11

Dunkle Wolken hingen über Savannah, als Jenn und Harmon aus Reidsville zurückkehrten. Am Horizont zuckten Blitze über den Himmel. Fast alle Fahrzeuge, die ihnen entgegenkamen, hatten die Scheinwerfer eingeschaltet.

»Toller Ausflug«, sagte Harmon. Er klang weinerlich wie ein Beamter, der seine Pension herbeisehnt. Dabei hatte er noch vierzehn Dienstjahre vor sich, wenn er sich nichts zuschulden kommen ließ. »Dass Hamilton was gegen Schwarze hat und sich wie ein fanatischer Nazi aufführt, wussten wir auch vorher. Wir hätten zu Hause bleiben und uns eine Runde aufs Ohr hauen sollen, dann wären wir wieder fit.«

Jenn saß auch auf der Rückfahrt am Steuer. »Du hast doch gepennt, die Hinfahrt und die ganze Rückfahrt auch. Das kommt davon, wenn man in deinem Alter eine junge Frau heiratet und zwei Kinder bekommt.«

»Lass mein Privatleben aus dem Spiel. Und nur damit du’s weißt: Wenn sich zwei Menschen wirklich verstehen, spielt das Alter keine Rolle.« Er blickte sie verschlafen, aber auch etwas mitleidig an. »Du solltest dir auch eine Familie zulegen, dann wärst du sicher ruhiger und würdest nicht dauernd ausrasten wie bei den Jungs heute früh und bei der Reporterin.« Er griff nach dem Becher mit Kaffee, den sie vor ihrer Rückfahrt bei McDonald’s an der Interstate besorgt hatten. »Hast du eigentlich einen Freund?«

Jenn ließ nicht erkennen, dass ihr die Frage unangenehm war. »Männer sind mir zu kompliziert. Und Frauen auch«, fügte sie rasch hinzu, »zumindest wenn es um Sex und Liebe geht.«

»Die meisten Frauen sind in deinem Alter längst verheiratet.« Harmon trank von dem kalt gewordenen Kaffee.

»Hier im tiefen Süden vielleicht.« Jenn musste grinsen. »Ich hab gehört, hier heiraten sie schon mit vierzehn oder fünfzehn. Mit zwanzig haben sie einen Stall voller Kinder, und mit dreißig werden sie von ihren Männern verprügelt, oder sie sind geschieden und liegen dem Staat auf der Tasche.« Sie überholte einen Reisebus und blieb auf der linken Spur. »Keine Angst, ich komme schon auf meine Kosten, aber meinen zweiten Hausschlüssel gebe ich nur her, wenn mir der Richtige über den Weg läuft. Ich mache keine Kompromisse, die habe ich nie gemacht.«

»Und rennst irgendwann gegen die Wand«, warnte Harmon. »Sei lieber vorsichtig. Ich hab keine Ahnung, warum du aus Chicago weggegangen bist, und will’s auch gar nicht wissen, aber ein Lover kann’s nicht gewesen sein und die Sehnsucht nach den Südstaaten auch nicht.« Er stellte den Kaffeebecher in die Halterung. »Ungezogene Jungs wie die von heute Morgen, nicht mal Dreckskerle wie Hamilton sind einen Verweis wert. Hör auf einen erfahrenen Cop wie mich: Wir können die Welt nicht verändern, weder mit den Fäusten noch mit der Knarre.«

»Aber wir können es versuchen.« Sie verließ die Interstate und fuhr über die Ausfahrt auf die Straße zum Polizeirevier. Vereinzelte Regentropfen zerplatzten auf der Windschutzscheibe.

»Oh shit!«, fluchte Jenn, als sie auf den Parkplatz fuhren und den Van von WSAV vor dem Eingang stehen sahen. »Die blonde Hexe vom Sender!«

Harmon traute seinen Augen nicht. »Melinda Stone? Was tut die denn hier? Wartet die etwa auf uns? Haben die denn nichts Wichtigeres zu tun?«

»Ist doch eine Bombenstory.« Jenn fuhr in eine Parklücke und stellte den Motor ab. »Ku-Klux-Klan wiederholt Mordserie, die Georgia vor vierzig Jahren in Atem hielt! Zwei Cops beim achtzigjährigen KKK-Chef im Knast! Lässt er die Nachkommen seiner Opfer ermorden? Erschüttert eine neue Mordserie die Stadt? Melinda Stone spricht mit den verantwortlichen Detectives …«

Harmon rang sich ein Lächeln ab. »Du hättest zum Fernsehen gehen sollen. Den richtigen Ton hast du schon drauf. Du müsstest dir natürlich die Haare blond färben und eine andere Frisur zulegen, so wie Melinda Stone.«

»Den Teufel werde ich tun. Ich geige ihr mal ordentlich die Meinung, das kommt viel besser. Diese zickigen Püppchen gehen mir sowieso auf die Nerven. In Chicago hab ich mal einer Kaffee über die Frisur geschüttet.«

»Jetzt wundert mich nichts mehr. Wahrscheinlich bist du deshalb aus Chicago geflohen, weil man dich sonst geteert und gefedert hätte. Stimmt’s?«

Sie ersparte sich eine Antwort und stieg aus. Ohne auf Harmon zu warten, der wie meist einige Schritte hinter ihr blieb, ging sie über den Parkplatz. Ihren Wagen ließ sie unverschlossen, auf dem Parkplatz des Polizeireviers klaute niemand ein Auto.

Melinda Stone wartete bereits mit gezücktem Mikrofon auf sie, ihr Kameramann schulterte sein schweres Gerät und nahm sie ins Visier. »Detective McAvoy, nur ein paar Fragen, bitte …«

Jenn hätte der Reporterin am liebsten das Mikrofon aus der Hand geschlagen. Doch ein solches Vorgehen hätte sich vor den Fenstern des Polizeireviers schlecht gemacht, zumal wenn Melinda Stone die Aufnahmen auch noch in den Nachrichten zeigen würde, und Jenn wollte nicht schon wieder umziehen, es reichte schließlich, dass sie Chicago gegen den tiefsten Süden eingetauscht hatte. Doch sie wollte auch nicht wortlos an der Reporterin vorbeimarschieren. »Ich habe wenig Zeit, Miss Stone.«

Die Reporterin setzte ihre Fernsehmiene auf und legte los: »Detective McAvoy, Sie und Ihr Partner kehren gerade aus dem Georgia State Prison in Reidsville zurück. Sie haben den achtzigjährigen Jeremy Hamilton verhört, ein ehemaliges Mitglied des Ku-Klux-Klan. Er wurde für die Ermordung von Helen Rydell zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Heute Morgen wurde Angela Rydell, die Tochter des damaligen Opfers, auf die gleiche Weise ermordet. Hat Jeremy Hamilton etwas mit diesem Mord zu tun, Detective McAvoy?«

Jenn hörte sich die lange Einführung der Reporterin geduldig an. Nur wer sie gut kannte, hätte an ihren leicht geröteten Wangen erkannt, wie sehr sie die Worte in Rage brachten. Doch statt sich ihren Zorn anmerken zu lassen, zeigte sie ein süffisantes Lächeln. »Ich weiß, dass Sie Ihren Zuschauern knackige Sensationen liefern wollen und es am liebsten hätten, wenn mich Hamilton im Verhörraum vergewaltigt hätte. Aber dazu kam es nicht. Gott sei Dank, wie ich hinzufügen möchte. Ansonsten bin ich … sind wir nicht bereit, Ihnen alle paar Stunden einen Bericht über den aktuellen Stand unserer Ermittlungen zu geben. Nur so viel: Bisher ist nicht erwiesen, ob eine Nachfolge-Organisation des Ku-Klux-Klan oder ein gewöhnlicher Killer, der lediglich auf sich aufmerksam machen will, für den Mord an Angela Rydell verantwortlich sind. Und nein, wir haben noch keine Verhaftung vorgenommen. Wir ermitteln erst seit ein paar Stunden, Miss Stone, was erwarten Sie von uns? Dass wir zaubern so wie die Cops im Fernsehen? Zugegeben, wenn Sie und Ihr Kameramann uns nicht dauernd im Weg stehen würden, kämen wir vielleicht schneller voran. Warum berichten Sie nicht über den kleinen Eisbären im Zoo? Oder die Mutter mit den acht Kindern oder sonst etwas in der Preislage? Die Storys kommen doch immer gut an. Und so ein kuscheliger Eisbär oder ein blondes Prinzesschen aus dem Kinderheim sehen auch noch besser aus als wir zwei. Hab ich recht, Harmon?«

Harmon wusste nicht, was er sagen sollte, und blickte verlegen zu Boden.

»Klar hab ich recht.« Sie sah die Reporterin herausfordernd an. »War’s das, Miss Stone? Oder kommt noch was? Nein? Na, dann würde ich vorschlagen, dass Sie Ihre Siebensachen zusammenpacken und weiterziehen. Sobald wir Ergebnisse haben, erfahren Sie es als Erste.« Ihr süffisantes Lächeln und der spöttische Ton verrieten, dass genau das Gegenteil der Fall sein würde. »Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen wollen, Miss.«

Sie ließ die Reporterin und ihren Kameramann stehen und eilte zum Eingang, dicht gefolgt von Harmon, der lieber vor Erschöpfung schnaufte, als selbst befragt zu werden. Im Aufzug kam er langsam wieder zu Atem.

»Ich hatte schon Angst, du würdest mit ihr das Gleiche machen wie mit den Jungs heute früh«, sagte er. »Oder ihr zumindest eine reinhauen.«

Sie lächelte. »Hätte gut sein können. Ich war gerade in der richtigen Stimmung. Verlogenes Fernsehpack!«

»Schlechte Erfahrungen?«

»Mehr als genug.«

Sie steuerten das Büro des Lieutenants an und sahen ihn durch die Glastür seines Büros am Fenster stehen. Er hatte alles mit angesehen.

»Haben Sie Melinda als räudige Katze beschimpft? Als stinkende Kröte oder hirnlose blonde Fernsehtussi?«

»Ich hab ihr gesagt, dass Sie sich um den kleinen Eisbären im Zoo kümmern soll, der würde mehr hergeben.«

»Maurice?«

»Sie kennen sogar seinen Namen?«

Er drehte sich lachend vom Fenster weg. »Mein Enkel schwärmt für ihn. Ich hab ihm einen Stoffbären gekauft, mit dem zieht er jetzt den ganzen Tag rum. Sie halten wohl nichts von ihm?«

»Von Ihrem Enkel?«

»Von Maurice.«

»Der geht mir am …« Sie bremste sich gerade noch rechtzeitig. »Ich hab’s nicht so mit den Kuschelbären.«

Der Lieutenant besann sich auf seine Arbeit und kehrte hinter seinen Schreibtisch zurück. »Wie ist es gelaufen? Hatte Hamilton was zu sagen?«

»Nicht viel«, erwiderte Jenn. Sie berichtete in kurzen Zügen, ging nur auf das Wesentliche ein. »Wenn Sie nichts dagegen haben, hauen wir uns jetzt ein paar Stunden aufs Ohr und knöpfen uns heute Abend den Sohn von Hamilton vor. Stephen Hamilton. Während des Prozesses war er mal im Fernsehen. Er fährt Taxi für Yellow Cab. Vielleicht hat er was mit dem Mord zu tun. Unser Vergewaltiger geht sowieso nie vor Mitternacht aus dem Haus, den erwischen wir früh genug.«

»Das geht leider nicht, Jenn.«

»Wieso nicht?«

»Weil ich heute Nachmittag einen Anruf vom FBI hatte. Die Feds wollen sich ab sofort um den Fall kümmern. Angeblich, weil Jeremy Hamilton seine Morde in zwei Bundesstaaten begangen hat und der neue Mörder ähnlich vorgehen könnte, falls ihm der eine Mord noch nicht reicht. Wenn sich eine Mordserie über zwei oder mehr Bundesstaaten erstreckt, ist das FBI zuständig, so steht es im Gesetz. Ist zwar ein bisschen weit hergeholt, aber gegen die Feds kann ich nicht viel ausrichten. Sie wollen morgen früh einen Agenten herschicken, der soll entscheiden, inwieweit wir eingebunden werden sollen. Tut mir leid, aber so ist es nun mal. Also wird Ihnen wohl nichts anderes übrig bleiben, als sich wieder um Reggie zu kümmern.«

»Na, toll«, sagte Jenn.

Der Lieutenant stapelte die Papiere von der rechten auf die linke Seite seines Schreibtischs. »Ich weiß es auch erst seit ein paar Minuten, das FBI hat gerade erst angerufen. Special Agent Matthew Sunflower wird morgen Mittag um zwei in meinem Büro sein. Da er allein kommt, nehme ich an, dass Sie unter seinem Kommando weiter an dem Fall arbeiten können. Er klang sehr umgänglich. Seien Sie pünktlich.«

»Sunflower«, wiederholte Harmon.

»Unter seinem Kommando«, sagte Jenn. Sie war nicht gerade begeistert von der Nachricht. »Das heißt, wir sollen nach der Pfeife der Feds tanzen.«

»So ungefähr«, räumte der Lieutenant ein. »Aber wie gesagt … er klang umgänglich und wir sollten uns jetzt nicht verrückt machen. Bisher haben wir gut mit dem FBI zusammengearbeitet. Meistens jedenfalls.«

»Na, toll«, sagte Jenn wieder.

Und als sie außer Hörweite des Lieutenants und auf dem Weg nach unten waren: »Einen Scheißdreck werden wir tun! Wir knöpfen uns diesen Stephen Hamilton vor, und zwar jetzt.«

»Ohne mich«, erwiderte Harmon.

»Ich hab auch nicht gesagt, dass ich dich dabeihaben will. Geh du nach Hause zu deiner Frau und deinen Kindern. Ich bestelle mir ein Yellow Cab.«

»Du riskierst deinen Job.«

Sie lachte. »Wir riskieren noch was ganz anderes, Harmon. Falls der Typ mit dem Mord zu tun hat und heute Nacht wieder zuschlägt, sind wir doch auch die Dummen. Was meinst du, was diese Fernsehtussi dann über uns sagt? Dass wir strikt nach den Vorschriften gehandelt und auf das FBI gewartet haben? Nein, die Genugtuung gönne ich Miss Stone nicht.« Sie gingen über den Parkplatz und blieben vor dem Privatwagen von Harmon stehen, einem braunen Kombi, wie es sich für einen Familienvater gehörte.

»Ich weiß nicht«, sagte er.

»Keine Angst«, beruhigte sie ihn, »ich fühle ihm nur ein wenig auf den Zahn. Um zehn bin ich bei dir. Wenn was ist, rufe ich dich übers Handy an.«

Er kramte seinen Schlüssel hervor und öffnete die Fahrertür. »Du kostest mich noch meinen letzten Nerv, Jenn!«

»Das hat mein Partner in Chicago auch immer gesagt.« Sie verabschiedete sich lachend und ging zu ihrem Wagen. »Grüß deine Frau und deine Kinder von mir«, rief sie ihm zum Abschied nach.

Ghost Street
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