21

Zwanzig Meilen nördlich von L.A. beginnt die große Leere.

Ich war kurz zu Hause vorbeigefahren, um bei einer Tasse Kaffee die Artikel, die ich in der Bibliothek fotokopiert hatte, noch einmal zu überfliegen. Dann machte ich mich wieder auf den Weg, diesmal in Richtung Norden.

Den Fuß auf dem Gaspedal durchgedrückt, rauschte ich an braunen Hügeln vorbei, die aussahen wie eine zerkrumpelte Decke, vorbei an Wäldchen aus Krüppeleichen und Kiefern, an kalifornischen Pfefferbäumen und weidenden Pferden. Die Hitze hatte immer noch nicht nachgelassen, doch der Himmel war bedeckt mit hübschen Wolken - lavendelgraue Tupfer, die seidig glänzten, als sei ein altes Hochzeitskleid über die Welt drapiert worden.

Den Zeitungsausschnitten hatte ich drei potenzielle Ansprechpartner entnommen: Teodora Alarcon, der Verwalter der Ranch, der die Leichen entdeckt hatte, Sheriff Jacob Haas und ein junger Kerl namens Derrick Crimmins, der als Einziger ohne den Schutz der Anonymität das seltsame Verhalten von Ardis Peake kommentiert hatte. Weder Crimmins noch Alarcon waren im Telefonbuch von Fairway Ranch aufgeführt, doch ein gewisser Jacob Haas schien dort zu wohnen. Ich rief ihn an, und eine herzlich klingende männliche Stimme erklärte mir, dass Jake und Marvelle derzeit nicht erreichbar waren, man ihnen jedoch gerne eine Nachricht hinterlassen konnte. Ich sagte, ich würde wegen einer Angelegenheit des LAPD nach Fairway Ranch kommen und wäre dankbar, wenn Sheriff Haas etwas Zeit für mich hätte.

Der Highway gabelte sich, und der Lastwagenverkehr wurde über eine separate Spur umgeleitet, wodurch auf den verbleibenden zwei, drei Spuren noch weniger Betrieb herrschte als zuvor. Überall standen Warnschilder, die auf Geschwindigkeitskontrollen hinwiesen, doch die endlose leere Fahrbahn vor mir war zu verführerisch, also rauschte ich in meinem Seville mit 85 Meilen an Saugus und Castaic vorbei, passierte die westlichen Ausläufer des Angeles Crest Waldschutzgebietes, den Tejon Pass und die Bezirksgrenze von Kern County.

Es war kurz nach elf, als ich an der Abfahrt Grapevine herunterfuhr, um zu tanken. Ich hatte zwar eine Straßenkarte dabei und wusste, wie ich nach Fairway Ranch kam, doch um ganz sicher zu gehen, ließ ich mir meine Vermutungen noch einmal von dem verschlafen wirkenden Tankwart bestätigen.

»Das ist doch nur was für alte Leute«, sagte er. Er war etwa neunzehn Jahre alt, sonnengebräunt und pickelgesichtig, hatte einen Kurzhaarschnitt und vier Ohrringe in seinem linken Ohrläppchen.

»Ich will meine Oma besuchen«, sagte ich.

Er musterte den Seville. »Ist ziemlich nett da draußen, größtenteils reiche Leute, die die meiste Zeit Golf spielen.« Vermutlich gehörte ihm der aufgemotzte Pickup mit den riesigen Reifen und dem Radiohead-Aufkleber an der Stoßstange, der neben den Mülltonnen geparkt stand und auf Hochglanz poliert war.

»Früher gab’s hier mal noch ‘ne andere Ortschaft«, sagte ich. Er reagierte nicht.

»Treadway«, sagte ich. »Mit Farmen, Ranches, Pfirsich- und Walnussplantagen.«

»Ach ja?« Es hätte ihm gar nicht gleichgültiger sein können. »Cooles Auto.«

Ich bedankte mich und fuhr über eine schmale Straße in Richtung Nordost weiter auf die Tehachapi Mountains zu. Die Landschaft war einfach atemberaubend - hoch gelegen und zerklüftet, Gipfel unterschiedlicher Höhe, die so perfekt arrangiert waren, wie es kein Maler je hinbekommen würde. Das vorgelagerte Hügelland war graubraun, die höheren Berglagen hatten exakt dasselbe Aschgrau wie die toten Gesichter der Beatty-Brüder. Einige der entfernter gelegenen Bergkämme schimmerten in einem dunstigen Lila. Winterliche Farben selbst um diese Jahreszeit, und das, obwohl die Hitze noch intensiver war als in L.A.

Die Straße führte nun steil bergauf. Ich befand mich mittlerweile in den Ausläufern einer Berglandschaft, die ich mir nicht so recht als Farmland vorstellen konnte. Zehn Meilen weiter stand ein Schild mit der Aufschrift FAIRWAY RANCH: EINE GEMEINDE VOM REISSBRETT. Es folgte eine Straße, die sich durch senkrechte Granitwände schnitt, dann ein weiteres Schild: STARKES GEFÄLLE - GESCHWINDIGKEIT DROSSELN. Doch es kam zu spät, und ich schoss die Fahrbahn hinunter wie auf einer Achterbahn.

Die Achterbahnfahrt war nach etwa zwei Meilen zu Ende. Am Fuß des Abhanges erstreckte sich ein Flickenteppich aus verschiedenen Grüntönen, in dessen Mitte ein aquamarinblauer See strahlend hell schimmerte wie ein Diamant. Die Form des Sees war eine Spur zu unregelmäßig - er musste künstlich angelegt sein. Zwei Golfplätze zogen sich, gesäumt von limonenfarbenen Bäumen mit struppigen Kronen, an beiden Seiten des Sees entlang. Wieder Pfefferbäume. Die Häuser mit cremefarbenem Lehmverputz und roten Schindeldächern waren, umgeben von trapezförmigen Grünflächen, in ovalen Gruppen arrangiert. Das gesamte Ensemble hatte eine Breite von etwa fünf Meilen und wurde von einer weißen Linie umgrenzt, die wirkte, als sei sie von einem Kind gezogen worden, das sich nicht getraut hatte, diese Linie zu überschreiten.

Als ich näher kam, sah ich, dass es sich bei der weißen Linie um ein hüfthohes Gatter handelte. Etwa hundert Meter weiter tauchte vor mir die exakte Kopie des Schildes der »Gemeinde vom Reißbrett« auf, diesmal mit einem kleineren Schild darunter, das besagte, dass das Gelände von der Firma Bunker Protection bewacht wurde.

Kein Tor, lediglich eine gerade, saubere Straße, die in die Anlage führte. Geschwindigkeitsbegrenzung von 15 Meilen pro Stunde und ein warnender Hinweis auf langsam fahrende Golfwägelchen. Ich hielt mich an die Geschwindigkeitsbegrenzung und kroch an sorgfältig gepflegten Langgraswiesen vorbei. Auch hier standen überall Pfefferbäume mit struppigen Kronen, die sich sanft im Wind wiegten und um deren Stämme herum farbenfrohe Blumenbeete angelegt waren.

Dreihundert Meter weiter wurde man durch etwa ein Dutzend Schilder an einem gedrungenen dunklen Baumstamm, der früher wahrscheinlich einmal ein Walnussbaum gewesen war, über die Anlage der Siedlung aufgeklärt.

Der Golfkurs Balmoral lag im Norden, White Oak im Süden, Reflection Lake genau geradeaus. Das Pinnacle Fitness- und Erholungscenter lag in nördlicher Richtung, wohingegen das Walnut Fitnesscenter im Süden zu finden war. Im Zentrum des Ganzen waren die Piccadilly-Arkaden.

Weitere Pfeile wiesen den Weg zu den einzelnen »Stadtteilen«, so vermutete ich zumindest: Chatham, Cotswold, Sussex, Essex, Yorkshire und Jersey.

Die Berge mochten etwa zwei oder drei Meilen entfernt sein, doch sie wirkten wesentlich näher. Sie leuchteten förmlich in strahlenden Farben, jedes Detail war klar und deutlich zu erkennen - ein Zeichen dafür, wie sauber die Luft hier war.

Jenseits des Baumes mit den Hinweisschildern stand ein quadratisches Gebäude mit abgerundeten Kanten und einer Rauputzfassade, die krampfhaft auf Lehm getrimmt war. Die Dachziegel waren ebenfalls rot und im spanischen Stil.

Ich ließ den Seville im Leerlauf und schaute mich um. Hektarweise Rasen und Pfefferbäume, ein paar Gruppen von Pfirsichbäumen mit eingerollten Blättern. Eine Hand voll dickerer Stämme, deren Rinde die gleiche Farbe und Struktur hatte wie der Stamm mit den Hinweisschildern. Weder Blüten noch Früchte. Tote Äste und gestutzte Kronen.

Ich stellte mir den Gestank von Dünger vor, das Rattern und Mahlen von Maschinen, Obstpflücker, die zwischen den ins gleißende Sonnenlicht getauchten Baumreihen herumwuselten, und ich dachte an Henry Ardullos Vorsatz, niemals klein beizugeben und sich auskaufen zu lassen.

In einiger Entfernung sah ich Gruppen von Häusern - Zuckerwürfel mit roten Ziegeldächern.

Sussex, Essex … Englische Namen, südwestliche Architektur. In Kalifornien wurde einem manchmal schon der völlige Verzicht auf Logik als Freiheit verkauft.

Ich hörte, wie ein Motor angelassen wurde. Ein taubenblauer Ford Sedan war die ganze Zeit vor dem quadratischen Bau geparkt gewesen. Nun setzte er sich ganz langsam in Bewegung und rollte vorwärts, bis er neben meinem Wagen zum Stehen kam. An der Fahrertür war ein dezentes Wappen angebracht. »BP Inc. Sicherheitsdienste.« Kein Blaulicht auf dem Dach, keinerlei Hinweis auf eventuell vorhandene Feuerwaffen.

Am Steuer saß ein bärtiger junger Mann in einer taubenblauen Uniform. Er trug eine Spiegelsonnenbrille.

»Morgen, Sir.« Ein Lächeln wie mit dem Lineal gezogen.

»Morgen, Officer. Ich wollte Jacob Haas in der Charing Cross Road besuchen.«

»Charing Cross«, sagte er gedehnt, während er mich eingehend musterte. »Das ist ganz hinten in Jersey.«

Ich widerstand der Versuchung zu fragen: »Eher Richtung Newark oder Atlantic City?«

Stattdessen sagte ich nur: »Danke.«

Er räusperte sich. »Sie sind wohl noch nicht oft hier gewesen?«

»Heute zum ersten Mal.«

»Verwandt mit Mr. Haas?«

»Nur bekannt. Er war früher mal der Sheriff. Als das hier noch Treadway hieß.«

Er zögerte einen Moment, bevor er sagte: »Klar.« Der gleiche stumpfe Gesichtsausdruck, den auch der Tankwart an den Tag gelegt hatte. Treadway sagte auch ihm nicht das Geringste. Er wusste nichts über die Geschichte der Gegend. Wie viele Leute hatten wohl überhaupt eine Ahnung davon? Ich schaute an ihm vorbei auf die Pfirsich- und Walnussbäume, die nun nichts weiter waren als Denkmäler aus Holz. Das Einzige, das aus den Zeiten der Farmen und Ranches noch geblieben war. Jedenfalls gab es unter Garantie keinen Hinweis auf das Blutbad auf der Ardullo Ranch. Wenn Jacob Haas nicht zu Hause war oder sich weigerte, mit mir zu sprechen, hatte ich meine Zeit vergeudet. Aber selbst wenn er bereit war zu reden, welche neuen Erkenntnisse konnte ich mir davon erhoffen?

Das Autotelefon des Wachmannes klingelte, und er nahm es ab, während er mir gleichzeitig kopfnickend sagte: »Jersey liegt ganz am anderen Ende - geradeaus bis zum See und dann rechts. Am Ende der Straße kommt dann ein Schild für den White Oak Golfkurs. Da fahren sie einfach weiter, und schon sind Sie da.«

Ich fuhr los und sah im Rückspiegel, wie er wendete und in Richtung Balmoral fuhr.

 

Die Picadilly-Arkade war ein kleines Einkaufszentrum ein Stück weit östlich der Zentrale des Sicherheitsdienstes. Es gab einen Lebensmittelladen mit Postamt und einem Geldautomaten, eine Reinigung und zwei Kleiderläden, die in erster Linie Golfmoden und Jogginganzüge aus Velours anboten. Vor dem Kino kündigte ein Schild an, dass am heutigen Abend Top Gun gezeigt wurde.

Auf der Fahrt nach Jersey kam ich an den zweckdienlich angeordneten öffentlichen Gebäuden vorbei - dem Clubhaus und dem Fitnesszentrum mit Tennisplätzen und Schwimmbecken. Ich musste allerdings feststellen, dass die Häuser aus der Entfernung besser aussahen.

Je nach »Region« waren sie unterschiedlich groß. Essex war die Villengegend. Hier herrschten zweistöckige Häuser im Stil mexikanischer Haciendas vor, die einzeln auf briefmarkenförmigen, teilweise parkähnlich angelegten Grundstücken standen, davor jede Menge Cadillacs und Lincolns, außerdem hier und da eine Satellitenschüssel. Unverbaute Aussicht auf den See. Fit aussehende Leute mit weißen Haaren in Sportkleidung. In Yorkshire dominierte der Pseudo-Lehmverputz-Stil, und die Häuser standen in Vierer- oder Fünfergruppen zusammen. Die Blumenbepflanzung war etwas weniger aufwändig, dennoch machte alles einen gepflegten Eindruck.

Der Blick auf den See wurde hier von Pfefferbäumen verstellt. Diese Bäume waren pflegeleicht, widerstandsfähig und überstanden auch längere Dürreperioden. Man hatte sie vor Jahren lastwagenweise ins San Fernando Valley gekarrt, wo sie die Charparrals völlig verdrängten und zum Aussterben der ursprünglich hier wachsenden Eichen beitrugen. Ich fuhr eine etwa einen halben Kilometer lange, schattige Straße entlang, bis schließlich Jersey auftauchte.

Mobile Wohnhäuser, die auf einem freien Feld standen. Allesamt weiß und makellos sauber, jedes mit reichlich Grünzeug umpflanzt, um den Sockel zu verdecken, doch die Massenproduktion war unübersehbar. Lediglich am Rande der Siedlung standen ein paar Bäume, und es gab keinen direkten Zugang zum See, doch dafür einen überwältigenden Blick auf die Berge.

Die wenigen Leute, die ich sah, machten ebenfalls einen gesunden Eindruck, wenn auch eher ländlich. Vor den einzelnen Mobilhäusern standen Chevys, Fords, japanische Kleinwagen und ab und zu ein Wohnmobil. Die Straße, die diesen Teil der Siedlung durchquerte, war frisch asphaltiert. Es herrschte kein unnötiger Luxus, trotzdem hatte man das Gefühl, dass auch hier alles in Schuss und sauber gehalten wurde und die Senioren, die hier wohnten, glücklich und zufrieden waren.

Ich parkte auf einem der zehn Besucherparkplätze am Rand des Areals und fand auf Anhieb die Charing Cross Lane. Es war die erste Straße rechts.

Über der Eingangstür ihres Heims auf Rädern war ein hölzernes Schild angebracht, in das die Namen von Jacob und Marvelle Haas eingebrannt waren. Die beiden Wagen - ein Buick Skylark und ein Datsun Pickup -, die vor dem Haus parkten, ließen hoffen, dass jemand zu Hause war. Irgendjemand hatte sich auch bemüht, das Fertighaus aufzupeppen und ihm eine individuelle Note zu geben. An den Fenstern hingen Markisen aus grünem Leinen, die Eingangstür sah aus wie handgeschnitzt, und an der Frontseite des Hauses erstreckte sich eine Veranda aus Zement, auf der Töpfe mit Geranien und Kakteen herumstanden, und ein leeres Aquarium, in dem immer noch ein Wasserfilter hing. Der Klopfer an der Tür war ein Cockerspaniel aus Messing, um dessen Hals eine Kette aus winzig kleinen Kaurimuscheln hing.

Ich hob den Hund an und ließ ihn gegen die Tür prallen.

Eine Stimme rief: »Einen Moment.«

Der Mann, der mir öffnete, war jünger, als ich erwartet hatte. Jünger als sämtliche Bewohner der Siedlung, die ich bis dato zu Gesicht bekommen hatte. Allenfalls sechzig mit eisengrauem Haar, das glatt zurückgekämmt war, und überaus wachen, ebenfalls grauen Augen. Er trug ein kurzärmeliges weißes Polohemd, Blue Jeans und schwarze Slipper. Seine Schultern waren breit, ebenso wie seine Hüften. Ein kleiner Fettwulst wölbte sich über seiner Gürtelschnalle. Seine Arme waren lang, unbehaart und dünn, außer an den Handgelenken, die etwas energischer wirkten. Sein Gesicht war länglich und schmal, die Haut war etwas faltig um die Augen und die Wangenknochen, doch abgesehen von ein paar Leberflecken glänzte sie, als sei sie poliert worden.

»Dr. Delaware«, sagte er mit dem herzlichen Tonfall, den ich schon von seinem Anrufbeantworter kannte. Doch sein Gesichtsausdruck passte nicht recht dazu - er wirkte vorsichtig, beinahe misstrauisch. »Ich hab Ihre Nachricht bekommen. Jacob Haas.«

Wir schüttelten einander die Hände. Doch sein Händedruck hatte etwas Widerstrebendes - eine kurze Berührung, dann ein schneller Druck, bevor er seine Hand wieder wegzog und einen Schritt rückwärts ins Haus machte.

»Kommen Sie doch rein.«

Ich betrat ein schmales Wohnzimmer, von dem aus die kleine Küche abging. Im Fenster summte eine Klimaanlage. Hier drinnen war es zwar nicht gerade kühl, doch wenigstens war die Hitze nicht mehr ganz so schlimm. Keine knorrigen Kiefern, keine gerahmten Kitschbilder, nichts von den üblichen Trailerpark-Klischees. Das Mobilheim war mit einem tiefgrauen Berberteppich ausgelegt. Ein weißes Sofa mit dazugehörigen Sesseln, ein Couchtisch aus Messing und Glas, eine blauweiße chinesische Gartenbank, die als Stellfläche für eine blaue Vase mit Osterglocken diente.

An den blassorange gestrichenen holzgetäfelten Wänden hingen Picasso-Drucke. Schwarz lackierte Bücherregale voller Taschenbücher und Zeitschriften. Ein Fernseher mit Großbildschirm samt Videorecorder, eine Stereoanlage und ein schmales schwarzes CD-Regal. Four Seasons, Duane Eddy, Everly Brothers, Tom Jones und Petula Clark.

Der Rock’n’Roll hatte mittlerweile das Rentenalter erreicht.

Der Raum war erfüllt vom Duft nach Zimtrollen. Die Frau auf dem Sofa erhob sich und sagte: »Marvelle Haas, nett, Sie kennen zu lernen.« Sie trug ein marineblaues Polohemd, weiße lange Hosen und weiße Sandalen. Sie war etwa so alt wie ihr Mann, hatte zwar mehr Falten als er, dafür aber ihre schlanke Figur behalten. Ihr kurzes, welliges Haar war mahagonifarben getönt.

Ihr Händedruck war fest. »Hatten Sie ‘ne schöne Fahrt von L.A. hier rauf?«

»Sehr schön. Die Landschaft ist ja wunderbar.«

»Was glauben Sie, wie wunderbar sie erst ist, wenn man hier wohnt. Möchten Sie was trinken?«

»Nein danke.«

»Nun denn, dann mache ich mich mal auf den Weg.« Sie küsste ihren Mann auf die Wange und schlang ihren Arm um seine Schulter. Als wollte sie ihn beschützen, dachte ich. »Ihr Jungs seid brav.«

»Schätzchen, ich meine es ernst«, sagte Haas. »Fahr vorsichtig.«

Sie eilte zur Tür. Ihre Hüften schwangen bei jedem Schritt. Sie hatte bestimmt einmal richtig gut ausgesehen. Eigentlich tat sie das noch immer.

Als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, schien Haas regelrecht zu schrumpfen. Er deutete auf die Sessel. Wir setzten uns.

»Sie hat beschlossen, ihre Schwester in Bakersfield zu besuchen«, sagte er. »Weil sie nicht dabei sein wollte, wenn Sie hier sind.«

»Entschuldigung -«

»Nein, das ist nicht Ihre Schuld. Sie mag nur einfach keine unangenehmen Sachen.« Er schlug die Beine übereinander und strich sich mit einer Hand durch die Haare, während er mich eingehend musterte. »Ich bin mir im Grunde nicht einmal sicher, ob ich mir selbst das antun soll, aber ich fühle mich anscheinend moralisch verpflichtet, der Polizei zu helfen.«

»Dafür bin ich Ihnen dankbar, Sheriff. Ich hoffe, es wird nicht allzu unangenehm.«

Haas lächelte. »Schon lange her, dass ich >Sheriff< war. Ich hab den Job gleich nach der Sache mit den Ardullos an den Nagel gehängt und als Versicherungsvertreter für meinen Schwiegervater gearbeitet. Zwei Jahre später wurde überhaupt kein Sheriff mehr gebraucht - da gab’s den ganzen Ort nicht mehr.«

»Wer hat ihn eigentlich verschwinden lassen?«

»Eine Investmentgruppe namens BCA Leisure hat das ganze Land gekauft. So eine multinationale Firma - mit Sitz in Japan, Indonesien und England. Die amerikanischen Partner sind eine Erschließungs- und Entwicklungsgesellschaft in Denver. Die haben damals das gesamte Land in der Gegend aufgekauft.«

»Gab es unter den Einheimischen irgendwelchen Widerstand?«

»Nicht im Geringsten«, erklärte er. »Die Landwirtschaft war schon immer ein hartes Geschäft, und hier in Treadway gab es eigentlich nur zwei Familien, die wirklich davon leben konnten. Das waren die Ardullos und die Crimmins’. Neunzig Prozent des Landes haben denen gehört. Der Rest von uns war mehr oder weniger nur dazu da, um deren Geschäfte am Laufen zu halten - fast so wie Pächter. Und als die beiden dann verkauft haben, gab es nicht viel zu überlegen. Der Job als Sheriff war sowieso nur eine Teilzeitbeschäftigung. Ich wohnte damals schon in Bakersfield, in der Nähe meiner Schwiegereltern, und habe die Buchführung für den Vater meiner Frau erledigt.«

»Wann sind Sie hierher zurückgekommen?«

»Vor fünf Jahren.« Wieder lächelte er. »Wie gesagt, es war in der Nähe meiner Schwiegereltern. Aber im Ernst, ich habe mich entschlossen, meinen Kram zu packen, als ich den Eindruck hatte, dass ich genug Policen unter Dach und Fach gebracht hatte, um ein bequemes Leben zu führen. Und Bakersfield wurde L.A. immer ähnlicher. Wir hatten uns schon überlegt, ganz aus Kalifornien wegzuziehen und es vielleicht mal in Nevada zu probieren, als wir das Grundstück samt Haus hier angeboten bekamen. War ein Glücksfall, denn normalerweise stehen gleich jede Menge Leute Schlange, sobald hier in Fairway was frei wird. Wir haben uns gesagt, warum nicht. Die Luft ist prima, man kann klasse angeln, es gibt ein Kino, und man kann sämtliche Einkäufe hier erledigen. Die Hälfte des Jahres sind wir sowieso auf Reisen, da braucht man überhaupt kein großes Haus. Wir sind nicht mit dem Ding hier unterwegs, es ist fest installiert, wie ein ganz normales Haus. Wir fliegen. Las Vegas, wenn es eine Show gibt, die uns interessiert. Alaska, Kanada. Dieses Jahr haben wir eine richtig große Reise gemacht: nach London. Wir waren auf der Blumenausstellung in Chelsea, weil Marvelle Blumen so sehr mag. Ein wunderbares Land. Wenn die Engländer >grün< sagen, dann meinen sie’s auch so.«

Er klang nun etwas entspannter. Was ich zu tun hatte, gefiel mir selbst nicht, aber es führte kein Weg daran vorbei, doch ich beschloss, die Sache zumindest indirekt anzugehen: »Die Ardullos und die Crimmins’. In einem der Zeitungsartikel, die ich gelesen habe, wurde ein Junge namens Derrick Crimmins zitiert.«

»Der Sohn von Carson Crimmins. Der Jüngere - sie hatten zwei Söhne. Derrick und Carson Junior, Cliff. Stimmt, ich kann mich noch daran erinnern, dass die beiden sich am Tatort rumgetrieben haben, zusammen mit ein paar anderen Jugendlichen. Zwar nicht daran, dass Derrick mit den Presseleuten geredet hat, aber ich kann mir gut vorstellen, dass er auch vor denen seine Klappe aufgerissen hat. Er hatte nämlich ‘ne ziemlich große Klappe. - Also, dann erzählen Sie mal, warum schickt die Polizei einen Psychologen hier rauf, damit er sich mit mir über das Monster unterhält? Sagen Sie bloß nicht, Sie sammeln Hintergrundinformationen, weil die da unten mit dem Gedanken spielen, ihn wieder auf freien Fuß zu setzen.«

»Nein«, sagte ich. »Der sitzt hinter Schloss und Riegel, und eine Entlassung ist nicht in Sicht. Ich habe ihn vor ein paar Tagen noch gesehen. Er ist in ziemlich schlechter Verfassung.«

»In schlechter Verfassung«, sagte er. »Was heißt das? Ist er nur noch Haut und Knochen?«

»Mehr oder weniger.«

»Gut so. Am besten wär’s, wenn er gar nicht mehr am Leben wäre …In schlechter Verfassung - der Dorfdepp, das war’s, was alle von ihm dachten. Ich eingeschlossen. Alle hatten … Mitleid … waren freundlich zu ihm - es ist ein typisches Vorurteil von Großstädtern, dass Menschen in kleineren Ortschaften intolerant und voller Vorurteile sind, wie all diese Idioten, die man bei Jerry Springer im Fernsehen sieht. Das Monster hat in Treadway mehr Freundlichkeit erfahren, als er jemals in L.A. bekommen hätte. Er und seine Mutter. Was waren sie denn? Ein paar Herumtreiber, die nicht einen Penny in der Tasche hatten, hier eines Tages aufgekreuzt sind und trotzdem aufgenommen wurden.«

Haas verstummte. Er wartete auf einen Kommentar meinerseits. Ich nickte einfach nur.

Er sagte: »Übermäßig charmant war sie nicht, also Noreen, seine Mutter. Und er war völlig daneben. Aber niemand ließ sie verhungern.«

»War sie eine schwierige Person?«

»Nicht schwierig, aber auch nicht übermäßig einnehmend. Sie sah schlampig aus, das Gesicht immer aufgedunsen, als ob sie die ganze Nacht geheult hätte. Wenn man versuchte, mit ihr zu reden, hat sie einfach nur den Kopf hängen lassen und vor sich hin gemurmelt. Sie war nicht so verrückt wie Ardis, aber wenn Sie mich fragen, waren beide zurückgeblieben. Er mehr als sie, aber sie war auch kein Genie. Es war reine Gutherzigkeit von den Ardullos, die beiden bei sich aufzunehmen. Noreen konnte kochen, aber das konnte Terri Ardullo auch, und zwar prima. Es war schlichtweg ein Akt reinster Nächstenliebe. Und zwar auf eine Art und Weise, die den beiden eine gewisse Würde verlieh.«

»Scott und Terri waren also gutherzige Leute, die sich um andere Menschen gekümmert haben?«

»Das Salz der Erde. Scott war ein netter Kerl, aber Terri war diejenige mit den starken Idealen. Sie war sehr religiös, aktiv in der Kirche engagiert. Die Kirche stand auf einem Stück Land, das Butch Ardullo - Scotts Vater - zur Verfügung gestellt hatte. Es war eine Presbyterianerkirche. Butch war zwar ursprünglich katholisch, aber seine Frau Kathy war Presbyterianerin, und ihr zuliebe ist er konvertiert und hat die Kirche bauen lassen. Das war eine traurige Angelegenheit: Die Kirche niederzureißen. Butch und seine Leute hatten sie selbst gebaut - richtig hübsch sah sie aus, die Wände aus weißen Brettern mit handgeschnitzten Deckenfriesen und einem Kirchturm, den sie ext-» ra von einem Dänen aus Solvang hatten bauen lassen. Das Haus von Butch war auch nicht ohne - drei Stockwerke, ebenfalls aus weißen Holzbrettern, mit einer großen Steinveranda und nach allen Seiten endlose Landschaft. Ihr Geld haben sie mit dem Anbau von Walnüssen und Pfirsichen gemacht, aber hinter dem Haus hatten sie einen kleinen Hain von Zitrusbäumen, die man bis auf die Hauptstraße riechen konnte, wenn sie blühten. Den Großteil der Zitronen und Orangen verschenkten sie einfach. Das Haus der Crimmins war fast genauso groß, aber nicht so geschmackvoll. Zwei Herrenhäuser an den gegenüberliegenden Hängen des Tals.«

Ein Schleier breitete sich in seinen Augen aus. »Ich kann mich noch daran erinnern, als Scott noch ein Kind war. Er lief zwischen den Bäumen hindurch und war immer fröhlich. Das ganze Haus war voller Freude. Klar, es waren reiche Leute, aber trotzdem bodenständig.«

Er stand auf, nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und schenkte sich ein Glas ein. »Sind Sie sicher, dass Sie keinen Durst haben?«

»Doch, jetzt schon. Danke.«

Er stellte zwei Gläser auf den Couchtisch und trank seines mit zwei Schlucken aus.

»Muss schon wieder nachfüllen«, sagte er. »Man will ja nicht einschrumpeln wie eine Rosine. Ich brauche noch einen extra Luftbefeuchter für die Klimaanlage.«

Wieder ging er zu der kleinen Küche. Er leerte erneut sein Glas, ließ seinen Finger über den Rand gleiten, bis ein hohes Pfeifen zu hören war, und sagte: »Sie haben mir immer noch nicht gesagt, warum Sie hier sind.«

Ich fing an mit dem Mord an Ciaire. Ihr Name sagte ihm offensichtlich nichts. Als ich ihm von Peakes Gestammel erzählte, unterbrach er mich: »Ich kann nicht glauben, dass Sie deswegen den ganzen Weg hier raufgefahren sind.«

»Im Augenblick gibt es kaum etwas anderes, dem wir nachgehen könnten, Mr. Haas.«

»Aber Sie haben selbst gesagt, er ist in schlechter Verfassung. Wen kümmert’s da, was er erzählt? Also womit genau kann ich Ihnen Ihrer Ansicht nach helfen?«

»Indem Sie mir alles erzählen, was Sie über Peake wissen. Und über diese Nacht.«

Seine Hände schossen abrupt aufeinander zu und verschränkten sich. Seine Fingerspitzen gruben sich so fest in seine Knöchel, dass sie rot wurden, während seine Nägel cremeweiß anliefen.

»Ich habe lange gebraucht, um diese eine Nacht zu vergessen, und es hört sich nicht so an, als ob Sie mir einen hinreichenden Grund geben könnten, warum ich das Ganze noch mal durchmachen sollte.«

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Wenn Sie damit zu große Schwierigkeiten haben -«

»Verdammter Durst«, sagte er und sprang von seinem Sessel hoch. »Ich kriege wohl Diabetes oder so was.«