs Privatleben ab. Erst vor drei Monaten war sie beim Prozess gegen einen Serientäter dabei gewesen, der seine Opfer in Plastikfolie gewickelt und in einen abgelegenen See geworfen hatte. Kein Wunder, dass sie unter Wahnvorstellungen litt.
Und doch … es musste ja nicht unbedingt eine menschliche Leiche sein, die der Täter in den Fluss warf. Vielleicht ein Hund oder eine Katze, die er auf diese Weise loswerden wollte.
Auch nicht plausibel, überlegte sie. Wer unbedingt ein Tier umbringen wollte, konnte es vergiften oder erschießen oder in einem Teich ertränken. Dazu brauchte er nicht auf eine Brücke über den Savannah River zu fahren. Viel zu umständlich. Es gab einfachere Methoden, ein Tier loszuwerden. Ein Tierquäler, der seine Freude daran hatte, ein Tier auf so dramatische Weise zu töten? Vielleicht, aber nicht sehr wahrscheinlich.
Der Sack, es war tatsächlich ein Sack, fiel in den Fluss. Wasser spritzte nach allen Seiten, als er untertauchte. Sie lief zum Ufer und blickte in die Nebelschwaden, sah den Sack nach einiger Zeit wieder auftauchen. Entsetzt erkannte sie, dass sich darin etwas bewegte. Ein Tier? Oder doch ein Mensch? Was immer in dem Sack war, versuchte verzweifelt, sich aus dem Gefängnis zu befreien, stieß und trat gegen den Stoff und sorgte auf diese Weise nur dafür, dass er sich noch schneller mit Wasser vollsog.
Alessa überlegte nicht lange, sprang in den Fluss und kraulte auf den Sack zu, der in den Nebelschwaden kaum von dem dunklen Wasser zu unterscheiden war. Er trieb mit der Strömung auf die Stadt zu, tauchte unter und kam wieder hoch und ragte nur noch zu einem Drittel aus dem Fluss. Der Inhalt bewegte sich kaum noch. Wenn man ein Lebewesen in den Sack gesperrt hatte, war es schon halb ertrunken. Der Sack war kaum noch von dem Treibholz zu unterscheiden, das ebenfalls im Fluss trieb.
Dennoch schwamm Alessa weiter. In ihrer Aufregung und dem Bemühen, den Sack zu erreichen, spürte sie die kühle Temperatur des Wassers kaum. Mit kräftigen Kraulschlägen kämpfte sie sich durch die Strömung, ungeachtet ihrer Kleidung, die sich längst mit Wasser vollgesogen hatte und sie nach unten zu ziehen drohte. Ihr Blick war auf den Sack gerichtet, als wollte sie ihn hypnotisieren. Sie durfte ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren, wenn das Lebewesen darin noch eine Chance haben sollte. Besonders groß war sie nicht. Alessa kam es vor, als würde der Sack schon mehrere Minuten im Fluss schwimmen, viel zu lange, um darin zu überleben, wenn man die meiste Zeit unter Wasser war.
Sie konnte von Glück sagen, dass es bereits hell wurde und sie den Sack einigermaßen im Auge behalten konnte. Im Dunkeln hätte sie nicht die geringste Chance gehabt. Als sie ihn dicht vor sich im Wasser schaukeln sah, verdoppelte sie ihre Anstrengungen, war mit ein paar kräftigen Kraulschlägen bei dem Sack und bekam ihn zu fassen. Sie packte ihn mit der rechten Hand, benutzte die andere, um mit der Strömung ans Ufer zu steuern. Mit letzter Kraft erreichte sie einen leeren Anlegeplatz an der Hafenmauer, von dem eine steile Treppe zu einem verlassenen Lagerhaus hinaufführte. Sie zog sich an einem Eisenring aus dem Wasser und wuchtete den Sack auf die unteren Stufen der Betontreppe.
Triefend vor Nässe und keuchend vor Anstrengung blieb sie einen Augenblick liegen. In dem Sack war kein Leben mehr, nicht mal ein verzweifeltes Seufzen drang nach draußen. Sie löste mit klammen Fingern den Knoten des Stricks, mit dem der Unbekannte den Sack verschnürt hatte, und zog den Stoff auseinander. Der Gestank von Moder, faulen Fischen und gebrauchtem Öl schlug ihr entgegen. Obwohl sie ahnte, was sie erwartete, musste sie sich beinahe übergeben, als sie den Inhalt erblickte. Die leeren Augen einer toten Frau starrten sie an.