***

 

 

 

Die Stimme des Mannes klang melodisch und ruhig. Obwohl ich Slow folgte, konnte ich nicht verhindern, immer wieder zu der Bühne hochzusehen. Wir verbargen uns am Rand des Geschehens. Ich spürte den Rest unserer Gruppe dicht hinter mir. Sie folgten uns mit einiger Verzögerung, damit wir nicht unnötige Aufmerksamkeit erregten. Doch niemand schenkte uns Beachtung, alle Blicke hingen an der Centro-Führung.

»Sie glauben gar nicht, wie sehr es mich freut, Sie alle hier versammelt zu sehen. Denn Sie sind die Quintessenz unseres Projektes. Ohne Sie wären wir niemals so weit gekommen, wie wir es jetzt sind.« Applaus erklang und der weißhaarige Mann lächelte breit. Es sah merkwürdig aus, als Bewegung in das faltige Gesicht kam. Nun trat eine Frau vor. Sie hatte schlohweißes, schulterlanges Haar, das glatt an ihrem Kopf herunterfiel.

»Kay, guck dir das an!« Slow ging neben mir in die Hocke. Das Gerät, das da halb verborgen hinter der Metallverkleidung hervorschaute, war der Ursprung des roten Blinkens. Es bestand aus Kabelgewirr, in dessen Mitte eine digitale Anzeige blinkte. Die Zahlen liefen rückwärts.

25 Minuten und 35 Sekunden

34 Sekunden

33 Sekunden

Ich stieß keuchend Luft aus, mein Herzschlag beschleunigte sich. Falls wir nichts unternähmen, wären wir nun weniger als eine halbe Stunde vom Tod entfernt.

Die eingängige Stimmfarbe der Frau zog meine Aufmerksamkeit nahezu hypnotisch auf sich. »Viele von Ihnen hatten noch nicht das Vergnügen, uns persönlich kennenzulernen, doch das werden wir heute – am Tag unserer Abreise – nachholen. Außerdem wollen wir diesen Zeitpunkt nutzen, um alle Ihre offenen Fragen aufzuklären. Schließlich hatte aus Sicherheitsgründen nicht jeder die Möglichkeit, die genauen Hintergründe unseres Daseins zu erfahren.«

Obwohl bisher keiner von der Führung seine Stimme hob, hallten die Worte bis in die hinterste Ecke des Raumes. So deutlich zu verstehen, als stünden sie direkt vor mir. Sicherlich irgendeine Centro-Technik.

»Kay?«, zischte Slow.

25 Minuten und 3 Sekunden

Ich riss mich vom Anblick der Führung los und kniete mich neben ihn. Die Anzeige lief unerbittlich rückwärts. Slow zog vorsichtig an einem der Kabel, schüttelte den Kopf. »Scheiße.«

»Kannst du sie entschärfen?«

»Sie haben irgendwelche Kabelreste verwendet, die sie in den Sektoren aufgetrieben haben. Logik ist hier fehl am Platz.« Er massierte sich die Stirn.

»Wir müssen es versuchen«, zischte ich und blickte mich angespannt um.

»Warum sagen wir es nicht den Grenzwächtern? Sollen die sich doch um das Problem kümmern.« Doc starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Anzeige. Hinter uns schwoll Applaus an.

»Weil Sascha sicherlich jeden ihrer Schritte beobachtet und ich stark davon ausgehe, dass es einen explosiven Plab B gibt, falls es nicht so läuft, wie sie sich das denkt.«

Hastig sah ich mich um. Die Menschen standen so dicht nebeneinander, dass uns garantiert niemand entdecken würde. Dennoch fühlte ich mich beobachtet.

»Oh, sie zeigen einen Film!«, sagte Marcie plötzlich und hüpfte unruhig auf und ab. Sie war auf einen der Container neben uns geklettert, vermutlich um besser sehen zu können, und deutete aufgeregt in Richtung Bühne. Ich richtete mich auf. Tatsächlich war eine Leinwand heruntergelassen. Früher, bei den großen Versammlungen, war es selten vorgekommen, dass uns Filme gezeigt wurden. Die bewegten Bilder waren faszinierend und eine willkommene Abwechslung zum anstrengenden Alltag. Dabei spielte es keine Rolle, dass es sich zumeist um langweilige Lehrvideos handelte, die lediglich dazu dienten, die Propaganda der Führung zu verbreiten.

»Wir möchten Sie bitten, uns auf eine visuelle Reise zu den Anfängen zu begleiten. Sicherlich wird dies einige von Ihnen erschrecken, doch ich bitte Sie, Ruhe zu bewahren und die Ereignisse einfach auf sich wirken zu lassen. Alles hat einen Sinn.« Das Lächeln der Frau wirkte mechanisch und einstudiert. Ich sah ein leichtes Zittern ihrer Finger, als sie die Hände vor dem Bauch ineinanderflocht.

Als hätte es ein besonderes Zeichen gegeben, traten die Führungsmitglieder an den rechten Rand der Bühne. Irgendjemand hatte dort unbemerkt Stühle aufgestellt. Als die in Gold gekleideten Menschen Platz nahmen, geschah etwas Merkwürdiges. Die Filterfolie schien sich zu verdunkeln, was dafür sorgte, dass das Licht im Inneren abgedämmt wurde. Aus Hellblau wurde Dunkelblau. Es tauchte die Menschen um uns herum in ein surreales Licht.

»Scheiße«, zischte Slow.

24 Minuten und 16 Sekunden

»Ich sehe so kaum etwas. Wir sollten …«

Musik erklang und die Kamera fuhr über eine Wiese hinweg, wie ich sie aus den Simulationen des Intranets kannte. Nur dass diese hier irgendwie ungleichmäßiger wirkte, als hätte nicht ein Computer jeden einzelnen Grashalm vorgetäuscht.

»In der Wissenschaft …«, begann eine angenehm klingende Frauenstimme aus dem Off. Irgendwo inmitten des Grün erschien ein grauer Komplex, der aus mehreren Gebäuden bestand. Die Kamera hielt darauf zu. »… gleichen wir alle nur den Kindern, …«

Die Häuser waren insgesamt recht triste graue Klötze, die lediglich durch großflächige Glasfassaden durchbrochen wurden. Sie waren kreisförmig angeordnet. In der Mitte befand sich ein großer Platz, der mit Kies bedeckt war. Menschen mit weißen Kitteln blickten zu der Kamera hinauf und lächelten, als würden sie den nahenden Besucher aus der Luft begrüßen. »… die am Rande des Wissens hie und da einen Kiesel aufheben, …«

Die Kameraführung steuerte einen verglasten Eingangsbereich an, und die Schiebetüren öffneten sich. Schwarz glänzende Fliesen dominierten das große, ansonsten recht spartanisch eingerichtete Atrium. »… während sich der weite Ozean des Unbekannten vor unseren Augen erstreckt.«

Eine hübsche Frau, die vollständig in Weiß gekleidet war, stand hinter einem gläsernen Tresen. Der Rock war gerade geschnitten und endete knapp über dem Knie. Ihre Bluse lag eng an, sodass ihre doch recht ausladende Oberweite fast die kleinen weißen Knöpfe sprengte. Sie war blond und die Lippen hatten ein auffallendes Rot. Sie enthüllte ein breites Grinsen, legte demonstrativ einen Stift vor sich ab und trat hinter dem Tresen hervor.

»Mit diesen Worten des berühmten Isaac Newton möchte ich Sie bei uns begrüßen. Mein Name ist Melissa McKinley und ich werde Sie heute begleiten. Die Firma Centro befasst sich seit vielen Jahren mit zukunftssichernder Forschung. Doch lassen Sie uns gemeinsam anschauen, was wir leisten. Sie«, die Frau namens Melissa deutete auf die Kamera, »könnten Teil dieses Projektes werden und mit Ihrer finanziellen Unterstützung einen nicht unerheblichen Beitrag leisten.« Sie stieß ein zwitscherndes Lachen aus.

»Was soll das sein? Ein Werbefilm?«, flüsterte jemand an meinem Ohr und holte mich zurück in die Realität. Doc stand nah neben mir und beobachtete mit gerunzelter Stirn das Geschehen auf dem Bildschirm. Ich zuckte mit den Schultern und blickte zu Slow, der gerade verbissen im matten Licht die Kabel entwirrte.

23 Minuten und 10 Sekunden

»Dies hier ist der Hauptsitz von Centro und mehr oder weniger der Platz, an dem alle unsere Einsätze koordiniert werden.« Die Kamera folgte Melissa durch das Atrium hindurch auf eine Schwingtür zu. Während sie lief, sprach sie und drehte sich dabei immer wieder zu ihrem virtuellen Gast um. »Unsere Forschungsprojekte finden zumeist nicht bloß in den Laboren statt, sondern beinhalten auch einen erheblichen Teil Feldforschung.« Wieder dieses merkwürdige Lachen. An der Tür standen zwei Männer, die eine blau-schwarze Uniform trugen. Melissa fuhr mit ihrem Handgelenk über den Scanner, der davor angebracht war. Ein grünes Licht blinkte auf und die Tür öffnete sich surrend. »Ein Handscanner«, erklärte sie, während sie durch das Portal trat. »Wir alle sind mit einem Ident-Chip ausgestattet, der die Informationen zu unserer Person beinhaltet und uns Zugang zu unseren Arbeitsbereichen gewährt. Centro legt hohen Wert auf Sicherheit.« Sie lächelte uns über die Schulter hinweg an. Kurz starrte ich auf mein eigenes Handgelenk, in dem noch immer die Identität von Georgina ruhte. Eine Tatsache, die ich in all dem Stress vollkommen vergessen hatte. Ich blickte wieder auf. Melissa lief gerade über einen schmalen Flur. Sie trug Schuhe mit einem spitzen, hohen Absatz, der klackende Geräusche verursachte. Es sah denkbar unbequem aus.

»Hier im Hauptgebäude dreht sich alles um unser wichtigstes Projekt, das auch für Sie eine große Rolle spielen dürfte.« Sie grinste. Wir waren am Ende des Flures an einer Tür angelangt, die wiederum durch einen Scanner abgesichert war. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen etwas.«

Wir betraten eine riesige Halle. Überall liefen in gelbe Anzüge gekleidete Männer herum, die dazu passende Helme trugen. Es war laut; Sägen, Schleifgeräte, Bohrmaschinen und kräftiges Hämmern dröhnten durch die Halle. Ich erkannte Wandteile aus den Parzellen von Sektor 4 und andere Bauteile, die Erinnerungen an meine Zeit im Centro weckten.

»Ich weiß, es ist laut, aber ich wollte Ihnen unbedingt diesen wichtigen Teil unseres Projektes zeigen. Hier entsteht all das, was wir für Centro II benötigen. Das verwandte Material ist besonders leicht, da wir gezwungen sind, die einzelnen Bauelemente hier zu fertigen und sie dann zu transportieren.« Die Kamera filmte kurz die Arbeiter und zeigte, wie sie das schufen, was für mich jahrelang selbstverständlich gewesen war. Ich hatte mir niemals Gedanken darum gemacht, wo das alles eigentlich hergekommen war. Doch wo befand sich diese Melissa? Wir durchschritten mit ihr die Halle und traten gemeinsam durch eine weitere Tür.

»Puh, hier ist es etwas besser, was die Lautstärke angeht«, sagte sie. Der Raum war voll flacher Bildschirme, vor denen Menschen saßen. Bilder von Überwachungskameras waren auf ihnen zu sehen. Melissa trat näher an einen der Monitore heran und der Mann – er war schwarzhaarig und trug einen weißen Kittel – machte ihr mechanisch lächelnd Platz. »Hier sehen Sie die visuelle Überwachung von Centro I.«

Wir blickten auf eine Straße mit Häusern. Die Menschen, die darüber liefen, waren in weite, weiße Leinenkleidung gehüllt, sodass man ihre Gesichter kaum erkannte. »Die Temperaturen, die zurzeit dort herrschen, erschweren uns die Arbeit, aber unsere Leute sind gut ausgebildet, und so machen wir große Fortschritte, was Centro II angeht. Wir sind optimistisch, dass wir alles schaffen, bevor die Stadt unbewohnbar sein wird.« Sie schenkte der Kamera ihr strahlendstes Lächeln und wir begleiteten sie weiter an den Bildschirmen vorbei. Der Fokus streifte immer wieder die Flatscreens zu beiden Seiten. Was ich sah, kam mir sehr bekannt vor, aber ich wusste nicht, woher.

»Centro ist inzwischen großteils privat finanziert, was bedeutet, dass die Regierungen nicht einmal ansatzweise einen so tiefen Einblick haben wie Sie gerade. Für die Welt da draußen steht das hier im Mittelpunkt.« Melissa deutete auf einen Bildschirm, der eine Hauswand mit großen Plakaten zeigte: »Rettet die Erde!«, »Alternative Energien sind die Zukunft!« Mein Herz setzte einen Schlag aus und pochte dann laut und schnell durch meinen Körper. Ich kannte diese Schilder und auch diesen Ort. »Das ist, was die Regierungen sehen und was für sie wichtig ist. Sie wollen lediglich eine Lösung für ihre Klimaprobleme und das möglichst umweltfreundlich. Unser eigentliches Forschungsziel ist jedoch noch weitaus zukunftsweisender. Oftmals steckt viel mehr hinter den Dingen, die eigentlich so offensichtlich scheinen. Sehen Sie zum Beispiel das Plakat. Es sieht vollkommen normal aus, doch das Material, aus dem es beschaffen ist, ist extrem abweisend gegenüber Sonnenstrahlung. Wir nutzen unsere Möglichkeiten in Centro I, um auch andere Projekte voranzutreiben. Wir verbinden hier in der Firma stets mehrere Forschungsgebiete miteinander.«

»Kay, ich hab es!«

Ich blickte widerwillig zu Slow hinunter, konnte und wollte mich eigentlich nicht von dem Film lösen. Doch er hatte recht, die blinkende Anzeige war erloschen.

»Wir müssen die Nächste suchen«, sagte er eindringlich. Ich blinzelte mehrmals und nickte. »Doc, du bleibst mit Marcie hier.«

»Genau. Sim und Lydia kommen mit«, fügte Slow hinzu. Sie hatten sich ganz in der Nähe in der Menge verborgen, die noch immer gebannt an der Aufzeichnung hing.

Wir bewegten uns direkt am Rand der Metallkonstruktion entlang. Slows Blicke suchten konzentriert den Boden ab. Wir mussten uns an einigen Leuten vorbeidrücken, die im Weg standen. Als wir abermals gezwungen waren, stehen zu bleiben, erlaubte ich mir hinauf zu der Leinwand zu blicken. Melissa hatte den Raum mit den Bildschirmen verlassen und stand vor einer Tür. Sie lächelte in die Kamera. »Doch nun möchte ich Ihnen den Mann vorstellen, der das alles hier initiiert hat.« Sie legte ihr Handgelenk auf den Scanner.

»Sie sind um die gesamte Kuppel arrangiert.« Slow zerrte mich zurück in die Realität. Er hatte die nächste blinkende Anzeige gefunden.

20 Minuten und 4 Sekunden

3 Sekunden

2 Sekunden

»Lass mich vorgehen, ich habe die Dinger damals auch gebaut. Wenn wir rechtzeitig alle entschärfen wollen, müssen wir uns aufteilen.«

Slows Mund bildete eine schmale Linie, doch dann nickte er. »Aber wir gehen jeweils zu zweit. Kay bleibt bei mir. Einer muss Wache halten. Es wundert mich, dass keiner von Saschas Leuten bislang hier aufgetaucht ist.«

»Gut.«

Sim blickte mich an und ich wich seinen Augen aus. Was dann geschah, kam so plötzlich, dass ich keinerlei Möglichkeit hatte, mich dagegen zu wehren. Er überbrückte den Abstand zwischen uns, zog mich an sich und küsste mich. Ich wollte mich gegen ihn stemmen, ihn wegdrängen, aber mein Körper war genauso ein elender Verräter wie mein Herz. Es pochte aufgeregt gegen meine Rippenbögen. Die Entscheidung, den Kuss zu erwidern, hatten meine Lippen allein getroffen. Warme und vertraute Gefühle überkamen mich. Als Sim von mir zurücktrat, keuchte ich.

»Pass auf dich auf«, flüsterte er und verschwand in der Menge. Als Lydia mich ansah, hatte sie ein schmutziges Grinsen im Gesicht. Während sie Sim ins Getümmel folgte, spürte ich, wie mir Hitze in die Wangen stieg. Ich war wie erstarrt.

»Wenn du dich wieder gefangen hast, wäre es lieb, wenn du die Menge im Auge behältst«, sagte Slow und ich vernahm deutlich das Schmunzeln in seiner Stimme. Ich räusperte mich und nickte, statt direkt zu antworten, denn ich war mir in diesem Moment nicht sicher, ob ich eine klare Antwort geben könnte.

Centro 03 - Das Ende
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