15
Mit unbarmherziger Härte trieb der Sklaventreiber die Schwarzen an. Er schlug und trat sie und ließ die nassen Lederschnüre seiner Peitsche auf ihre blutigen Rücken niedersausen. »Vorwärts, ihr verfluchten Nigger!«, schrie er. »Ich hab keine Lust, mir euretwegen die halbe Nacht um die Ohren zu schlagen! In das Haus da drüben!«
Alessa stand am Fenster und sah den Sklavenjäger mit seiner Beute näher kommen. Die Schwarzen waren an Händen und Füßen gefesselt und durch eine schwere Kette miteinander verbunden, die Stricke um ihre Fußgelenke ließen ihnen kaum Platz zum Laufen. Als eine der Frauen stolperte und zu Boden fiel, riss sie der Sklaventreiber unsanft hoch und versetzte ihr einen Fußtritt. »Vorwärts, du Schlampe, oder ich lasse dich von den Alligatoren im Sumpf zerreißen!«
Wie versteinert blickte Alessa auf den Sklavenjäger und die Schwarzen hinab, zehn Gefangene, darunter drei Frauen und zwei Kinder. Der Sklaventreiber war ein kräftiger Mann mit einem breiten Gesicht, über dem rechten Auge trug er eine schwarze Klappe.
Nur wenige Schritte von ihrer Haustür entfernt blieb er stehen und ließ erneut die Peitsche knallen. Die Schwarzen waren viel zu müde und erschöpft, um noch zu klagen. Nur eines der Kinder, ein kleiner Junge, weinte leise. Die anderen ergaben sich widerstandslos in ihr Schicksal. Ihre Augen waren leer, ihre Bewegungen mechanisch.
Alessa hörte, wie der Sklavenjäger die Tür öffnete und die Schwarzen mit derben Flüchen ins Haus trieb. Ihre nackten Füße scharrten über den Boden, die Kette klirrte. Das Weinen des Jungen drang bis in ihr Zimmer hinauf. »Sorg dafür, dass der Balg endlich Ruhe gibt, sonst sorge ich dafür, dass er für immer schweigt!«, hörte sie die heisere Stimme des brutalen Kerls.
Gleich darauf quietschte die Kellertür und die Schritte der Schwarzen und das Klirren der langen Kette wurden leiser. »Runter mit euch! Vorwärts!«, scheuchte sie der Sklavenjäger die Treppe hinab. Er versetzte dem Letzten in der Reihe einen derben Tritt und warf die Tür hinter ihnen zu.
»Und nun zu dir, Schätzchen!«, rief der Sklavenjäger nach oben. »Höchste Zeit, dass wir beide uns endlich näher kennenlernen!« Seine Schritte polterten über die hölzerne Treppe, kamen näher und verstummten vor ihrer Tür.
Alessa hielt vor lauter Angst den Atem an. Ihre linke Hand verkrampfte sich um den Vorhang, mit der rechten hielt sie sich an einem Bettpfosten fest. »Nein!«, flehte sie leise. »Bitte nicht!«
Die Tür sprang auf und der vierschrötige Mann stolperte in den Raum. »Hab ich dich, du kleines Biest!«, tönte er.
Sie wich ängstlich vor ihm zurück, bis sie mit dem Rücken gegen das Fensterbrett stieß, beobachtete mit geweiteten Augen, wie er näher kam.
»Bitte … bitte nicht!«, stammelte sie.
»Jetzt bist du fällig!«, rief er.
Das Knallen seiner Peitsche riss Alessa aus ihrem Albtraum. Sie fuhr schweißnass in ihren Laken hoch und blickte entsetzt in die Dunkelheit, beruhigte sich erst, als ihr klar wurde, dass sie nur geträumt hatte und kein gewalttätiger Mann in ihrem Zimmer stand. Der grausame Sklavenjäger, der vor mehr als hundert Jahren in ihrem Haus gelebt hatte, lag längst unter der Erde.
Sie entspannte sich und trank von dem Wasser, das sie auf ihrem Nachttisch deponiert hatte. Danach ging es ihr besser. Nur um sicherzugehen, stand sie auf und trat ans Fenster, blickte in den Garten und auf die Straße hinab und sah niemanden außer einer fremden Katze, die durch das offene Tor hetzte und in der Dunkelheit verschwand. Ihr eigener Kater konnte es nicht gewesen sein, der war immer noch krank und lag geschwächt in seinem Korb.
Mit dem Ärmel ihres langen T-Shirts, das sie statt eines Nachthemds trug, wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. War denn schon Vollmond? Bei Vollmond träumte sie meist schlecht, aber der Mond und die Sterne hatten sich hinter dichten Wolken versteckt, die wahrscheinlich am nächsten Tag wieder für Regen sorgen würden. In dieser Hinsicht unterschied sich Georgia kaum von Florida, auch hier gab es nur drückende Hitze oder strömenden Regen.
Geräusche drangen von unten herauf, das Klirren einer Kette und das Scharren nackter Füße. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie die bedrohlichen Laute auf diese Weise vertreiben, doch sie blieben und ließen sie auf dem Weg zu ihrem Bett erstarren.
Mike, war ihr erster Gedanke, dann fiel ihr ein, dass er ihren Schlüssel zurückgegeben hatte. War er etwa durch die Hintertür eingedrungen? Hatte er getrunken, und verleitete ihn seine Eifersucht dazu, eine Dummheit zu begehen? Unmöglich, dachte sie, so etwas würde er niemals tun. Wenn man Angst hatte, kamen die seltsamsten Gedanken. Der Kater, wahrscheinlich der Kater, er kotzte wieder in den Flur.
Sie löste sich aus ihrer Erstarrung und schlüpfte in ihre Jogginghose. In den Crocs, die sie als Hausschuhe benutzte, schlich sie zur Tür. Du bist verrückt, Alessa, sagte sie sich, gehst Gespenster jagen, anstatt ordentlich auszuschlafen. Du hast morgen Mittag eine wichtige Verhandlung, da musst du topfit sein, und bei Lydia Murrell wolltest du auch noch mal vorbeisehen. Du brauchst deinen Schlaf, sonst klappst du zusammen.
Doch sie hörte nicht auf ihre innere Stimme und öffnete vorsichtig die Tür. Das Notlicht, das im Parterre an einer Steckdose hing, leuchtete schwach herauf. Kein Sklavenjäger, keine Gefangenen. Auch kein Kater.
Anscheinend war ihr Albtraum so stark und nachhaltig gewesen, dass sie auch nach dem Aufwachen noch darin gefangen war. Oder hatte ihre Vermieterin recht? Spukte es in diesem alten Haus wirklich? Selbst intelligente und vernünftige Menschen wie die schwarze Anwältin, gegen die sie oft vor Gericht antreten mussten, glaubten das.
Auf leisen Sohlen schlich sie ins Erdgeschoss hinab. Schon nach zwei Schritten hörte sie die Geräusche erneut, diesmal etwas lauter und deutlicher. Sie kamen aus dem Keller. Das Klirren einer Kette, das verzweifelte Schreien und Stöhnen von Menschen.
Alessa war nicht so abergläubisch wie die schwarze Anwältin und ließ sich keine Angst einjagen. Es gab keine Geister und schon gar nicht in ihrem Keller. Sie bildete sich die Geräusche nur ein. Das hatte man doch oft, wenn man überarbeitet war oder der Vollmond am Himmel stand, die Gedanken spielten einem böse Streiche. Sie bildete sich das alles nur ein.
Dennoch ging sie weiter. Sie musste den Keller mit eigenen Augen sehen, um wieder ruhig schlafen zu können. Im Parterre knipste sie das Licht an. Ihr Kater hob den Kopf, blickte sie neugierig an und schlief weiter. Er würde noch ein, zwei Tage brauchen, bis er wieder so munter war wie zuvor.
Alessa wandte sich nach rechts und blieb vor der Kellertreppe stehen. Sie zögerte. Für ein paar Sekunden waren die seltsamen Laute verstummt, dann rasselte die Kette, ein Kind weinte und Alessa öffnete entschlossen die Tür. Ein kühler Windhauch und der muffige Geruch von gestapeltem Papier schlugen ihr entgegen, die Hinterlassenschaft des älteren Ehepaars, das vor ihr in dem Haus gewohnt hatte. Die beiden hatten Zeitschriften gesammelt und den größten Teil im Keller zurückgelassen.
Sie suchte den Schalter und knipste das Licht an, eine vergitterte Wandlampe, kaum heller als die Notlampe im Flur. Alessas Schatten wanderte an der Wand entlang, als sie langsam nach unten stieg. Ihre Crocs gaben eigenartige Geräusche von sich. Sie ließ ihre rechte Hand an dem eisernen Geländer entlanggleiten, fluchte in Gedanken, weil sie keine Taschenlampe mitgenommen hatte, und bemerkte verwundert, wie sich die geheimnisvollen Geräusche langsam entfernten.
Am Ende der Treppe blieb sie abwartend stehen. Das Klirren der Kette und die klagenden Laute verklangen dumpf und hohl in der Ferne. Sie knipste das Kellerlicht an, noch eine trübe Lampe, und stand in dem bis auf die gestapelten Zeitschriften und ein altes Fahrrad leeren Vorraum. Von dem Vorraum zweigten der Waschkeller, der Heizungsraum und ein Gang ab.
Der Gang war ein Relikt aus dem Bürgerkrieg, hatte ihr die Vermieterin verraten, ein Geheimgang, durch den die Bewohner des Hauses vor der einfallenden Nordarmee geflohen waren. Ein Tunnel im felsigen Boden, der eine halbe Meile vom Haus entfernt zur Oberfläche führen sollte. Alessa war nur einmal in dem Gang gewesen und gleich wieder umgekehrt, als ihr einige Ratten entgegengekommen waren. Sollte sie das Haus jemals kaufen, würde sie den Gang zumauern lassen, hatte sie sich geschworen.
Seltsamerweise war die schwere Tür des Geheimgangs geschlossen, und im schwachen Lichtschein waren keine Fußspuren auf dem schmutzigen Boden zu sehen. Doch die Geräusche waren eindeutig aus dem Gang gekommen. Oder ging in dieser Nacht die Fantasie mit ihr durch? Hatte der Albtraum sie aus dem Gleichgewicht gebracht? Es gab keine Sklaven mehr in Savannah. Wenn sie klirrende Ketten und verzweifeltes Stöhnen hörte, dann nur in ihrer Fantasie.
Sie drückte die Tür vorsichtig nach innen und fand sich in vollkommener Dunkelheit wieder. Einen Augenblick lauschte sie angestrengt. Außer einem leisen Rascheln, das sicher Ratten oder Mäuse verursachten, und einem kühlen Windhauch, der andeutete, dass es am Ende des Tunnels einen Ausgang geben musste, war weder etwas zu hören noch zu spüren.
Doch ohne Licht konnte sie in dem dunklen Gang wenig ausrichten. Sie lief zurück nach oben, holte die kleine Taschenlampe aus der Anrichte im Flur und kehrte in den Keller zurück. In ihrer Aufregung vergaß sie völlig, wie gefährlich ihr Vordringen in den vielleicht baufälligen Gang sein konnte. Und wer wusste schon, was sie in der Dunkelheit noch erwartete? Aber sie war fest entschlossen, das Rätsel der seltsamen Geräusche zu lösen oder – falls sie sich alles nur eingebildet hatte – wenigstens den Gang zu erkunden. Ihr fiel gar nicht auf, dass es mitten in der Nacht war und sie nur T-Shirt, Jogginghose und Crocs trug.
Mit der eingeschalteten Taschenlampe drang sie in den Geheimgang vor. Der Lichtkegel geisterte über den festgetretenen Boden und die dunklen Wände, glitt über den Schmutz, der sich in dem Gang gesammelt hatte. Ihre Schritte hallten in der fast vollkommenen Stille leise von den Wänden wieder. Ihre Vermieterin hatte den Geheimgang nie betreten und die Tür nicht einmal geöffnet, als sie ihr das Haus gezeigt hatte. Ihre Angst vor den Geistern, die überall in Savannah ihr Unwesen treiben sollten, war zu groß.
Alessa hatte keine Angst, zumindest redete sie sich das ein. Als Staatsanwältin, auch wenn sie erst ein halbes Jahr im Amt war, hatte sie genug schreckliche Dinge gesehen, um beim Anblick einer Ratte oder Maus nicht die Fassung zu verlieren. In Florida, keine Meile von der Stadt entfernt, hatte es Schlangen und Alligatoren gegeben. Beunruhigend waren nur die Dunkelheit und die Stille, die sie in dem scheinbar endlosen Gang umgaben. Gab es denn keinen Ausgang?
Sie umklammerte die Taschenlampe wie einen rettenden Anker. Nur nicht fallen lassen und im Schmutz und zwischen den Ratten danach suchen müssen! Immer tiefer drang sie in den Geheimgang vor. Die geheimnisvollen Geräusche kehrten nicht zurück, nur das Scharren ihrer Crocs war zu hören. Und ihr Herzschlag, der immer lauter und heftiger wurde. In diesen Gang führte keine der Geistertouren, die einige Veranstalter in Savannah für Touristen durchführten.
Das Ende des Ganges kam so plötzlich, dass Alessa beinahe gegen die Wand aus fester Erde gelaufen wäre. Weiter hatten die Südstaatler damals nicht gegraben. Sie blieb stehen und ließ den Lichtkegel ihrer Taschenlampe über die Wände wandern. Gab es überhaupt einen Ausgang? Oder war der Gang längst eingebrochen und versperrte jeden Weg ins Freie, den es einmal gegeben haben mochte?
Auf dem Boden lag eine kleine Leiter, vielleicht ein paar Jahre alt, aber immer noch stabil genug, um benutzt zu werden. Anscheinend war einer der früheren Mieter schon einmal hier unten gewesen. Eine Leiter bedeutete aber auch, dass der Ausgang oben liegen musste. Sie leuchtete an die Decke und entdeckte eine hölzerne Falltür, die mit zwei Riegeln gegen unerwünschtes Eindringen gesichert war.
Mit der Taschenlampe im Mund lehnte sie die Leiter an die Wand und stieg vorsichtig drei Sprossen nach oben. Sie brauchte einige Zeit und musste ihre ganze Kraft aufwenden, um die Riegel zurückzuschieben. Noch anstrengender war es, die Falltür nach außen zu drücken. Erst beim vierten Versuch klappte es. Die Tür schwang knarrend nach oben und ein Schwall loser Erde und kleiner Steine rieselte auf Alessa herab. Die Taschenlampe fiel zu Boden. Sie hob schützend beide Arme über ihren Kopf, doch die Erde ergoss sich über ihre Hände und Arme und drang bis weit unter den Kragen ihres T-Shirts.
Nachdem der Schwall verebbt war, befreite sie sich prustend von dem gröbsten Schmutz. Mit den Handrücken rieb sie sich die Erde aus den Augen und vom Gesicht. Sie hustete und spuckte, bis sie einigermaßen frei atmen konnte, kletterte weiter nach oben und kroch schnaufend ins Freie.
Sie blickte sich erstaunt um. Der Ausgang des Geheimgangs lag zwischen einigen Bäumen und Büschen versteckt und war so dicht mit Erde bedeckt gewesen, dass man ihn nicht mal aus kürzester Entfernung entdeckt hätte. Sie klopfte sich noch einmal den Schmutz aus den Kleidern, verschloss die Falltür und schob Erde darauf. Dann arbeitete sie sich aus dem Dickicht, dabei stieß sie gegen einen Stein und blickte entsetzt auf das eingemeißelte Kreuz. Sie war auf dem Colonial Park Cemetery gelandet, dem alten Friedhof der Stadt.
Die frische Luft tat ihr gut und säuberte ihre Lunge von dem Staub, den sie im Gang geschluckt hatte. Sie atmete ein paarmal tief durch und drehte sich einmal im Kreis, sah die dunklen Umrisse der Altstadtvillen und vereinzelte Lichter in den Häusern.
Außer dem Tuten eines Frachters, der aus dem Hafen fuhr, und dem Rauschen des Windes in den weit ausladenden Eichen war kein Geräusch zu hören. Kein Klirren von Ketten, kein verzweifeltes Stöhnen oder Seufzen. Natürlich hatte sie sich alles nur eingebildet. Was auch sonst? Die Seelen der toten Sklaven waren wohl kaum aus ihren Gräbern gestiegen und durch den Geheimgang gekommen, um ihr Angst einzujagen. Warum auch? Selbst wenn es Geister gäbe, was sie natürlich nicht glaubte, hätten sie keinen Grund dazu gehabt. Sie war erst seit einem halben Jahr in Savannah und kannte die Legende vom Sklavenjäger erst seit Kurzem.
Sie war allein auf dem Friedhof, immerhin war es schon weit nach Mitternacht, und wenn man ihrer Vermieterin glauben durfte, trieben sich um diese Zeit nur Geister auf dem Colonial Park Cemetery herum. In ihrer staubbedeckten Kleidung und mit dem verschmutzten Gesicht sah sie auch nicht viel anders aus. Wenn jetzt ein Polizist vorbeikam, würde man sie bestimmt festnehmen, und wenn sie Pech hatte, würde sie die Titelseite der Morning News zieren. »Junge Staatsanwältin als Gespenst auf dem Friedhof« – es gab schönere Schlagzeilen.
Sie blickte nach Westen. Bis zu ihrem Haus in der Drayton Street war es nicht weit. Der Tunnel war kürzer, als es den Anschein hatte. Sie brauchte nur durch den Haupteingang und über die Straße zu laufen, schon war sie so gut wie zu Hause. Eine heiße Dusche und ein paar Stunden Schlaf, darauf freute sie sich im Moment am meisten.
Während sie über den Friedhof lief, ließ sie ihren Blick über die Grabsteine schweifen. Trübe Nebelschwaden zogen über die Gräber, verfingen sich in den Baumkronen und schienen an dem Spanischen Moos hängen zu bleiben. Ein unheimlicher Ort, selbst bei Tageslicht, und erst recht bei Dunkelheit, wenn die Seelen der Verstorbenen aus ihren Gräbern kamen und in den Häusern der Altstadt spukten. So erzählten es zumindest die Fremdenführer der zahlreichen Ghost Tours.
Eines der Gräber zog sie auf magische Weise an. Zuerst sah sie nur den weißen Marmorengel, der sich mit ausgebreiteten Flügeln von dem Grabstein zu erheben schien. Als sie den Kiesweg verließ und näher herantrat, erkannte sie den Namen der Toten, die unter dem Stein lag: »Helen Rydell« stand dort in schlichten Buchstaben und drunter »Ruhe in Frieden«. Mehr nicht. Ein gewöhnliches Grab, das sich nur durch den Engel von den anderen abhob. Er sah wesentlich neuer aus als der verwitterte Grabstein. Angie Rydell hatte ihn wohl erst vor wenigen Monaten montieren lassen. Andere Angehörige gab es nicht, wie Alessa inzwischen festgestellt hatte. Angies Vater war vor ein paar Jahren an Prostatakrebs gestorben.
Erst als Alessa in die Knie ging und den Grabstein näher betrachtete, erkannte sie, dass jemand ein Kreuz neben den Namen der Verstorbenen gemalt hatte. Weißer Markierstift, stellte sie bei näherem Hinsehen fest. Der Gewitterregen hatte die weiße Farbe fast vollständig abgewaschen, aber Überreste waren vorhanden, und man konnte das Kreuz deutlich erkennen. Galt das weiße Kreuz der Tochter der Verstorbenen? Galt es Angie Rydell? Hatte der Mörder es auf den Stein gemalt?
Alessa richtete sich auf und schob einige staubige Haarsträhnen aus ihrer Stirn. Zögernd ging sie weiter. Die Überreste des weißen Kreuzes hatten sie nachdenklich gemacht. War auf den Grabsteinen der anderen Opfer auch ein weißes Kreuz? Hatte es der geheimnisvolle Killer tatsächlich auf die Nachfahren aller Mordopfer abgesehen?
Sie ging die Toten in Gedanken durch. Abe Middleton, den Schwarzen, der mit Helen Rydell befreundet gewesen war, hatte man aufgehängt. Bald darauf hatten ihn seine Verwandten an einem geheimen Ort begraben. Roy Keane, der schwarze Pfarrer, der die Morde in seiner Predigt verurteilt hatte, war in seinem Haus verbrannt. Toby Snyder, der weiße Student, der sich mit Jeremy Hamilton während einer Kundgebung angelegt hatte, war mit dem Freedom Bus in die Luft geflogen. Weder von ihm noch von dem Pfarrer war genug übrig geblieben, um es begraben zu können.
Blieb nur Bruce Gaddison, der weiße Besitzer eines Diners, in dem man Schwarze geduldet hatte. Ein schweres Vergehen nach den Gesetzen des Ku-Klux-Klan. Hatte man auch ihn auf dem Colonial Park Cemetery begraben?
Sie lief an den Gräbern entlang, zuerst langsam und zögernd, dann immer schneller und fest entschlossen, den Grabstein zu finden, auch wenn die Reihen der Gräber endlos erschienen. Sie kümmerte sich weder um ihr Aussehen noch um den nächtlichen Wind, der unangenehm kühl unter ihre Kleider strich. In ihren Crocs stand das Wasser aus den Pfützen, in die sie getreten war. »Bruce Gaddison«, flüsterte sie. »Bist du hier, Bruce? Wo bist du?«
Sie blieb schwer atmend stehen und blickte in den Nebel. Selbst wenn der Besitzer des Diners auf diesem Friedhof lag, würde sie ihn niemals finden. Auf dem Colonial Park Cemetery gab es über tausend Gräber, und man brauchte mehrere Stunden, um sich alle Grabsteine anzusehen. Frustriert drehte sie um und wollte umkehren.
Eine flüchtige Bewegung hielt sie davon ab. Aus dem Nebel, etwa hundert Schritte von ihr entfernt, schälte sich eine dunkle Gestalt. Sie schien über den Gräbern zu schweben und hob sich schattenhaft gegen die hellere Umgebung ab. Wie ein Geist bewegte sie sich zwischen den Grabsteinen.
Alessa starrte sie entgeistert an, spürte plötzlich den kalten Nachtwind, der durch ihre Kleider bis auf ihre Haut zu dringen schien. Sie dachte nicht daran, dass sie in ihrer schmutzigen Kleidung selbst wie ein Geist aussehen musste. Ihr dreckverschmiertes Gesicht und die verklebten Haare hätten jeden Spaziergänger erschreckt.
Die Gestalt bewegte sich nach links, schwebte über den Kiesweg und blieb im trüben Schein einer der wenigen Lampen stehen. Als hätte sie es darauf angelegt, Alessa ihr Gesicht zu zeigen. Im Licht wirkte die Gestalt gar nicht mehr wie ein Geist, eher wie der Mann, den sie beinahe überfahren hätte.
»David!«, flüsterte sie.
Sie blickte weiter in seine Richtung, war so überrascht, dass sie keinen Ton hervorbrachte. David, das war David! Was hatte er um diese Zeit auf dem Friedhof zu suchen? Und warum schlich er wie ein Geist durch die Grabreihen? Oder war er es gar nicht?
Ungläubig rieb sie sich die Augen. Hatte ihr die Erkundungstour durch den unterirdischen Gang so zugesetzt, dass sie schon Gespenster sah? Nein, erkannte sie, auch jetzt stand er noch vor einem der Grabsteine. Er blickte in ihre Richtung und lächelte sie an, zumindest kam es ihr so vor. Und jetzt hob er sogar einen Arm und winkte ihr zu. Er forderte sie auf, zu ihm zu kommen. Er deutete auf den Grabstein, vor dem er stand. Was wollte er ihr sagen? »Komm zu mir, Alessa!«, glaubte sie seine Stimme zu hören. Seine Stimme, aber mit viel Hall, wie in einem Traum. Was war nur mit ihm los?
Sie löste sich aus ihrer Erstarrung und ging langsam auf ihn zu. »David!«, flüsterte sie wieder. Dann etwas lauter, aber heiser: »David! David!« Sie ging immer schneller, rannte schließlich, doch als sie ihn erreicht hatte, war er verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Nur der Nebel war noch da.
Und der Grabstein, vor dem er gestanden hatte. Der Name »Bruce Gaddison« war in den Stein gemeißelt und daneben waren die Überreste eines weißen Kreuzes zu sehen. David hatte sie zu dem Grab geführt, das sie gesucht hatte.
»David!«, flüsterte sie noch einmal.