11
William Swig sagte: »Sie glauben, das hat etwas zu bedeuten?«
Es war kurz nach vier Uhr nachmittags, und wir saßen wieder in seinem Büro. Milos ziviler Einsatzwagen hatte kaum noch Benzin im Tank, deshalb hatten wir ihn beim Park stehen gelassen und waren mit meinem Wagen nach Starkweather gefahren.
Auf der Fahrt hatte Milo zwei Anrufe von seinem Handy gemacht. Bei dem Versuch, den Sheriff von Treadway, Kalifornien, zu erreichen, landete er nach diversen Rufumleitungen schließlich bei einer privaten Sicherheitsfirma namens Bunker Protection. Das Gespräch dauerte nur kurz, und als es zu Ende war, saß Milo kopfschüttelnd da.
»Weg«, sagte er.
»Der Sheriff?«
»Das ganze verdammte Kaff. Alles, was davon übrig ist, ist eine Rentnersiedlung namens Fairway Ranch. Die Polizeiaufgaben werden von Bunker erledigt. Der Kerl, den ich gerade dran hatte, war so was wie’n schnöseliger Robocop: »Sämtliche Anfragen dieser Art sind an die Zentrale in Chicago zu richten.<«
Swig hingegen erreichte er ohne weitere Probleme, doch als wir am Haupttor der Anstalt ankamen, war der Wachmann über unser Eintreffen nicht informiert. Also riefen wir noch mal in Swigs Büro an und wurden endlich eingelassen, nachdem wir gewartet hatten, bis Frank Dollard aufkreuzte, um uns über den Hof zu geleiten. Seine Begrüßung war dieses Mal wesentlich weniger herzlich als beim letzten Mal. Obwohl es bereits gegen Abend war, war es noch immer brütend heiß. Der Hof war verlassen bis auf drei Männer, darunter Chet, der mit seinen Pranken wild in der Luft herumfuchtelte, während er dem Himmel über ihm seine Geschichten zum Besten gab.
Als wir am Tor am Ende des Hofes ankamen, trat Dollard zur Seite und ließ uns allein in das graue Gebäude eintreten. Swig wartete gleich hinter der Tür auf uns und führte uns eilig in sein Büro.
Nun saß er hinter seinem Schreibtisch, kippelte auf dem Stuhl und hielt die Hände gefaltet. »Ein Deckel, Augen - das ist doch nur unzusammenhängendes Gebrabbel eines Psychotikers. Warum sollten Sie so was ernst nehmen, Doktor?«
»Selbst Psychotiker haben unter Umständen etwas mitzuteilen, Sir.«
»Unter Umständen? Diese Umstände sind mir aber noch nicht begegnet.«
»Sir, ich sage auch nicht, dass es die ganz heiße Spur ist«, sagte Milo, »aber zumindest muss man sie weiterverfolgen.«
Die Gegensprechanlage auf Swigs Schreibtisch summte. Er drückte einen Knopf, worauf die Stimme seiner Sekretärin ertönte. »Bill? Senator Tuck.«
»Sagen Sie ihm, ich rufe zurück.« Und zu uns: »Also … Und all das haben Sie von Heidi Ott?«
»Gibt es Probleme mit ihrer Glaubwürdigkeit?«, sagte Milo.
Wieder ein Summen. Swig klatschte gereizt auf den Sprechknopf. Die Sekretärin sagte: »Bill? Der Senator sagt, Sie brauchen ihn nicht zurückzurufen, er wollte Sie nur daran erinnern, dass am Sonntag die Geburtstagsparty Ihrer Tante ist.«
»Prima. Stellen Sie jetzt bitte keine Anrufe mehr durch.« Er rollte ein Stück rückwärts, schlug die Beine übereinander und bot uns einen Ausblick auf seine Knöchel. Unter den blauen Anzughosen trug er weiße Tennissocken und braune Halbschuhe mit Gummisohlen. »State Senator Tuck ist verheiratet mit der Schwester meiner Mutter.«
»Das ist bestimmt nützlich bei der Mittelvergabe«, sagte Milo.
»Im Gegenteil. Senator Tuck ist von diesem Laden hier alles andere als begeistert. Er ist der Ansicht, unsere Patienten sollte man einfach nach draußen karren und abschießen. Und besonders in Wahljahren verhärten sich diese Ansichten noch.«
»Da kommt dann bei Familienfesten richtig Freude auf.«
»Worauf Sie Gift nehmen können«, sagte Swig säuerlich. »Wo war ich … ach ja, Heidi. Was Sie bei ihr immer bedenken müssen, ist die Tatsache, dass sie noch nicht lange dabei ist, und jeder Neuling ist nun mal leicht zu beeindrucken. Vielleicht hat sie was gehört, vielleicht aber auch nicht, jedenfalls glaube ich nicht, dass dem allzu viel Bedeutung zukommt.«
»Selbst wenn es sich um Ardis Peake handelt?«
»Ob er oder jemand anders, spielt keine Rolle. Was zählt, ist, dass er hier drin ist. Hinter Schloss und Riegel.« Swig wandte sich an mich: »Er ist zurückgezogen, sein Sozialverhalten so gut wie nicht existent, leidet unter extremer Dyskinesie inklusive einer Wagenladung negativer Symptome und geht kaum aus seinem Zimmer. Seit er bei uns ist, hat er noch nie auch nur das geringste Zeichen von gefährlichem Verhalten an den Tag gelegt.«
»Bekommt er Post?«, sagte Milo.
»Ich neige dazu, das zu bezweifeln.«
»Könnte aber doch sein.«
»Ich neige dazu, das zu bezweifeln«, wiederholte Swig. »Ich bin sicher, dass unmittelbar nach seiner Einlieferung der übliche Müll eingegangen ist - Heiratsanträge von durchgeknallten Weibern und so weiter. Aber mittlerweile ist er ja schon Schnee von vorvorgestern. Ein obskurer Fall, weiter nichts, und so soll es ja auch sein. Eines kann ich Ihnen aber mit Sicherheit sagen: In den vier Jahren, die ich jetzt hier bin, hat er nicht ein einziges Mal Besuch bekommen. Und was die Frage betrifft, ob er etwas mitgehört haben könnte, so ist klar, dass er keinerlei Freunde unter den anderen Patienten hat, von denen ich oder sonst jemand aus dem Personal wüsste. Und wenn doch? Dann säße derjenige, von dem er etwas aufgeschnappt hat, ebenfalls sicher hinter Schloss und Riegel.«
»Außer wenn in letzter Zeit jemand entlassen worden wäre.«
»Es ist niemand entlassen worden, seit Ciaire Argent bei uns angefangen hat. Das habe ich überprüfen lassen.«
»Sehr aufmerksam von Ihnen.«
»Keine Ursache«, sagte Swig. »Wir haben beide das gleiche Ziel, nämlich für die Sicherheit der Bürger da draußen zu sorgen. Glauben Sie mir, Peake stellt keine Bedrohung für irgend-jemanden dar.«
»Ich bin sicher, Sie haben Recht«, sagte Milo. »Aber falls er doch Post bekäme oder jemandem Briefe schreiben würde, würde das niemand vom Personal überprüfen. Das Gleiche gilt für Anrufe -«
»Niemand würde es offiziell überprüfen, außer wenn Peake verhaltensauffällig geworden wäre, aber -« Swig hielt den Zeigefinger in die Höhe und wählte eine vierstellige Nummer auf seinem Telefon. »Arturo? Mr. Swig. Wissen Sie, ob in jüngster Zeit irgendwelche Post - Briefe, Päckchen, Postkarten - für Patient drei-acht-vier-vier-drei eingegangen ist? Peake, Ardis. Selbst wenn es nur Müll war … Sind Sie sicher? Überhaupt nichts, soweit Sie sich erinnern können? Halten Sie die Augen offen, okay, Arturo? Nein, nein, dazu besteht kein Anlass, sagen Sie mir nur Bescheid, falls doch irgendwas auftauchen sollte. Danke.«
Er legte den Hörer auf. »Arturo ist seit drei Jahren hier. Peake bekommt keine Post. Was Telefonanrufe betrifft, so kann ich Ihnen das zwar nicht beweisen, aber da gibt es garantiert auch nichts, glauben Sie mir. Der Kerl verlässt so gut wie nie sein Zimmer. Er redet kein Wort.«
»Ziemlich starke Funktionsstörungen.«
»Das ist noch untertrieben.«
»Haben Sie eine Idee, warum Dr. Argent sich ausgerechnet Peake ausgesucht hat?«
»Dr. Argent hat mit einer Reihe von Patienten gearbeitet. Ich glaube nicht, dass sie Peake ihre besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat.« Wieder schoss sein Zeigefinger in die Höhe. Er sprang auf und eilte unter Türenknallen aus seinem Büro.
Milo sagte: »Ganz schön hilfsbereit der Bursche, auch wenn es ihn fast zerreißt.«
»Wie Heidi gesagt hat - er glaubt, Publicity ist der Kuss des Todes.«
»Ich hatte mich schon gefragt, wie so ein junger Kerl an einen Job wie den hier kommt. Der Onkel Senator mag vielleicht alles andere als begeistert sein von dem Laden hier, aber wie viel willst du wetten, dass er nicht doch seine Finger im Spiel hatte, als es darum ging, seinen Neffen auf den Chefsessel zu hieven?«
Die Tür schwang auf, und Swig kam hereingerauscht, einen braunen Schnellhefter unter dem Arm. Er überging Milo und reichte ihn gleich an mich weiter.
Peakes Krankenakte. Dünner, als ich gedacht hätte. Zwölf Seiten, das meiste davon protokollarische Aufstellungen der ihm verabreichten Medikamente, abgezeichnet von diversen Psychiatern. Außerdem mehrere Anmerkungen über den Stand der tardiven Dyskinesie: »T. D. unverändert.«
»T. D. verstärkt sich. Verstärkte Zungenaktivität.«
»T. D. Gang unstet.« Unmittelbar nach seiner Einlieferung in Starkweather war Peake auf Thorazin gesetzt worden, und seitdem war ihm diese Droge fünfzehn Jahre lang verabreicht worden. Außerdem hatte er diverse Medikamente zur Eindämmung der Nebenwirkungen erhalten: Lithiumkarbonat, Tryptophan, Narcan. »Keine Veränderung.«
»Keine Verhaltensänd.« Bis auf Thorazin waren sämtliche Medikamente wieder abgesetzt worden.
Die letzten beiden Seiten umfassten nahezu identische wöchentliche Einträge über einen Zeitraum von vier Monaten. Sie waren alle in derselben fein säuberlichen kleinen Handschrift abgefasst:
»Einzelsitzg. z. Überpr. und Einschätzg. Spr. + soz. Verhalten. Assist. H. Ott, Dr. C. Argent.« Ich reichte Milo die Akte.
»Wie Sie sehen können, hat Dr. Argent sein Sprachverhalten nur überprüft und ihn nicht behandelt«, sagte Swig. »Vermutlich hat sie seine Ansprache auf die Medikation gemessen oder etwas in dieser Richtung.«
»Wie viele andere Patienten hatte sie unter Beobachtung?«, sagte Milo.
Swig sagte: »Die genaue Zahl kenne ich auch nicht noch kann ich Ihnen Namen nennen ohne eingehende Einsicht ihrer Akten.« Er streckte die Hand nach dem Schnellhefter aus. Milo blätterte schnell ein paar Seiten durch und reichte ihn ihm.
Milo sagte: »Hat sich Dr. Argent besonders schwierige Patienten ausgesucht?«
Swig rollte vorwärts, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und stieß ein kurzes Lachen aus, das klang wie eine Lokomotive beim Dampfablassen. »Besonders schwierig im Gegensatz zu was? Hier gibt’s keine Typen mit leichten Neurosen.«
»Also ist Peake auch nur einer von vielen.«
»Niemand in Starkweather ist einer von vielen. Die Männer hier sind allesamt gefährlich. Und wir behandeln sie als Individuen.«
»Okay«, sagte Milo. »Danke für Ihre Zeit. Kann ich jetzt Peake sehen?«
Swig errötete. »Wozu? Wir waren uns doch einig, dass er kaum ansprechbar ist.«
»An diesem Punkt der Untersuchung muss ich nehmen, was ich kriegen kann«, sagte Milo lächelnd.
Wieder das Lokomotivengeräusch. »Hören Sie, ich weiß Ihr Engagement durchaus zu würdigen, aber ich kann Sie nicht jedes Mal hier reinspazieren lassen, sobald eine neue Theorie am Horizont auftaucht. Damit bringen wir den Betrieb durcheinander, und wie ich Ihnen gestern schon erklärt habe, ist es offensichtlich, dass der Mord an Dr. Argent nichts mit Starkweather zu tun hat.«
»Den Betrieb durcheinanderzubringen ist das Letzte, was ich will, Sir, aber wenn ich die vorliegenden Tatsachen ignoriere, mache ich mich der Pflichtverletzung schuldig.«
Swig schüttelte den Kopf, zupfte an einer seiner Warzen und versuchte den Flaum auf seinem kahlen Schädel glattzustreichen.
»Wir werden nicht lange brauchen, Mr. Swig.«
Swig grub einen Fingernagel in seine Kopfhaut. Ein halbmondförmiger Wulst wölbte sich auf der glänzend weißen Haut. »Wenn ich glauben könnte, dass damit alles erledigt ist, würde ich sagen, klar, warum nicht. Aber ich habe das Gefühl, dass Sie die Lösung auf Teufel-komm-raus hier finden wollen.«
»Keineswegs, Sir, aber ich muss nun mal alles überprüfen.«
»Na gut«, sagte Swig, plötzlich zornerfüllt. Er wuchtete sich aus dem Stuhl, und nachdem er seine Krawatte zurechtgezupft hatte, zog er einen chromblitzenden Schlüsselbund hervor.
»Also los«, sagte er und klapperte mit dem Schlüsselbund. »Werfen wir einen Blick auf Mr. Peake.«
Während wir im Fahrstuhl standen und nach oben fuhren, sagte Milo: »Ich hoffe, ich habe Heidi Ott nicht in die Bredouille gebracht, Sir?«
»Warum denn das?«
»Weil sie mir von Peake erzählt hat.«
Swig sagte: »Sie meinen, ob ich nachtragend bin. Herrgott noch mal, nein. Sie hat nur ihre Bürgerpflicht getan. Wie könnte ich als Vorgesetzter da etwas anderes als Stolz empfinden?«
»Sir -«
»Seien Sie unbesorgt, Detective Sturgis. Zu viele Sorgen legen sich auf die Seele.«
Auf der Station C angekommen, stiegen wir aus. Swig öffnete die Doppeltüren und wir gingen durch den Flur.
»Zimmer fünfzehn R&F«, sagte er. Auf den Fluren herrschte noch immer reger Betrieb. Einige der Insassen wichen aus, als wir näher kamen. Ohne sie zu beachten, ging Swig an ihnen vorbei. Auf halber Höhe des Korridors blieb er stehen und betrachtete den Schlüsselbund. Er trug ein kurzärmeliges Hemd, und zum ersten Mal fiel mir auf, wie muskulös und sehnig seine Unterarme waren. Sie hätten eher zu einem Arbeiter gepasst als zu einem Bürokraten.
Die Tür war mit doppelten Schlössern verriegelt. Für das Guckloch brauchte man ebenfalls einen Schlüssel.
Milo sagte: »Fünfzehn R&F. Ruhigstellung und Fixierung?«
»Nicht, weil es in seinem Fall nötig wäre«, sagte Swig und sortierte immer noch die Schlüssel an seinem Bund. »Die R&F-Zimmer sind kleiner, deswegen benutzen wir manchmal die, wenn ein Patient einzeln untergebracht ist. Und er ist einzeln untergebracht, weil seine Hygiene manchmal sehr zu wünschen übrig lässt.« Swig arbeitete sich durch die Schlüssel an seinem Bund. Schließlich fand er, was er suchte, und entriegelte beide Schlösser. Es gab ein kurzes Klicken, dann hielt er die Tür fünfzehn Zentimeter weit auf und warf einen Blick nach drinnen.
Er gab der Tür einen leichten Stoß und sagte: »Ihr Zeuge, meine Herren.«
Zwei mal zwei Meter. Jedoch im Gegensatz zu den Fluren eine ziemlich hohe Decke - drei Meter oder so.
Eigentlich mehr eine Röhre als ein Zimmer.
Schummrig war es hier drin. Die einzige Lichtquelle war ein winziges Plastikfenster, lang, schmal und rechteckig wie der Raum selbst. Die beiden runden, in die Decke eingelassenen und mit dicken Plastikabdeckungen versehenen Glühbirnen waren ausgeschaltet. Im Zimmer selbst gab es keinen Schalter, sondern nur auf dem Flur. Eine deckellose Kloschüssel aus Plastik nahm die eine Ecke des Raumes ein. Vorgeschnittene Streifen von Toilettenpapier lagen auf dem Boden verstreut herum.
Kein Nachttisch, nichts, was man als Möbel hätte bezeichnen können, nur zwei Plastikschübe, die in die schaumstoffgepolsterten Wände eingearbeitet waren. Aus einem Stück gegossen. Keine Griffe oder Schrauben.
Von irgendwo in der Decke drang Musik. Süßliche Streicher und gastritische Bläser - irgendein lange vergessener Hit aus den Vierzigern, gespielt von einer Band, der alles egal war.
Auf einer dünnen Matratze, die an einem Podest aus Plastik festgemacht war, saß … etwas.
Etwas mit nacktem Oberkörper.
Die unbehaarte Haut weiß sie Molke, wenn man von den blauen Venen absah. Die Rippen zeichneten sich mit einer solchen Deutlichkeit ab, dass sie an einen Truthahn nach dem Festschmaus erinnerten.
Der untere Teil seines Körpers steckte in Khakihosen, die seine spindeldürren Beine lose umhüllten, während sie an den Knien spannten, die so knochig waren, dass sie wirkten wie die Griffe geschnitzter Spazierstöcke. Seine Füße waren nackt, aber schmutzig. Die Zehennägel ungepflegte braune Hornplatten. Sein Kopf war glatt rasiert, und während die Wangen und das Kinn mit schwarzen Stoppeln übersät waren, verrieten die wenigen Stoppeln auf seinem Schädel, dass er mittlerweile größtenteils kahl war.
Sein Kopf hatte eine merkwürdige Form: Oben sehr breit, die Schädeldecke abgeflacht und mit Furchen durchsetzt. Unterhalb seiner wulstigen Brauen taten sich zwei kraterartige Höhlen auf, in denen sich die Augen regelrecht verloren. Die Lider grau, die Wangen tief eingefallen. Unterhalb des Jochbeins lief das gesamte Gesicht spitz zusammen.
Ein Fäulnisgeruch erfüllte den Raum. Essigsaurer Schweiß, Flatulenzen, verbranntes Gummi. Es roch nach Tod.
Währendddessen lief weiter Musik. Ein hübscher, beschwingter Walzer.
»Ardis?«, sagte Swig.
Peakes Kopf blieb gesenkt. Ich beugte mich tief hinunter und konnte so auch den Rest seines Gesichts sehen. Der Mund winzig klein, die Lippen so zusammengekniffen, dass sie kaum zu sehen waren. Plötzlich tauchte dazwischen etwas auf: eine dunkle, feuchte Zungenspitze, braunrot wie rohe Leber. Die Zunge zog sich zurück. Tauchte wieder auf. Peakes Wangen wölbten sich, erschlafften und wölbten sich wieder. Er rollte den Kopf nach links. Die Augen geschlossen, den Mund geöffnet. Etliche Zähne fehlten.
Swig trat näher an ihn heran, bis er weniger als einen Meter vom Bett entfernt war.
Abrupt ließ Peake den Kopf sinken und starrte wieder auf den Boden. Seine Nase war kurz und überaus schmal - kaum mehr als ein Knorpelkeil - und nach links gebogen. Seine Ohren waren überdimensioniert wie bei einer Fledermaus, obwohl ihnen die Ohrläppchen fehlten. Schmale, von Venen überzogene Hände mit tentakelartigen Fingern, die seine Knie umklammert hielten.
Ein lebendes Skelett. Irgendwo hatte ich so ein Gesicht doch schon mal gesehen …
Peakes Zunge schoss erneut hervor. Er fing an, sich hin und her zu wiegen. Bewegte seinen Kopf von einer Seite zur anderen. Ließ ihn kreisen, wobei er unwillkürlich mit den Augenlidern zuckte. Und wieder und wieder schoss seine Zunge hervor.
Der Mund war nun ganz flach, nahezu zweidimensional. Feuchtglänzend vor Speichel materialisierten sich schließlich die Lippen - ein portweinroter Schlitz in der Mitte eines Dreiecks, der grell aus dem teigigen Gesicht hervorsprang.
Der Schlitz weitete sich, und die Zunge glitt ganz heraus - dick, lila und gesprenkelt wie eine Höhlenschnecke.
Sie hing in der Luft, rollte sich zusammen, glitt von links nach rechts und flutschte wieder zurück.
Tauchte wieder auf. Und verschwand.
Wieder ließ er den Kopf kreisen.
Nun fiel mir ein, wo ich das Gesicht schon mal gesehen hatte. Auf einem Poster aus meinen Studententagen. Edward Münchs Der Schrei.
Ein kahler, dahinschmelzender Mann, der, gepeinigt von unfassbaren Seelenqualen, sein Gesicht umklammert hält. Peake hätte für das Gemälde glatt Modell gestanden haben können.
Ohne die Hände von seinen Knien zu nehmen, begann er mit dem Oberkörper zu kreisen, zitterte und zuckte ein paar Mal zusammen, sodass man fast den Eindruck hatte, er würde jeden Moment umkippen. Doch dann hörte er auf. Er richtete sich auf.
Schaute in unsere Richtung.
Als er die Ardullos abgeschlachtet hatte, war er neunzehn Jahre alt gewesen. Folglich war er jetzt fünfunddreißig. Er sah aus wie ein steinalter Greis.
»Ardis?«, sagte Swig.
Keine Reaktion. Peake starrte in unsere Richtung, doch er nahm uns nicht wahr. Er schloss die Augen. Ließ den Kopf kreisen. Weitere zwei Minuten tardives Ballett.
Swig verzog angewidert das Gesicht und machte eine wegwerfende Handbewegung, als wollte er sagen: »Sie wollten’s ja unbedingt so haben.«
Milo ließ sich davon nicht beeindrucken und trat näher an Peake heran. Dieser beschleunigte seine Schaukelbewegung, leckte sich die Lippen, ließ die Zunge hervorgleiten, rollte sie zusammen und zog sie wieder ein. An seinem linken Fuß fingen mehrere Zehen an zu zittern. Seine linke Hand flatterte.
»Ardis, ich bin’s, Mr. Swig. Ich hab dir Besuch mitgebracht.«
Nichts.
Swig sagte: »Bitte sehr, Detective.« Keine Reaktion auf »Detective«.
Ich beugte mich hinunter, bis ich mit Peake auf Augenhöhe war. Milo machte es mir nach. Peake hielt die Augen noch immer geschlossen. Die Lider wurden von kleinen Wellen gekräuselt - die Augäpfel bewegten sich hinter der grauen Hautschicht. Seine Brust war weiß und unbehaart. Und übersät mit Mitessern. Die Brustwarzen grau wie zwei kleine Aschenkegel. Es schien, als würde der Geruch nach Verbranntem stärker, je näher man Peake kam.
Milo sagte »Hey«, und seine Stimme klang überraschend sanft.
Leichtes Zucken der Schultern. Zungengymnastik. Peake ließ den Kopf kreisen, hob die rechte Hand, ließ sie eine Weile auf Brusthöhe verharren und wieder heruntersacken.
»Hey«, wiederholte Milo. »Ardis.« Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von Peakes entfernt.
»Ich heiße Milo. Ich möchte dir ein paar Fragen zu Dr. Argent stellen.«
Peakes Bewegungen gingen weiter. Automatisch. Ohne jede bewusste Steuerung.
»Ciaire Argent, Ardis. Deine Ärztin. Ich bin bei der Mordkommission, Ardis. Mord.«
Nicht einmal ein unwillkürliches Augenzwinkern.
Milo sagte: »Ardis!« Diesmal sehr laut.
Nichts. Es verstrich eine volle Minute, dann hoben sich die Augenlider. Zunächst nur zur Hälfte, bis schließlich die Augen ganz zu sehen waren.
Schwarze Schlitze. Stecknadelkopfgroße Lichtflecken in der Mitte, aber kein klar erkennbarer Rand zwischen der Iris und dem Weißen.
»Ciaire Argent«, wiederholte Milo. »Dr. Argent. Augen hin, Deckel zu.«
Die Augen klappten zu wie Fensterläden. Peake ließ seinen Kopf kreisen, seine Zunge reckte sich in die Luft. Einer seiner Zehen begann zu trommeln. Diesmal am rechten Fuß.
»Augen hin«, sagte Milo beinahe flüsternd, doch so gepresst, dass erkennbar war, wie viel Beherrschung es ihn kostete, nicht loszubrüllen.
»Augen hin, Deckel zu, Ardis.«
Zehn Sekunden, fünfzehn … eine halbe Minute.
»Kiste zu, Ardis. Eine Kiste. Dr. Argent in einer Kiste.«
Peakes neuropathisches Ballett ging unvermindert weiter.
»Augen hin«, sagte Milo sanft.
Ich schaute Peake in die Augen. Auf der Suche nach einem Fetzen seiner Seele.
Schwarz wie die Nacht; alle Lichter aus.
Mir fiel eine fiese Umschreibung für Geisteskranke ein: »Niemand zu Hause.«
Vor langer Zeit hatte dieser Mann wie im Rausch eine ganze Familie ausgelöscht. Eine Ein-Mann-Seuche.
Ihre Augen verstümmelt.
Und nun waren seine eigenen Augen die Bullaugen eines Schiffes auf der Fahrt ins Nichts.
Als ob jemand die Verbindungsdrähte zwischen Körper und Seele gekappt hätte.
Wieder schoss seine Zunge heraus. Sein Mund öffnete sich, doch er brachte keinen Laut hervor. Ich starrte ihn an. Versuchte, irgendeine Reaktion festzustellen. Er blickte durch mich hindurch - nein, das hätte zu viel Mühe gekostet.
Er war da, und ich war hier. Keinerlei Kontakt zwischen uns.
Keiner von uns war wirklich da.
Sein Mund klaffte auf, als würde er jeden Moment gähnen. Doch er tat es nicht. Es war nichts weiter als ein Loch, das weit offen stand, während er den Kopf in die Höhe reckte. Ich musste an ein neugeborenes Nagetier denken, das blind nach der Zitze der Mutter sucht.
Milo versuchte es erneut, diesmal noch leiser und noch eindringlicher. »Dr. Argent, Ardis. Augen futsch, Kiste zu.«
Die tardiven Bewegungen gingen weiter. Völlig unregelmäßig und ohne jeden Rhythmus. Swig tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.
Mit knackenden Knien erhob sich Milo. Ich stand ebenfalls auf, wobei mein Blick einen kurzen Moment auf die Kette an der Wand fiel.Zusammengerollt wie eine schlafende Python.
Der Geruch im Raum war noch schlimmer als zuvor.
Peake bekam nichts davon mit.
Keine Verhaltensänd.