8

Um acht Uhr abends klingelte das Telefon. Es war Milo. »Stör ich bei irgendwas?«

Dafür war er eine Stunde zu spät dran. Mittlerweile lag Robin im Bett und las, während ich schon einen Spaziergang mit Spike durch den Canyon hinter mir hatte. Als das Telefon klingelte, saß ich draußen auf der Terrasse und versuchte die ganzen Fragezeichen aus meinem Kopf zu verscheuchen, indem ich mich krampfhaft auf das Geräusch des Wasserfalls im Fischteich konzentrierte und dankbar darüber war, dass ich den Freeway nicht hörte.

»Nein, kein bisschen. Was gibt’s?«

»Ich hab neue Informationen über Ciaire und Stargill. Die beiden waren zwei Jahre lang verheiratet. Geschieden vor nicht ganz zwei Jahren. Keine Kinder. Mit Stargill habe ich mittlerweile auch gesprochen. Er sagt, es war eine einvernehmliche Trennung. Er ist Teilhaber in einer Gemeinschaftskanzlei von zehn Anwälten und hat vor drei Monaten wieder geheiratet. Was mit Ciaire passiert ist, hat er gerade erst erfahren. In den Zeitungen von San Diego stand nichts darüber, aber einer seiner Partner war geschäftlich in L.A. und hat davon gelesen.«

»Wie hat er sich angehört?«

»Er klang ziemlich erregt am Telefon, aber was hat das schon zu sagen? Er meinte, er würde bezweifeln, dass er mit großartigen neuen Informationen aufwarten könnte, doch er war einverstanden, sich mit mir zu unterhalten. Wir sind morgen früh um zehn verabredet.«

»In San Diego?«

»Nein, er kommt her.«

»Sehr kooperativ, der Bursche.«

»Er hat geschäftlich hier zu tun. Irgendwelche Erschließungen von Gewerbegrundstücken - er arbeitet als Immobilienanwalt.«

»Das heißt, er kommt regelmäßig nach L.A.«

»Ja. Das hab ich mir allerdings auch schon notiert. Trotzdem, mal sehen, wie er sich benimmt, wenn man ihm persönlich gegenübersteht. Wir treffen uns in Claires Haus. Das übrigens ihr gehört. Es war seine Junggesellenwohnung, doch er hat es ihr nach der Scheidung überschrieben und eingewilligt, die Hypotheken und Grundsteuern zu zahlen, wenn sie im Gegenzug auf Ehegattenunterhalt verzichtet und ihre Finger von seinen Wertpapierdepots lässt.«

»Wer erbt jetzt Haus und Grundstück?«

»Gute Frage. Stargill sagt, soweit er weiß, hat sie kein Testament gemacht, und Lebensversicherungen zugunsten des anderen haben sie auch nicht abgeschlossen. Ich selbst habe keine Policen entdeckt; Ciaire war neununddreißig und hat vermutlich nicht damit gerechnet, bald zu sterben. Ich nehme mal an, dass ein Anwalt Mittel und Wege finden könnte, zumindest teilweise Besitzrechte an dem Haus geltend zu machen - indem er beispielsweise die Hypothekenzahlungen als Grundlage dafür nimmt. Doch ich schätze, dass die Eltern in der Erbfolge zuerst kommen. Was glaubst du, wie viel so ein Anwesen wohl wert ist?«

»Dreihunderttausend oder so. Wie hoch ist die Tilgungssumme?«

»Das werden wir morgen herausbekommen. Wenn der Bursche so kooperativ bleibt wie bisher … vielleicht hat er es ja satt gehabt, ihre Rechnungen zu bezahlen, hm?«

»Könnte hinkommen, gerade jetzt, wo er wieder geheiratet hat. Und besonders dann, wenn er Geldprobleme hat. Wäre ganz gut zu wissen, wie seine Finanzlage aussieht.«

»Wenn du ihn sehen willst, sei um zehn Uhr da. Ich habe außerdem Heidi Ott eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen, aber bisher hat sie sich noch nicht gemeldet. Ach ja, das Labor hat einen weiteren Bericht über die Fingerabdrücke geschickt: Sie stammen allesamt von Ciaire. Sieht ganz so aus, als hätte sie wirklich niemals jemanden reingelassen.«

Am nächsten Morgen rief ich Dr. Myron Theobold im County Hospital an und hinterließ ihm eine Nachricht auf seiner Mailbox. Dann fuhr ich zum Cape Horn Drive, wo ich um Viertel vor zehn ankam. Milos ziviler Einsatzwagen parkte am Straßenrand, während vor der Garage eine funkelnagelneue dunkelgraue BMW-Limousine stand, an deren Dach Halterungen für Skier montiert waren.

Die Haustür war unverschlossen, also trat ich ein. Milo hatte wieder seinen Stammplatz in dem leeren Wohnzimmer eingenommen. Am Küchentresen stand ein Mann Mitte vierzig in einem blauen Anzug mit weißem Hemd und einer gepunkteten gelben Krawatte. Er war knapp unter einsachtzig, hatte eine sportliche Figur, kurz gelocktes rötliches Haar und einen Bart, der mit grauen Haaren durchsetzt war. Am linken Handgelenk trug er eine schmale Armbanduhr aus Gold. Diamantbesetzter Ehering. Auf Hochglanz polierte rotbraune Budapesterschuhe.

Milo sagte: »Das ist Dr. Delaware, unser psychologischer Berater. Doktor, Mr. Stargill.«

»Joe Stargill.« Er streckte mir die Hand entgegen. Trockene Handflächen, doch ein Zucken in den nussbraunen Augen. Seine Stimme klang leicht belegt. Er schaute an mir vorbei in das leere Zimmer und schüttelte den Kopf.

»Mr. Stargill hat gerade erklärt, dass sich hier einiges verändert hat.«

Stargill sagte: »Als wir hier zusammenlebten, sah es hier völlig anders aus. Wir hatten Teppichböden, Möbel. Da drüben stand ein großes Ledersofa; dort an der Wand hatten wir ein Chromregal - Etagere sagt man wohl dazu. Jedenfalls hat Ciaire mir das erklärt. Ich hatte schon das eine oder andere angeschafft, als ich hier noch allein lebte, aber eigentlich war es Ciaire, die die Einrichtung übernommen hat. Töpferwaren, Skulpturen, Makramee - Sachen, durch die eine Wohnung hübsch und gemütlich wird.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Sieht ganz so aus, als hätte sie sich stark verändert.«

»Wann haben Sie zum letzten Mal mit ihr gesprochen, Sir«, sagte Milo.

»Das ist Jahre her. Um genau zu sein, als ich meine Sachen hier abtransport habe. So etwa ein halbes Jahr vor der endgültigen Scheidung.«

»Sie haben also schon vor der Scheidung getrennt gelebt?«

Stargill nickte und strich sich mit den Fingern durch den Bart.

Milo sagte: »Also haben Sie vor etwa zweieinhalb Jahren zum letzten Mal Kontakt miteinander gehabt?«

»Richtig.«

»Über die Scheidung haben Sie nie gesprochen?«

»Aber klar doch. Wir haben gelegentlich telefoniert, um die Details zu klären. Ich dachte, Sie meinten, ob wir uns ernsthaft darüber unterhalten hätten.«

»Ah«, sagte Milo. »Und nach der Scheidung sind Sie nie vorbeigekommen, einfach so auf Besuch?«

»Dafür gab’s keinen Grund«, sagte Stargill. »Ciaire und ich - das war schon vorbei, lange bevor es dann offiziell wurde. Wenn man’s genau nimmt, hat es nie richtig angefangen.«

»Ihre Ehe hat schon ziemlich bald aufgehört zu funktionieren.«

Stargill stieß einen Seufzer aus und knöpfte sein Jackett zu. Seine breiten Hände waren übersät mit Sommersprossen und gelblichen Haaren. »So kann man es nicht nennen, sie hat nicht aufgehört zu funktionieren, sondern sie war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Im Grunde genommen war das Ganze von Anfang an ein Fehler. Hier, das habe ich mitgebracht. Ich habe es heute Morgen gefunden.«

Er zückte eine Brieftasche aus Krokoleder und zog ein kleines Foto heraus, das Milo eingehend betrachtete und dann an mich weiterreichte.

Ein Farbfoto von Ciaire und Stargill. Beide Arm in Arm, im Hintergrund ein Spruchband mit den Worten »Frisch vermählt«. Er trug einen beigen Anzug mit braunem Rollkragenpullover. Einen Bart hatte er nicht, stattdessen aber eine Brille. Sein unbehaartes Gesicht wirkte knochig, sein Lächeln zögerlich.

Ciaire trug ein ärmelloses blassblaues Kleid, das bis zum Boden reichte und mit lila Stiefmütterchen bedruckt war. In der Hand einen Strauß weißer Rosen. Ihr Haar war lang, glatt und in der Mitte gescheitelt. Ihr Gesicht wirkte schmaler und die Wangenknochen energischer als auf dem Passfoto, das ich gesehen hatte.

Ein strahlendes Lächeln.

»Ich weiß auch nicht genau, warum ich es mitgebracht habe«, sagte Stargill. »Ich wusste noch nicht mal, dass ich es überhaupt hatte.«

»Wo haben Sie’s gefunden?«, sagte Milo.

»In meinem Büro. Ich bin da heute früh noch mal vorbeigefahren, bevor ich hierher kam, um die gemeinsamen Unterlagen von Ciaire und mir noch mal durchzugehen: Scheidungsunterlagen, die Urkunde, mit der ich ihr das Haus übertragen habe und so weiter. Das alles ist draußen im Wagen - Sie können mitnehmen, was Sie wollen. Das Bild ist zwischen ein paar Papieren herausgerutscht.«

Stargill wandte sich an mich: »Ich nehme an, dass ein Psychologe da einiges herauslesen kann - aus der Tatsache, dass ich es immer noch hatte. Vielleicht sagt es ja was aus über mein Unterbewusstsein, ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, dass ich es bewusst aufgehoben hätte. Und es war schon ein reichlich bizarrer Moment, es wieder vor Augen zu haben. Wir sehen ziemlich glücklich aus, nicht?«

Ich betrachtete das Foto ein wenig eingehender. Hinter den Frischverheirateten war ein Altar zu sehen, der einen ziemlich mickrigen Eindruck machte und mit Flitter bestreut war.

»Las Vegas?«, fragte ich.

»Reno«, erklärte Stargill. »Eine Bruchbude von einer Hochzeitskapelle, wie man sich’s schlimmer kaum vorstellen kann. Geleitet von einem alten Knacker, der schon halb blind war und vermutlich obendrein auch noch besoffen. Als wir in Reno ankamen, war es schon nach Mitternacht, und der alte Knacker wollte seinen Laden eigentlich dichtmachen. Ich habe ihm dann einen Zwanziger zugesteckt, damit er uns noch im Schnellverfahren traut. Seine Frau war schon nach Hause gegangen, also hat noch ein anderer alter Knabe, der Hausmeister oder so, den Trauzeugen gemacht. Hinterher haben Ciaire und ich uns köstlich darüber amüsiert, dass die beiden vermutlich schon senil waren und die Hochzeit deshalb ungültig.«

Er legte die Hände auf den Küchentresen und starrte mit leerem Blick durch den Raum. »Als wir hier zusammengewohnt haben, hatten wir alles Mögliche - Entsafter, Mixer, Kaffeemaschine und was sonst nicht alles. Sobald es irgendwas Neues gab, wollte Ciaire es haben … Ich frage mich, was sie wohl damit gemacht hat, sieht so aus, als hätte sie alles loswerden wollen.«

»Irgendeine Vorstellung, wie sie dazu kam?«, sagte ich.

»Nein«, erwiderte er. »Wie gesagt, wir hatten keinen Kontakt miteinander. Um genau zu sein, selbst damals, als wir noch zusammen waren, wusste ich eigentlich nichts von ihr. Außer dass sie ganz versessen auf Kino war - sie konnte sich jeden Abend einen Film anschauen. Manchmal hatte ich den Eindruck, als ob es überhaupt keine Rolle spielte, was für ein Film lief, sondern dass es ihr nur drauf ankam, im Kino zu sitzen. Aber ansonsten hatte ich keine Ahnung, wie sie eigentlich wirklich war.«

»Wo haben Sie sich kennen gelernt?«

»Das ist noch so eine romantische Geschichte: In einer Hotelbar. Im Marriott am Flughafen, um genau zu sein. Ich war dort und wartete auf einen Klienten aus Fernost, der aber nie aufgetaucht ist, und Ciaire nahm an einer Tagung für Psychologen teil. Ich sitze also an der Bar, ziemlich mies gelaunt, weil dieser Kerl immer wieder diese Nummer bei mir abzieht und ich deswegen einen halben Tag vergeudet habe, und plötzlich kommt Ciaire hereingeschneit, sieht klasse aus und setzt sich ein paar Hocker weiter an die Bar.«

Er deutete auf das Foto. »Sie sah damals wirklich toll aus, das sehen Sie ja selbst. Obwohl ich normalerweise auf ganz andere Frauen stand, aber vielleicht war es ja gerade das.«

»Ganz anders in welcher Hinsicht?«, fragte ich.

»Die Frauen, mit denen ich Beziehungen hatte, waren Sekretärinnen aus Anwaltsbüros, Anwältinnen, ein paar Models und Möchtegern-Schauspielerinnen - also Mädels, die Wert legten auf Mode, Make-up und, na ja, gutes Aussehen im Sinne von körperlicher Schönheit. Ciaire sah haargenau aus wie das, was sie war - eine Wissenschaftlerin. Prima Figur, aber ohne sich dafür abzurackern. An dem besagten Nachmittag trug sie eine Nickelbrille und eines von diesen langen bedruckten Kleidern. Ihre ganze Garderobe bestand nur aus solchen Kleidern, dazu noch ein paar Jeans und T-Shirts. Kein Make-up. Keine hochhackigen Schuhe, sondern offene Sandalen. Ich kann mich noch erinnern, dass ich auf ihre Füße geschaut habe. Sie hatte richtig hübsche Füße, ganz weiße Zehen, wirklich umwerfend. Sie sah, dass ich sie anstarrte, und fing an zu lachen. Es war eher ein tiefes Kichern, das ich zu meiner eigenen Überraschung ziemlich sexy fand, und dann habe ich mir das Mädchen hinter der Brille genauer betrachtet und festgestellt, dass sie wirklich klasse aussah. Sie bestellte sich ein Ginger Ale. Ich hatte schon ein paar Bloody Marys getrunken und machte eine Bemerkung, sie würde wohl richtig einen draufmachen. Sie lachte wieder, ich rückte ein bisschen näher an sie heran, und der Rest ist Geschichte. Zwei Monate später haben wir geheiratet, und anfangs dachte ich manchmal, ich sei gestorben und im Himmel gelandet.«

Er hatte den milchigen Teint, der für die meisten Rothaarigen typisch ist, doch nun war sein Gesicht rosa angelaufen.

»Und das ist die bittere Wahrheit in ihrer ganzen Pracht«, sagte er. »Ich weiß selbst nicht, warum ich hierher gekommen bin, aber wenn es sonst nichts gibt, das ich -«

»Gestorben und im Himmel gelandet?«, sagte Milo.

Der rosa Farbton wurde eine Idee tiefer. »In physischer Hinsicht«, sagte Stargill. »Ich will das Ganze nicht ins Vulgäre ziehen, aber vielleicht hilft Ihnen das ja weiter. Was Ciaire und mich aneinander angezogen hat, war im Gunde genommen nur eines: Sex. An diesem besagten ersten Tag haben wir uns schließlich ein Zimmer im Marriott genommen und sind bis Mitternacht geblieben. Sie war - sagen wir mal, ich bin noch nie jemandem wie ihr begegnet. Die Chemie war einfach unglaublich. Mit einem Mal kamen mir all diese anderen Mädels vor wie Schaufensterpuppen. Ich will nicht respektlos erscheinen, deswegen lassen wir es lieber dabei bewenden.«

Ich sagte: »Aber die Chemie war nicht von langer Dauer.«

Er knöpfte sein Jackett wieder auf und steckte eine Hand in die Tasche. »Vielleicht ging alles viel zu schnell. Vielleicht ist jedes Feuer irgendwann mal ausgebrannt. Ich weiß es auch nicht. Ich bin sicher, dass es zumindest teilweise auch meine Schuld war. Vielleicht sogar größtenteils. Sie war nicht meine erste Frau. Während ich noch am College war, hatte es mich schon mal erwischt - die Ehe hat nicht mal ein Jahr gehalten. Anscheinend war die Ehe und alles, was dazugehört, nicht unbedingt mein Ding. Nachdem wir dann zusammengezogen sind, war es mit einem Mal, als ob … Sand ins Getriebe geraten wäre. Nicht, dass wir uns gestritten hätten … das Feuer war einfach weg. Wir waren beide mit unserer Arbeit beschäftigt und haben kaum Zeit miteinander verbracht.«

Die Barthaare unterhalb seiner Lippe zitterten ein wenig. »Es gab keine Streitigkeiten, es schien einfach so, als hätte sie das Interesse verloren. Ich glaube, sie war es, die zuerst das Interesse verloren hat, aber nach einer Weile hat es mich auch nicht weiter gestört. Ich hatte das Gefühl, als würde ich mit einer Fremden zusammenleben. Und vielleicht war es ja auch wirklich so.«

Er steckte auch die andere Hand in die Tasche und bewegte sich ein wenig vor. »Und da stehe ich jetzt, mit einundvierzig, und probiere es zum dritten Mal. Die Flitterwochen waren ganz prima, und es läuft immer noch wunderbar, aber wer weiß?«

Mir fiel auf, dass er immer wieder versuchte, das Gespräch auf sich selbst zu lenken. Egomanische Veranlagung oder bewusstes Ablenkungsmanöver?

Ich sagte: »Ciaire ist also ganz in ihrer Arbeit aufgegangen. Hat sich daran jemals etwas geändert?«

»Nicht dass ich wüsste. Aber es wäre mir vermutlich sowieso nicht aufgefallen. Wir haben nie über unsere Arbeit gesprochen. Wir haben nie über irgendwas gesprochen. Was nicht sonderlich schwer ist, wenn man siebzig Stunden pro Woche arbeitet. Wenn ich nach Hause kam, hat sie schon geschlafen, und am nächsten Morgen war sie schon aufgestanden und in der Klinik, wenn ich gerade unter die Dusche gegangen bin. Der einzige Grund, warum unsere Ehe überhaupt zwei Jahre gehalten hat, war die Tatsache, dass wir beide zu beschäftigt waren - oder zu faul -, um die Scheidungspapiere auszufüllen.«

»Und wer hat es dann getan?«, sagte ich.

»Ciaire. Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als sie es mir eröffnet hat. Ich kam spät nach Hause, aber dieses Mal war sie noch auf. Sie saß im Bett mit einem Kreuzworträtsel, zog einen Stapel Formulare unter der Zeitung hervor und sagte: >Ich dachte, es wäre so langsam Zeit, Joe. Wie denkst du darüber?< Ich weiß noch, dass ich mich erleichtert fühlte. Sicher, es hat auch wehgetan. Weil sie nicht mal den Versuch machte, unsere Ehe zu retten. Und außerdem, weil es für mich schon das zweite Mal war und ich mich fragte, ob ich, was Beziehungen anging, vielleicht doch ein Versager war. Ich bin dann ausgezogen, aber sie hat noch sechs Monate gebraucht, bis sie die Scheidung wirklich eingereicht hat.«

»Irgendeine Ahnung, warum?«, fragte Milo.

»Sie sagte, sie wäre nicht dazu gekommen.«

»Wie haben Sie sich finanziell geeinigt?«, fragte Milo.

»In aller Freundschaft«, sagte Stargill. »Es gab nicht die geringsten Auseinandersetzungen darüber. Wir haben alles mit einem einzigen Telefongespräch geklärt. Ich hatte großen Respekt vor Ciaire, weil sie sich so fair verhalten hat. Sie wollte auf keinen Fall einen Anwalt einschalten und hat von Anfang an klar gemacht, dass sie kein Interesse daran hatte, mich auszunehmen. Und das, obwohl für mich einiges auf dem Spiel stand. Ich hatte diverse Vermögenswerte - Investitionen, einen Pensionsplan und darüber hinaus noch ein paar aussichtsreiche Immobiliengeschäfte. Sie hätte mir das ganze Leben vermiesen könne, doch alles, was sie wollte, war, dass ich ihr das Haus überschrieb, den Kredit weiterhin tilgte und die Grundsteuer bezahlte. Den Rest konnte ich behalten. Ich ließ ihr die Möbel und nahm nichts weiter mit als meine Kleider, meine juristischen Fachbücher und meine Stereoanlage.«

Er rieb sich das eine Auge, wandte sich ab und versuchte etwas zu sagen, doch er musste sich zuerst räuspern. »Der Papierkram machte keine große Mühe - wir hatten nie eine gemeinsame Steuererklärung eingereicht. Sie hatte nie ihren Namen geändert. Ich dachte damals, das hätte was mit Feminismus zu tun, aber heute frage ich mich, ob es daran lag, dass sie nie vorhatte, mit mir zusammenzubleiben.«

»Hat Sie das gestört?«, sagte Milo.

»Warum hätte es sollen? Während der ganzen Zeit hatte ich gar nicht das Gefühl, richtig verheiratet zu sein. Es war eher wie ein One-Night-Stand, der sich in die Länge zog. Ich will nicht sagen, dass ich Ciaire als Mensch nicht respektiert hätte. Sie war eine fantastische Frau. Vernünftig, liebevoll. Das war es auch, was mich so getroffen hat: Ich mochte sie - als Mensch. Und ich weiß, dass sie mich auch mochte. Meine erste Frau war zwanzig, als sie mich verließ; wir waren damals elf Monate zusammen, und sie hatte versucht, mich für den Rest meines Lebens zu ihrem Sklaven zu machen. Ciaire war so verdammt anständig. Ich hätte nicht das Geringste dagegen gehabt, weiterhin ihr Freund zu sein. Aber es hat einfach nicht funktioniert … ich kann nicht verstehen, wie irgendwer darauf kommen konnte, ihr so etwas anzutun.«

Er rieb sich die Augen.

»Wann sind Sie nach San Diego umgezogen?«, fragte Milo.

»Gleich nach der Scheidung. Ich hatte ein Jobangebot, und L.A. hing mir so zum Hals heraus, dass ich es gar nicht erwarten konnte, hier wegzukommen.«

»Die Nase voll vom Smog?«, sagte Milo.

»Vom Smog, vom Verkehr und von der Kriminalität. Ich Volke in der Nähe vom Strand wohnen und habe ein kleines Haus bei Del Mar gemietet. Im ersten Jahr haben Ciaire und ich uns noch gegenseitig Weihnachtskarten geschickt, danach hörte das dann aber auch auf.«

»Hatte Ciaire, soweit Ihnen bekannt war, irgendwelche Feinde?«, fragte Milo.

»Nie im Leben. Ich habe nie gesehen, dass sie irgendjemanden beleidigt hätte - vielleicht ist einer von den Irren im County auf dumme Gedanken gekommen und hat ihr aufgelauert oder so. Ich sehe sie noch vor mir, diese Säufer mit ihren fiesen Blicken, ihren stinkenden voll gekackten Hosen und die Pfützen, die sie bei jedem Schritt hinterlassen haben. Ich konnte einfach nicht verstehen, weshalb Ciaire ausgerechnet mit denen arbeiten wollte. Aber sie hatte dazu eine ganz geschäftsmäßige Einstellung - sie ließ sie ein paar Tests machen, betrieb Forschungsarbeit. Nichts war so eklig, dass sie davor kapituliert hätte. Ich bin kein Experte, aber ich würde mich aufs County konzentrieren.«

Er faltete sein Taschentuch, und Milo und ich nutzten den kurzen Moment, um Blicke auszutauschen. Stargill wusste gar nichts von ihrem Job in Starkweather. Oder er wollte, dass wir das dachten.

Milo schüttelte den Kopf. Bring das jetzt nicht zur Sprache.

Er sagte: »Wie viel muss an dem Haus noch abbezahlt werden, Mr. Stargill?« Ein rascher Themenwechsel. Mit so etwas bringt man Leute aus dem Gleichgewicht. Stargill machte sogar einen Schritt rückwärts.

»Ungefähr fünfzigtausend. Im Augenblick sind die Raten eher Routine, ich hatte schon überlegt, es auf einen Schlag abzuzahlen.«

»Wieso das?«

»Die Abschreibungen von der Steuer sind kaum der Rede wert.«

»Wer bekommt das Anwesen im Falle von Mrs. Argents Tod?«

Stargill musterte Milo. Er knöpfte sich die Jacke zu. »Ich habe keine Ahnung.«

»Also hatten Sie und Ihre Frau keine Vereinbarung darüber - beispielsweise, dass es im Falle ihres Todes wieder an Sie zurückfällt?«

»Absolut nicht.«

»Und bis jetzt ist kein Testament aufgetaucht - haben Sie eines gemacht, Sir?«

»Ja. Wieso, spielt das eine Rolle, Detective Sturgis?«

»Reine Routine.«

Stargills Nüstern blähten sich auf. »Ich bin verdächtig, weil ich der Ex-Mann bin? Ach kommen Sie.« Er lachte. »Mit welchem Motiv denn?« Erneut lachend steckte er die Hände in die Hosentaschen und wippte auf seinen Absätzen - ganz wie im Gerichtssaal. »Selbst wenn ich das Haus bekäme, wäre es doch allenfalls dreihunderttausend wert. Unter den Geschäften, die ich am Laufen hatte, als ich nach San Diego gezogen bin, waren unter anderem Investitionen in Grundstücke am Meer. Mittlerweile habe ich sechs, sieben Millionen, da wäre es doch haarsträubend, Ciaire wegen dreihunderttausend vor Steuern umzubringen.«

Er ging zu dem leeren Küchentresen und rieb über die Formikafläche. »Ciaire und ich waren niemals miteinander verfeindet. Eine bessere Ex-Frau hätte ich gar nicht kriegen können, warum zum Teufel sollte ich ihr etwas antun?«

»Sir«, sagte Milo. »Ich muss diese Fragen stellen.«

»Klar. Sicher. Stellen Sie Ihre Fragen. Als ich das von Ciaire gehört habe, ist mir richtig schlecht geworden. Ich hatte das dämliche Bedürfnis, etwas Nützliches zu tun - behilflich zu sein. Ich hätte mir denken können, dass Sie in mir einen Verdächtigen sehen, aber es ist trotzdem …« Er zuckte mit den Achseln und wandte uns den Rücken zu. »Gibt’s noch was, worüber Sie mich ausfragen wollen?«

Ich sagte: »Was können Sie uns über Claires Familie, Freunde, Bekannte erzählen?«

»Nichts.«

»Sie wissen nichts über ihre Familie?«

»Ich bin ihrer Familie nie begegnet. Alles, was ich weiß, ist, dass sie in Pittsburgh geboren wurde, an der University of Pittsburgh ihr Diplom gemacht hat und an die Case Western gewechselt ist, um zu promovieren. Der einzige Grund, warum ich das weiß, ist der, dass ich ihre Diplome an der Wand in ihrem Büro gesehen habe. Sie hat sich geweigert, über ihre Vergangenheit zu sprechen.«

»Geweigert oder es vermieden?«

»Sie war ein Buch mit sieben Siegeln. Sie hatte angeblich weder Brüder noch Schwestern. Ihre Eltern hatten irgendein Geschäft. Und darüber hinaus weiß ich nicht das Geringste.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe mich endlos über meine Familie ausgelassen. Und sie hat zugehört. Oder zumindest so getan als ob. Aber sie hat sie nie getroffen. Das lag allerdings an mir. Ich wollte es nicht.«

»Wieso?«, sagte ich.

»Weil ich meine Familie nicht ausstehen kann. Meine Mutter war ganz in Ordnung - eine stille Trinkerin -, aber zu dem Zeitpunkt, als ich Ciaire begegnet bin, war sie schon tot. Mein Vater war ein mieses, brutales Schwein. Und für meinen Bruder gilt das Gleiche.«

Er lächelte gequält. »Kapieren Sie? Ich bin das erwachsene Kind von Alkoholikern und so weiter und so fort. Ich selbst hatte zwar nie ein Problem mit dem Trinken, aber ich passe auch auf mich auf. Nachdem meine Mutter sich umgebracht hatte, habe ich diverse Therapien mitgemacht. Als ich Ciaire damals sah mit ihrem Ginger Ale, dachte ich, dass sie vielleicht auch früher mit Alkoholproblemen zu kämpfen gehabt hatte und wir etwas gemeinsam hätten. Und so kam es dazu, dass ich ihr meine Geschichte in allen Farben erzählt habe.« Sein Lächeln wurde so breit, dass man seine Zähne sah. »Wie sich herausstellte, trank sie einfach nur gern Ginger Ale.«

»Sie hat ihre eigene Familie in zwei Jahren Ehe nicht ein einziges Mal erwähnt«, sagte ich. »Erstaunlich.«

»Wie gesagt, es war alles andere als eine typische Ehe. Jedes Mal, wenn ich versuchte, ihr persönliche Fragen zu stellen, wechselte sie das Thema.« Er rieb sich über den Kopf, und seine Mundwinkel zogen sich in die Höhe. »Und sie hatte eine interessante Methode, das Thema zu wechseln.«

»Nämlich welche?«

»Sie hat mich ins Bett gezerrt.«