18

Als Special Agent Matthew Sunflower den Raum betrat, glaubte Jenn, einen Klon vor sich zu haben. Die Agents in Chicago hatten ähnlich ausgesehen: schlank und gepflegt, legerer Anzug mit Krawatte, das Kinn glatt rasiert, die Haare korrekt frisiert. Dazu ein Lächeln, das so falsch war wie die Jacketkronen über seinen Vorderzähnen. Sein Aftershave duftete teuer.

»Special Agent Matthew Sunflower vom FBI übernimmt ab sofort die Ermittlungen im Mordfall Angela Rydell«, eröffnete der Lieutenant die Besprechung. Er stellte alle Anwesenden vor, die Detectives Jennifer McAvoy und Nick Harmon und den obersten Bezirksstaatsanwalt Jack Crosby. »Staatsanwältin Alessa Fontana kann leider nicht hier sein, sie hat vor Gericht zu tun.«

Agent Sunflower zeigte sein einstudiertes Lächeln, das auch zu einem Versicherungsvertreter gepasst hätte. »Lassen Sie mich Ihnen zuerst einmal sagen, dass ich mich sehr auf unsere Zusammenarbeit freue. Die Zeiten, in denen sich die Polizei und das FBI gegenseitig das Leben schwer machten, sind lange vorbei. In diesem Sinne: auf gute Zusammenarbeit, Kollegen!« Er prostete den anderen Teilnehmern mit dem Kaffeebecher zu.

Jenn erwiderte die Begrüßung nur widerwillig, was daran liegen mochte, dass sie wegen der Verfolgung von Sharer nur wenige Stunden geschlafen hatte, aber auch daran, dass sie noch nie gut mit dem FBI gekonnt hatte. »Eingebildete Spießer«, nannte sie die meisten Agents, weil sie sich für etwas Besseres hielten und sich dabei so bieder wie Dorfpolizisten verhielten. Abgesehen davon, dass sie sich viel zu sehr auf ihre Hightechspielzeuge verließen. Ein kurzer Blick auf Harmon zeigte ihr, dass er ähnlich dachte. Er war noch müder als sie, obwohl er bereits beim zweiten Becher Kaffee angelangt war. Jack Crosby wirkte ausgeschlafen, ebenso der Lieutenant.

Agent Sunflower blätterte in den Akten, die vor ihm lagen. Sein falsches Lächeln schien eingefroren. »Ich habe mir die Unterlagen genau angesehen«, sagte er. »Der Mord erinnert mich an einen Serientäter, mit dem wir es mal in D. C. zu tun hatten.« »D. C.« stand natürlich für »Washington, D. C.«, die Abkürzung der Insider. »Aber der kann es nicht gewesen sein, der wurde bereits vor zwei Jahren hingerichtet.« Er hielt die Bemerkung wohl für einen gelungenen Scherz und blickte lächelnd auf. Als er sah, dass niemand lachte, fuhr er ernster fort: »Sie wundern sich vielleicht, dass wir vom FBI uns um den Fall kümmern. Nun, das liegt daran, dass die Tat an einen Mord vor vierzig Jahren erinnert, auf ähnliche Weise begangen wurde und das Opfer eine Nachfahrin des damaligen Mordopfers ist. Außerdem spricht einiges dafür, dass der Mörder aus South Carolina oder einem der anderen Nachbarstaaten stammen könnte und wir es allein schon deswegen hier mit einem Fall zu tun haben, der in die Verantwortung der Bundesbehörde fällt. So weit einverstanden?«

Jenn blickte den Agent direkt an. »Dass der Täter aus einem Nachbarstaat kommt, ist doch gar nicht bewiesen. Ich dachte, dem FBI ist vor allem daran gelegen, weitere Morde in dieser Richtung zu verhindern. Nach unseren bisherigen Ermittlungen könnte es durchaus sein, dass der Mörder vorhat, alle fünf Morde, die man Jeremy Hamilton zuschreibt, an direkten Nachkommen zu wiederholen.« Sie berichtete von den Kreuzen auf den Grabsteinen. »Könnten wir es nicht mit der Wiedergeburt des Ku-Klux-Klan zu tun haben? Oder mit einer radikalen Gruppe, die sich dafür hält?«

Noch bevor Agent Sunflower etwas erwidern konnte, bemerkte Jack Crosby lächelnd: »Detective McAvoy kommt aus Chicago. Wenn ich mich recht erinnere, war der Klan so weit im Norden selten aktiv, sonst wüssten Sie vielleicht, dass dieser Geheimbund auch im Süden schon lange passé ist. Nein, Agent, die Staatsanwaltschaft glaubt nicht an einen solchen Hintergrund, eher an einen Nachahmungstäter. Etwas anderes können wir bisher auch nicht beweisen.«

»Der Bezirksstaatsanwalt hat recht«, stimmte der Agent zu. »Ich will nicht ausschließen, dass wir es hier mit einem Verrückten zu tun haben, der sich für den rechtmäßigen Nachfolger von Jeremy Hamilton hält. Der Prozess hat ja lange genug gedauert und wurde in den Medien breitgetreten. Aber von einer Verschwörung, die weitere Morde nach sich ziehen könnte, wage ich bisher nicht zu sprechen.«

»Aber ich möchte sie auch nicht ausschließen«, sagte der Lieutenant. »Wenn es einen Verrückten gibt, könnte es auch mehrere Verrückte geben, die sich Kutten überziehen, um die ›glorreichen Zeiten‹ des Klans wieder aufleben zu lassen. Was meinen Sie?«

Agent Sunflower nippte an seinem Kaffee und leckte sich über die Lippen. »Bisher liegen uns keine Beweise für eine solche Behauptung vor, Lieutenant. Die Kreuze kann auch ein Jugendlicher auf die Grabsteine gemalt haben. Nein, ich neige eher dazu, Zurückhaltung zu üben, gerade in einem Fall wie diesem. Ich habe gestern mit meinen Kollegen vom Organisierten Verbrechen und der Terrorbekämpfung gesprochen. Auch sie haben keinerlei Hinweise darauf, dass es im Raum Savannah zur Bildung einer terroristischen Zelle gekommen sein könnte. Natürlich gibt es ein paar religiöse Spinner, die sich an den Lehren des Klans orientieren, aber das ist auch alles. Andere Rechtsradikale sind in Savannah bisher nicht aufgefallen. Wir sollten den Fall deshalb mit der gebotenen Zurückhaltung behandeln. Mir reicht schon, was das Fernsehen aus dem Mord gemacht hat. Diese Melinda Stone habe ich gestern sogar in den Abendnachrichten gesehen.«

»Und warum sind Sie dann hier?«, brauste Jenn auf. Die warnende Miene des Lieutenants übersah sie. »Wollen Sie darauf warten, dass dieser Irre noch einmal zuschlägt? Als Nächstes könnte ein Angehöriger von Helen Rydells schwarzem Freund auf seiner Liste stehen.« Sie berichtete von Moses und Homer Middleton. »Sie kommen beide als mögliche Opfer infrage. Warum postieren wir unsere Leute nicht in ihrer Nähe? Wenn es sein muss, auch schlagkräftige SWAT-Teams und Scharfschützen?«

Der Agent lächelte spöttisch. »Jetzt verstehe ich, warum man mich vor Ihnen gewarnt hat, Detective. Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, nicht wahr?« Er ließ die Worte wirken und fuhr fort: »Ich behaupte nicht, dass wir diese Möglichkeit außer Acht lassen. Wir werden natürlich wachsam sein und die uniformierten Kollegen anweisen, in relativ kurzen Abständen bei den beiden Männern vorbeizuschauen. Aber für einen Großeinsatz reicht die Beweislage nicht aus, und ich halte ihn auch nicht für angemessen. Mal davon abgesehen, dass uns dafür auch die Einsatzkräfte fehlen.«

»Und morgen haben wir den nächsten Toten, und die Medien zerreißen uns in der Luft!« Jenn war wieder mal auf hundertachtzig. »Ist es das, was Sie wollen, Special Agent Sunflower?«

»Wie gesagt, wir tun alles, was in unserer Macht steht.« Diesmal blieb der Agent ernst. »Aber für groß angelegte Aktionen ist es noch zu früh. Ich würde deshalb vorschlagen, nicht zu viel Aufhebens von dem Fall zu machen, vor allem nicht vor der Presse.«

Jenn blickte ihn ungläubig an. »Und wir sollen Homer und Moses Middleton ihrem Schicksal überlassen? Ist das nicht reichlich riskant, Agent Sunflower? Ich habe ein ungutes Gefühl.«

»Das berühmte Bauchgefühl, von dem die Detectives im Fernsehen immer sprechen? Damit kommen Sie im wirklichen Leben nicht weit, das müssten Sie eigentlich wissen, Detective.«

»Ach ja?«

Agent Sunflower überhörte ihre schnippische Bemerkung und schob seine Papiere zusammen. »Ich schlage vor, wir treffen uns morgen wieder. Um zehn Uhr? Lieutenant, Sie teilen die Streifenwagen für die Überwachung ein. Und Sie, Detective McAvoy … bitte keine Alleingänge, okay?«

»Aye, Sir«, erwiderte sie.

Jetzt lächelte er wieder. »Was anderes, Kollegen … gibt’s hier in Savannah eigentlich eine richtig gute Sushibar?«

Ghost Street
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