***

 

 

 

»Ich möchte, dass ihr alle nah beieinander bleibt.« Akinas Stimme hallte durch den Tunnel, in dem wir uns versammelt hatten. Sehnsüchtig blickte ich zurück zum See, der jetzt in der Dunkelheit noch düsterer wirkte. Wir hatten nur wenige Coal-Steine zurückgelassen. Die meisten lagen nun in einem Drahtnetz, ebenfalls ein Überbleibsel aus dem niedergebrannten Dorf, und sollten uns als zusätzliche Lichtquelle dienen. Das war zwar auch eine Belastung, jedoch reichten unsere Taschenlampen nicht aus, um die Tunnel für den ganzen Stamm auszuleuchten. Nur die wenigsten Stammesmitglieder verfügten über Nachtsichtfähigkeiten.

»Ich denke, es wissen alle Bescheid, aber ich sage es trotzdem noch mal: Passt auf eure Füße auf!«

Zustimmendes Gemurmel erklang, was in der Klick-Sprache eine seltsame schnalzende und knurrende Tonabfolge ergab.

»Und ich möchte in den Tunneln nicht einen Ton in unserer Sprache hören, verstanden? Der Schall trägt die Laute meilenweit. Es bleibt also alles wie gehabt! Haltet euch daran!«

»Was haben die eben geflüstert?«

Ich fuhr herum. Lydia.

»Puh, hast du mich erschreckt«, sagte ich und stieß ein nervöses Lachen aus. »Sie haben Angst und machen sich Sorgen wegen der Dinge, die damals passiert sind.«

Lydia hob fragend eine Augenbraue.

»Als wir aus dem Dschungel geflüchtet sind, ist eine der Stammesfrauen gestürzt und hat sich am Knöchel verletzt. Wir mussten sie den ganzen Weg bis hierher schleppen. Das hat uns nicht nur langsam, sondern auch angreifbar gemacht.«

»Wo ist das Problem, ich dachte, ihr seid ein Volk von Kriegern?«

Unwillkürlich musste ich schmunzeln. Manchmal war es so, als hätte sich Lydia gar nicht verändert.

»Bevor wir angegriffen wurden, war das auch so. Doch innerhalb des Stammes entscheiden die Gene, welche Rolle man zugeteilt bekommt. Diejenigen mit einer schwachen Kriegerausprägung bekommen andere Aufgaben. Leider haben den Angriff hauptsächlich diejenigen mit schwacher Ausprägung überlebt.«

Lydias Stirn legte sich in Falten. »Krieger-Gen?«

»Ja … also … das ist echt eine lange Geschichte. Lass uns ein andermal darüber sprechen. Belassen wir es einfach dabei, dass du, Akina und ich die einzigen brauchbaren Kämpfer sind.«

Neben mir erklang ein wuterfülltes Knurren. Als ich mich umdrehte, blickte ich in Yasemins schmale Augen. Gerade als ich zu einer Entschuldigung ansetzen wollte, erhob Akina abermals die Stimme.

»Wir haben etwa einen halben Tagesmarsch vor uns! Nehmt bitte die Kinder in eure Mitte, bleibt nah beieinander und redet nur das Nötigste im Flüsterton! Ich werde vorneweg laufen, Kay in der Mitte und Yasemin bildet den Schluss. Wenn irgendjemand etwas sieht, was ihm verdächtig vorkommt, gebt bitte sofort einer dieser Personen ein Zeichen.« Sie sah sich mit ernster Miene um. Das Schweigen genügte ihr anscheinend als Bestätigung. »Lydia, du gehst mit mir.«

»Sie vertraut mir nicht«, sagte sie leise, als Akina sich an eine Frau wandte, die mit besorgtem Gesichtsausdruck auf sie einredete.

»Du ihr doch auch nicht«, entgegnete ich schulterzuckend.

Lydia lächelte. »Stimmt.« Sie zwinkerte mir zu und ging, ohne noch etwas hinzuzufügen, zu Akina.

 

Das Schleifen des Coal-Netzes kam mir viel zu laut vor, genau wie die Schritte der Stammesbewohner und das leise Wispern.

»Ruhe, verdammt!«, zischte Akina zum wiederholten Mal. Augenblicklich wurde es still. Ich seufzte. Alleine durch die Tunnel zu streifen, war kein Problem, aber mit dem gesamten Stamm wurde es zur wahren Herausforderung. Auf einmal kam mir die Prognose von einem halben Tagesmarsch sehr optimistisch vor. Rechts neben mir keuchte jemand. Einer der Frauen, die das Coal-Netz hinter sich herzogen, stand der Schweiß auf der Stirn und sie schnappte nach Luft. Hastig griff ich nach einem der Gurte und nahm ihn ihr aus der Hand. Sie lächelte dankbar und massierte sich den Unterarm.

Plötzlich geriet die Gruppe vor uns ins Stocken und kam zum Stehen. Das Licht von Akinas Taschenlampe erlosch und ich tat es ihr gleich. Einzig die Coals glommen matt neben mir. Eine der Frauen entfaltete eine Decke und schirmte die Steine ab. Sie vollständig darunter zu verbergen, war aufgrund der Wärme, die sie ausstrahlten, nicht möglich, aber zumindest konnte man so die Helligkeit dämmen. Das matte Licht genügte, um meine Nachtsicht zu aktivieren, und so machte mir die Dunkelheit kaum etwas aus. Ich streckte mich abermals, um zu sehen, was bei Akina vorging. Die anderen versperrten mir die Sicht, doch ich sah deutlich, dass es im vorderen Teil des Tunnels heller war.

»Wartet hier«, flüsterte ich an die Umstehenden gewandt und schob mich vorsichtig zwischen den Menschen hindurch. Leises Gemurmel setzte ein und wurde von einem harschen »Schhhhht« unterbrochen. Als ich Akina erreichte, standen sie und Lydia an einer Wegkreuzung. Sie drückten sich nebeneinander an die rechte Felswand. Die Stammesmitglieder standen etwa zwei Meter entfernt. Der Geruch von Angst lag in der Luft; bitter und unverkennbar. Hinter der Tunnelbiegung bewegten sich Lichtkegel.

Ich trat zu Akina. »Was …?«

Hastig legte sie sich den Zeigefinger an die Lippen und brachte mich so zum Schweigen. Und dann vernahm ich es. Stimmen, ganz in der Nähe. Akina schob mich vor sich, sodass ich um die Ecke schauen konnte.

»… hat David gesagt, dass sie langsam auf der richtigen Spur sind.«

»Meinst du wirklich, dass sie zurückkehren wollen? Nach all der Zeit?«

Zwei Männerstimmen. Ich beugte mich nach vorne und spähte hinter der Ecke hervor. Sie trugen weiße Kleidung.

»Wenn sich nicht bald etwas ändert, haben wir keine Wahl mehr«, meinte der Dunkelhaarige. Er tippte auf seinem Gerät herum und verstaute es in seinem Gürtel.

»Dafür müssten sie in der Wüste fündig werden«, sagte der Blonde bestimmt.

»Hörst du schon auf? Willst du das nicht fertig machen?«, fragte er, ohne seine eigene Arbeit zu unterbrechen. Ich vernahm deutlich den leicht frotzelnden Unterton.

»Du machst das ohnehin viel lieber«, gab der andere zurück und fuhr sich durch seine wirren Haare. Als der Blonde ein freudloses Lachen ausstieß und sich wieder in seine Arbeit vertiefte, wanderte der Blick des Dunkelhaarigen unbestimmt durch die Tunnel. Die Tür befand sich an einer Wegkreuzung, die sich in vier Gänge aufteilte. Wir befanden uns schräg gegenüber. Wenn er einen Schritt täte und dann – Eilig zuckte ich zurück, presste mich an die Wand. Akina starrte mich an. Hatte er mich gesehen? Ich bemühte mich, flach zu atmen.

»Und ich meine trotzdem, dass wir nur flüchten können, wenn das so weitergeht.

»Du warst schon immer ein furchtbarer Pessimist. Du glaubst doch nicht, dass diese Primitiven den Krieg tatsächlich gewinnen können?«

Vorsichtig beugte ich mich wieder etwas nach vorne. Der Dunkelhaarige stieß ein abfälliges Lachen aus. Was hatte er gesagt? Die Primitiven?

»So primitiv sind ihre Mittel gar nicht mehr. Sektor 2 soll kurz vor der Kapitulation stehen. Einzig diese Slotan hält ihren Trakt noch am Leben.«

»Slotan? Ist das nicht diese Irre? Die Tochter von …?«

»Sei still, Steve!«, fuhr der Blonde ihn an, er blickte sich einige Male hastig in den Tunneln um.

»Was?« Steve lachte leise.

»Es gibt Dinge, die spricht man nicht laut aus, und erst recht nicht, wenn sie von einer gewissen Tochter eines gewissen sehr wichtigen Mannes handeln.«

»Wie auch immer. Ich glaube, wir werden es schon früh genug erfahren, wenn sie anfangen, den Sektor zu evakuieren, meinst du nicht?«, sagte Steve und hob dabei beschwichtigend die Hände. »Aber sag mal, Marc, kommt deine Frau nicht aus Sektor 3?«

Der Blonde, Marc, schaute Steve entnervt an. »Ja, sie ist Lehrerin. Aber seit unserem Bündnis zählt sie als vollwertiges Mitglied von Sektor 1.« Seine Stimme hatte einen barschen Unterton.

»Du nimmst das immer noch persönlich, oder? Diese ganze Sache mit dem Sektorwechsel? Ich frage doch nur wegen Julias Familie.«

Marc ließ die Schultern leicht hängen, kratzte sich am Hinterkopf. Schließlich begann er mit einem Schraubenzieher an dem Tastenfeld herumzuwerkeln, das neben der Tür angebracht war. »Hör bloß auf, Julia ist wegen der Sache ganz fertig. Wir hoffen noch immer, dass sich die Gerüchte nicht bestätigen.«

Der Dunkelhaarige legte Marc mitfühlend die Hand auf die Schulter. Die Geste wirkte unehrlich, beinahe ein wenig gezwungen. »Noch ist ja gar nichts spruchreif. Alles nur Gerüchte, wie du schon sagtest. Sie können doch nicht einfach Sektor 3 sich selbst überlassen.«

Marc machte eine wegwerfende Geste. »Sektor 4 ist mir an sich egal. Du weißt doch, was sich da für Volk rumtreibt. Aber in Sektor 3 sind viele unserer Leute, es wäre falsch, sie einfach zurückzulassen. Ohne den ersten Sektor verhungern sie womöglich.«

Steve stieß einen grunzenden Laut aus und fuhr sich abermals durch das Haar.

Es knirschte laut, als Marc das Tastenfeld aus dem Felsen löste. Die losen Kabel, die vorhin noch damit verbunden waren, stachen jetzt aus der kleinen Vertiefung.

»Fertig. Willst du es durchgeben?«, fragte Marc und keuchte. »Mir reicht es für heute.«

Steve nickte und fasste sich an das linke Ohr. »Hier Team 16 - 23.« Er wartete. »Ja, wir sind am Eingang S2 - B3 - T7 fertig. Die Tür wurde versiegelt und das Tastenfeld entfernt.« Wieder eine kurze Pause. »Ja, ist gut. Danke, dir auch!« Steve grinste breit, als er die Hand vom Ohr nahm. »Feierabend.«

»Jetzt schon? Heute muss mein Glückstag sein«, entgegnete der blonde Marc und verstaute den Schraubenzieher an seinem Werkzeuggürtel.

»Dave sagt, sie haben heute nichts mehr für uns, außerdem ist noch mit weiteren Angriffen zu rechnen.« Steve deutete in den Tunnel links neben unserem. »Da entlang?«

»Moment. Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht auch der daneben.«

Ich zuckte erschrocken zurück. Kurze Zeit später erklangen Schritte. Akina stand so nah bei mir, dass sich unsere Arme berührten. Sie kamen näher. Wenn sie uns jetzt entdeckten, hätten wir keine Wahl.

»Diese verdammten Tunnel …« Es klang, als würde er direkt neben mir stehen.

»… ich verlauf mich hier immer wieder.«

»Sir?« Eine dritte Stimme erklang, die weder zu Marc noch zu Steve gehörte.

»Was?«, fragte Steve barsch.

»Es war dieser Tunnel, genau wie Ihr Kollege gesagt hat.«

Ich hielt die Luft an.

»Gut«, erklang die barsche Antwort.

Als ich mich wieder vorbeugte, sah ich gerade noch, wie die Grenzwächter im Nachbartunnel verschwanden.

»Das war knapp«, flüsterte Akina neben mir.

Ich nickte ungelenk. »Warten wir noch einen Augenblick, und dann schnellstmöglich weiter. Je kürzer wir uns in den Tunneln aufhalten, desto besser.«

 

Abgerissene Kabel hingen wie Eingeweide aus den Überresten der zerstörten Felswand. Die Kraft der Explosion hatte den massiven Stein pulverisiert, lediglich einige unterschiedlich große Felsbrocken waren übrig. Das Loch, das an dieser Stelle prangte, maß etwa zehn Quadratmeter. Das, was dahinter lag, war in einem ähnlich desolaten Zustand. Ein Chaos aus zerstörter Einrichtung, zerbrochenem Glas, Schmutz und verkohlten Papierresten.

»Was ist hier passiert?«, flüsterte Lydia und stieg über die Reste eines Tisches. Ich atmete den Geruch von verschmortem Kunststoff ein, als ich weiter in den Raum lief. Einzig die Helligkeit unserer Taschenlampen spendete Licht in dieser düsteren Kulisse. Die an der Decke angebrachten Leuchtstoffröhren baumelten wie Lianen herunter. Nutzlos.

»Der Krieg ist hier passiert«, flüsterte ich und wusste nicht einmal, ob Lydia meine verspätete Antwort verstanden hatte.

»Keine Tür«, sagte Akina unvermittelt. Ich blickte zu ihr hinüber. Der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe wanderte langsam über die Innenwände. Unter meinen Füßen knirschte der Schutt, als ich einen Schritt in ihre Richtung tat. »Ich denke, sie haben versucht, von hier aus ins Centro zu gelangen«, fügte sie mit gerunzelter Stirn hinzu.

Mein Blick fiel auf die Überreste eines Generatorenschranks, wie ich ihn schon im Dschungel in dem Turm in Sektor 6 gesehen hatte. Bei genauerem Betrachten befanden sich sogar mehrere hier. »Es scheint eine Art Überwachungszentrale zu sein. Und der einzige Zugang war über die Tunnel.«

Akina nickte. Als ihr Lichtstrahl wieder auf den freigesprengten Durchgang traf, schüttelte sie sich demonstrativ. »Wenn die Felsenstadt über Waffen mit einer derartigen Explosionskraft verfügt, dann …« Sie brauchte den Satz nicht zu beenden. Wir wussten, was das bedeutete.

»Lasst uns von hier verschwinden«, sagte Akina. Lydia und ich zögerten keine Sekunde. Dieser Raum strahlte so viel Zerstörungskraft aus. Vorsichtig stiegen wir durch das Loch in der Wand, hinaus in den Tunnel. Der Stamm blickte verängstigt zu uns herüber. Akina sagte nichts. Natürlich. Es gab keine Worte, die das Bild der Zerstörung schönreden könnten. Ich blickte noch einmal zurück auf die klaffende Wunde in schwarzem Felsgestein. Die modernen Überreste der Einrichtung, das Metall und die Stromkabel bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu den schwarzen Steinwänden. Zerstörte Technik gegen pulverisierten Fels; fast so kurios wie der Krieg, den die Felsenstadt gegen das moderne Centro führte.

Centro 03 - Das Ende
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