22
Der Radiowecker weckte Alessa um zwanzig Minuten nach Mitternacht. Sie öffnete verschlafen die Augen und sah die Zahlen 12:20 auf dem Display blinken. Sie setzte sich fluchend auf.
»… habe ich einen weiteren Song aus den Sechzigern für Sie«, tönte die viel zu laute Stimme aus dem Radio. »Einen Song, der zur Hymne der Bürgerrechtsbewegung wurde und von Martin Luther King und den Schwarzen auf ihren Protestmärschen gesungen wurde. Hier ist die wunderbare Joan Baez mit We Shall Overcome.«
Alessa drückte das Radio aus und checkte die Weckzeit. Sie war wie gewöhnlich auf sieben Uhr eingestellt. »Seltsam«, wunderte Alessa sich, »da will mich wohl jemand verarschen? Warum geht das blöde Ding mitten in der Nacht an?«
Sie stellte den Radiowecker auf den Nachttisch und sank in ihr Kissen zurück. Schon im nächsten Augenblick setzte sie sich wieder auf. Ein Song aus den Sechzigern? Die Hymne der schwarzen Freiheitskämpfer? Schon ein seltsamer Zufall, dass sie ausgerechnet mit einem solchen Song geweckt wurde. Als wollte man sie an die Untaten des Ku-Klux-Klan und die Leiden der Schwarzen vor fünfzig Jahren erinnern. Was hatte das zu bedeuten?
Sie stellte das Radio wieder an, drehte es etwas leiser und lauschte dem Song. »We shall overcome, we shall overcome … wir werden alles Leid überwinden, denn eines Tages werden wir frei sein.« Schreckliche Bilder, die sie nur aus alten Fernsehberichten kannte, tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Männer in weißen Kutten, die Gesichter unter weißen Kapuzen versteckt, brennende Kreuze, an Bäumen aufgehängte Schwarze …
Abraham Middleton! Sie schwang ihre Beine aus dem Bett. So hatten sie den schwarzen Farmer vor vierzig Jahren getötet! Aber warum hatte sich der Radiowecker ausgerechnet jetzt eingeschaltet? Zwanzig nach zwölf …
Sie stand auf und lief ins Wohnzimmer hinab, zog ihren Laptop aus der Aktentasche und schaltete ihn ein. Ungeduldig wartete sie darauf, dass der Computer hochfuhr. Als es endlich so weit war, öffnete sie die Datei mit ihrer Seminararbeit über die Morde von Jeremy Hamilton. Nach einigem Suchen fand sie die Seiten über den Mord an dem Farmer. Zehn Klansmänner, hatte die Schwägerin des Ermordeten kurz nach dem Mord ausgesagt, hatten Abraham Middleton gelyncht. Zwischen ein und zwei Uhr.
Zwischen ein und zwei Uhr!
Sie rannte zurück ins Schlafzimmer und zog sich an. Ihren Jogginganzug und die Laufschuhe, die blaue Regenjacke. Ihre Haare band sie im Nacken mit einem Haargummi zusammen. Hastig lief sie zur Haustür hinunter.
Sie hatte keine Ahnung, was den Radiowecker dazu gebracht hatte, sich um zwanzig nach zwölf einzuschalten: der pure Zufall oder ein technischer Fehler oder auch der Geist, von dem ihre Vermieterin so oft sprach. Ganz egal, sie betrachtete es eindeutig als Hinweis, auch wegen des Songs, der gleich darauf gekommen war. Deutlicher konnte man sie nicht vor einem zweiten Mord warnen. Und selbst wenn der Song nur zufällig gespielt worden war, er hatte sie daran erinnert, dass der Mörder noch in dieser Nacht zuschlagen und Homer Middleton ein perfektes Opfer abgeben konnte. Wie sein Onkel lebte er auf der Farm, es waren eine Frau und Kinder im Haus und die alte Eiche stand immer noch.
Wenn der Täter auch den zweiten Mord kopierte und sich an die Vorgehensweise des alten Hamilton hielt, würde er zwischen ein und zwei Uhr zuschlagen. Genau dann, wenn die Cops nicht in der Nähe waren, denn von ihrem Chef hatte sie gehört, dass der Streifenwagen jeweils zur vollen Stunde an der Farm vorbeifahren würde. Das würde auch der Killer herausfinden. Nur woher wollte er zehn Klansmänner bekommen? Allein war ein Lynchmord kaum durchzuführen.
Sie steckte ihr Handy ein und öffnete die Haustür. Ihr Kater war immer noch schlapp und hob nicht einmal den Kopf, als sie aus dem Haus trat. Sie ging zu ihrem BMW, öffnete die Fahrertür und stieg ein. Erst als sie den Motor anließ, sah sie den jungen Mann auf der Parkbank sitzen. Mutterseelenallein hockte er vor der Grünanlage eines der vielen Plätze, die Savannah und seine Altstadt so reizvoll machten.
»David?«, flüsterte sie ungläubig. Er sah tatsächlich so aus wie der Mann, der ihr vors Auto gelaufen war, dieselben zerschlissenen Jeans, die ausgebleichte Jacke, die vorsintflutlichen Laufschuhe. Von den halblangen Haaren, die ihm bis über die Ohren reichten, ganz zu schweigen. David, das war ihr David, aber was machte er um diese Zeit auf einer Parkbank?
Sie hielt vor ihm und ließ das Beifahrerfenster herunter. »David? Was machst du denn hier? Weißt du überhaupt, wie spät es ist? Oder gehst du öfter mitten in der Nacht spazieren?«
»Ich bin ein Nachtmensch«, erwiderte er. Sein jungenhaftes Lächeln ließ ihn jünger erscheinen, als er wirklich war. »Nachts erscheint alles so … friedlich. Viel friedlicher, als es in Wirklichkeit ist. Und dann diese Stille. Hörst du tagsüber vielleicht den Wind in den Bäumen rauschen? Riechst du die Blumen?«
Seine Gegenwart und das Leuchten seiner blauen Augen ließen sie für einen Augenblick den schwarzen Farmer vergessen. »Ich mag Romantiker«, sagte sie, »und ich könnte dir stundenlang zuhören, aber ich habe im Augenblick leider gar keine Zeit. Sehen wir uns heute Abend? Um sieben? Hier?«
Anstatt zu antworten, erhob sich David, öffnete die Beifahrertür und stieg in ihren Wagen. Obwohl er sehr viel ernster wirkte als bei ihrem ersten Treffen, verzauberte er sie auch diesmal mit seiner Nähe und seiner Ausstrahlung, die etwas Magisches an sich hatte. Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe, so wohl und geborgen wie bei einem Menschen, den man schon viele Jahre kannte. Ein platter Vergleich, den man oft in Liebesschnulzen las, aber bei David und ihr stimmte er. Auch wenn sie das nach so kurzer Zeit nie für möglich gehalten hätte … sie hatte sich ein bisschen in ihn verliebt.
Nur für einen Sekundenbruchteil blitzte das vertraute Lächeln in seinen Augen auf, dann wurde er wieder ernst. »Ich weiß, wo die Farm von Homer Middleton liegt«, sagte er. »Ich war viele Male draußen. Die nächste Straße rechts und dann geradeaus …«
Alessa blickte ihn erstaunt an. »Woher weißt du, dass ich zur Middleton-Farm will? Hast du etwa auf mich gewartet? Hat der Killer … hat er dem Farmer etwas angetan?«
»Ich hoffe nicht«, erwiderte David. »Auch ein Mann wie ich, der zu vielem Zugang hat, was anderen Menschen verschlossen bleibt, kann nicht alles wissen. Ich weiß nur, dass der Ku-Klux-Klan wiederauferstanden ist. Nur sieben Männer, aber ein Großmeister, der zu allem entschlossen ist. Er ist der Mörder, nach dem du suchst. Er hat Angie Rydell ertränkt.«
»Der Großmeister?«
»Damals hatte er mehr Macht als ein Gouverneur. Heute ist er ein gewöhnlicher Verbrecher, der in der Vergangenheit lebt und dem jedes Mittel recht ist, um eine Welt nach seinen Wünschen zu erschaffen. Eine Welt, wie wir sie einmal hatten, die von Weißen regiert wird und in der Schwarze nichts zu sagen haben.« Er blickte sie an. »Willst du nicht fahren?«
Sie hatte ihm wie gebannt zugehört und sich in seinen Augen verloren, doch seine Frage brachte sie in die Wirklichkeit zurück. So ruckartig, als säße sie zum ersten Mal in einem Wagen mit Gangschaltung, fuhr sie los.
Als sie am Colonial Park Cemetery vorbeikamen, merkte sie, wie er mit weit geöffneten Augen auf die Gräber blickte. Zerfetzte Nebelschwaden hatten sich in den Baumkronen und dem Spanischen Moos verfangen und trieben zwischen den Grabsteinen dahin.
Sie erinnerte sich daran, ihn bei ihrem nächtlichen Ausflug am Grab von Bruce Gaddison gesehen zu haben, dem Restaurantbesitzer, der vom Klan umgebracht worden war, weil er Schwarze bedient hatte.
»Warst du gestern Nacht auf dem Friedhof ?«, fragte sie, nachdem sie am Colonial Park Cemetery vorbei waren und die Interstate ansteuerten. Nach ihrer Begegnung in dieser Nacht kam ihr die Idee gar nicht mehr so abwegig vor. Bisher hatte sie geglaubt, ihr Treffen auf dem Friedhof wäre Einbildung gewesen.
»Kann schon sein«, antwortete er. »Ich wohne hier ganz in der Nähe. Und wie du jetzt weißt, gehe ich gern nachts spazieren. Ehrlich gesagt, kann ich mich nicht erinnern. Nach unserem Abschied war ich sehr … sehr verwirrt. Ich glaube, ich bin kreuz und quer durch die Stadt gelaufen. Auch über den Friedhof. Friedhöfe sind sehr romantisch.«
»Ich war auch auf dem Friedhof und dachte, ich hätte dich gesehen.« Sie fuhr auf die Interstate und überholte einen leeren Reisebus. »Aber es war schon sehr spät, und ich habe mich vielleicht auch getäuscht. Du standest vor dem Grab von Bruce Gaddison.«
»Bruce … er war ein guter Kerl.« In seinen Augen war Wehmut zu erkennen. »Er hatte ein Diner im Süden der Stadt, einen umgebauten Eisenbahnwagen, in dem es die besten Hamburger von Savannah gab. Oder wenigstens die zweitbesten. Im Süden wohnten damals schon viele Neger … Afroamerikaner. Er machte nie einen Unterschied zwischen Schwarzen und Weißen, ließ einen Weißen in der Schlange warten, selbst wenn nur noch Schwarze vor ihm waren. Ich … seine Freunde warnten ihn die ganze Zeit, der Klan würde ihn umbringen, wenn er so weitermachte, und so kam es dann auch.«
Alessa blieb auf der Mittelspur und blickte ihn erstaunt an. »Du weißt viel über die Sechziger. Haben deine Eltern damals hier gelebt und dir davon erzählt? Waren Sie auch freundlich zu den Schwarzen?«
»Oh ja.« Ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Meine Eltern lebten damals schon in Savannah, aber um die Schwarzen kümmerten sie sich nicht viel. In ihrer Nachbarschaft gab es keine Schwarzen, und wenn ich mich recht entsinne, kamen sie auch mit keinem in Berührung. Nicht mal in der Schule hatten wir … hatten die Leute damals mit Schwarzen zu tun, wusstest du das? Weiße gingen auf eine weiße Schule, und Schwarze konnten froh sein, wenn sie überhaupt auf eine Schule gehen durften. Kaum zu glauben, dass das erst fünfzig Jahre her ist!« Er blickte nach vorn und studierte die Straßenschilder. »Wir sind auf der neuen Schnellstraße, nicht wahr? Wenn ich hier draußen war, hab ich meist den Highway genommen. Hey … was ist das?«
Vor ihnen leuchteten rote Sprühfackeln auf der Straße. Ein Streifenwagen mit flackernden Warnlichtern stand quer und ein Polizist in einer Weste mit Leuchtstreifen hielt den Verkehr an. Weiter vorn waren einige Männer dabei, einen ausgebrannten Lieferwagen mit einer Seilwinde auf einen Abschleppwagen zu laden. Zehn Minuten, deutete der Polizist an.
Natürlich dauerte es doppelt so lange, bis die Straße frei war und sie ihre Fahrt fortsetzen konnten. Nur eine Meile weiter kam die Ausfahrt nach Meldrim.
Alessa bog auf eine verlassene Landstraße und fuhr an der kleinen Stadt vorbei. Nur in einem der Häuser brannte noch Licht. Schon nach halb zwei, zeigte die Uhr am Armaturenbrett. »Wir sind zu spät«, befürchtete sie. »Der Mord an Abraham Middleton geschah zwischen ein und zwei Uhr.«
»Um ein Uhr zwanzig«, erwiderte David kleinlaut. Er schien sich die Schuld an der Verspätung zu geben. »Ohne den Unfall hätten wir es geschafft. Aber so …« Er schloss die Augen, kämpfte er gegen Tränen an? »Wenn der Killer so verrückt ist, wie ich glaube, kommen wir zu spät. Dort hinten geht es rechts ab.«
Sie sahen das brennende Kreuz schon von Weitem. Wie das bedrohliche Mahnmal aus einer längst vergangenen Zeit erhob es sich vor der einsam gelegenen Farm. Die Flammen züngelten an dem feuchten Holz empor und ließen das Farmhaus, den Stall und den Schuppen nur schemenhaft erkennen. Schwarze Rauchschwaden hingen über den Gebäuden, dem Hof und dem Kartoffelacker.
»Verdammt!«, fluchte Alessa und bog auf die Schotterstraße zur Farm. Mit Vollgas raste sie am Acker entlang zum Farmhaus. Noch bevor sie aus dem Wagen sprang, ahnte sie, was sie im Schein des brennenden Kreuzes erwarten würde. »Verdammt!«, rief sie noch einmal, als sie den leblosen Körper von Homer Middleton vom Ast der Eiche baumeln sah.
Sie drehte sich zu David um, aber der Beifahrersitz war leer und der Mann war nirgendwo zu sehen.
»David! Wo bist du, David?«
Ihr blieb keine Zeit, nach ihm zu suchen. Aus dem Haus drangen gellende Hilfeschreie. Er hat eine Frau und drei Kinder, fiel ihr ein, sie haben alles mit ansehen müssen, so wie damals.
Sie rannte auf das Haus zu.