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Wir ließen uns etwas hinter Leonie zurückfallen. Der Flur, auf den sie uns geführt hatte, war schmal und dunkel. Er verlief leicht aufwärts und bot in der Breite kaum Platz, um nebeneinander herzulaufen.
Dann sah ich sie, etwa fünfzehn Meter von uns entfernt. Meine Kehle schnürte sich zu. Zwei Gardisten versperrten den Weg und zwangen nun auch Leonie stehen zu bleiben. Eilig zog ich Lydia in eine kleine Höhle, die zur linken Seite abzweigte. Hoffentlich hatten sie uns noch nicht entdeckt.
»Mist …«, flüsterte Lydia und ich bedeutete ihr zu schweigen, indem ich mir den Zeigefinger an die Lippen legte. Angespannte lauschte ich.
»Name?«, erklang eine männliche Stimme.
»Jonas – Davin – Warner. Ich habe hier einen verdammt schweren Topf in der Hand und du willst ernsthaft dieses Spielchen mit mir spielen?«
»Das ist Vorschrift«, entgegnete der Gardist und klang dabei ein wenig kleinlaut.
»Jonas, ich habe dir, als du klein warst, die Windeln gewechselt, dir beigebracht, wie man ein vernünftiges Brot backt, und war nicht ganz unbeteiligt an deiner jetzigen Ehe. Also tritt beiseite und lass mich den hochwohlgeborenen Kriegsherren da drinnen ihre Mahlzeit servieren!«
Der junge Mann räusperte sich lautstark, Schritte erklangen.
»Na bitteschön, geht doch«, zwitscherte Leonie fröhlich. »Und grüß deine Mutter von mir, ja?«
Jemand lachte.
»Halt die Klappe, Mann!«
Leises Gerangel war zu hören, dann wurde es wieder still.
»Wir müssen sie ausschalten«, wisperte Lydia in der Nähe meines Ohres. Ich nickte, auch wenn mir der Gedanke missfiel, dass wir damit vermutlich unsere Tarnung aufgaben.
»Ich locke sie hierher«, murmelte ich.
Lydia drückte bestätigend meine Schulter. Wir begaben uns auf jeweils eine Seite des Durchgangs. Ich atmete tief durch und trat dann offen auf den Gang.
»Hey ihr!«
Sofort blickten die beiden Männer in meine Richtung.
»Wer bist du? Und was willst du hier? Das ist Sperrgebiet!«, rief einer der beiden, den ich als den Gardisten namens Jonas identifizierte.
»Ach echt?« Ich grinste und lief ein paar federnde Schritte in ihre Richtung. »Und was, wenn mich das nicht interessiert?« Mein gesamter Körper war angespannt, auch wenn ich mich möglichst lässig gab.
»Dann müssen wir dich festnehmen.«
Ich lachte auf, ging einen weiteren Schritt in ihre Richtung.
»Mädchen, mach, dass du wegkommst«, sagte der andere sichtlich genervt. »Ich habe keinen Bock – «
Innerhalb eines Sekundenbruchteils stürzte ich nach vorne, stieß Jonas so heftig an, dass er rückwärts stolperte. Dann drehte ich mich abrupt um und lief den Gang zurück.
»Hey!«
Ich vernahm deutlich ihre Schritte. Sand knirschte unter meinen Füßen, als ich abbremste und in den kleinen Raum abbog. Noch bevor ich herumfuhr, vernahm ich einen dumpfen Laut, und dann, wie jemand auf den Boden aufschlug.
»Was zum Teu…«
Ich versetzte Jonas einen Tritt in die Magenkuhle, während er noch entsetzt auf seinen zu Boden gegangenen Freund starrte. Keuchend beugte er sich vornüber, die Hände auf den Bauch gepresst. In diesem Moment ließ Lydia den Felsbrocken abermals durch die Luft sausen. Er kollidierte mit dem Kopf des jungen Mannes und ließ ihn benommen auf seinem Freund zusammenbrechen.
»Das war ja fast zu leicht. Denen müssen echt langsam die Leute ausgehen, wenn die solche Pfeifen als Wachen aufstellen«, sagte Lydia und lachte auf.
»Scheint fast so.«
Gemeinsam zogen wir die beiden leblosen Körper in die hinterste Ecke der kleinen Höhle. Ich störte mich nicht an dem Rinnsal Blut, das aus den Kopfwunden sickerte und den Boden tränkte. Alles in meinem Inneren fühlte sich kalt an, allein die Mission zählte. Lydia riss angestrengt ein paar lange Stoffbahnen aus ihrem übergroßen Kapuzenhemd, mit denen wir den beiden provisorische Knebel und Fesseln verpassten.
»Das hält vermutlich nicht lange, wenn die beiden Jungs wach werden«, meinte ich, während ich den Knoten um die Handgelenke des Gardisten ohne Namen noch enger zog.
»Wahrscheinlich nicht, also lass uns schnell machen.«
Eilig liefen wir den Flur hinauf, folgten dem Weg weiter nach rechts. Der schmale Gang öffnete sich bald zu einer riesigen Höhle, in der reges Treiben herrschte. Es gelang uns gerade noch, uns hinter einem Felsgebilde zu verbergen, bevor wir entdeckt wurden. Der Eingang befand sich auf einer Erhöhung, die wie ein Balkon den eigentlichen Raum überragte. Auf der linken Seite war eine primitive Treppe in den Fels gehauen. Wir befanden uns etwa vier Meter von diesem Abgang entfernt, am Boden hockend. Von dem unteren Geschehen vernahmen wir lediglich die Geräuschkulisse, die von den Höhlenwänden zurückgeworfen wurde.
»Verdammt«, murmelte ich.
Wir würden es niemals bis nach unten schaffen, ohne von irgendwem entdeckt zu werden. Als ich mich zu Lydia umdrehte, grinste sie mich breit an.
»Was …?«
Sie zog sich die Kapuze tief in die Stirn. »Wenn ich eines gelernt habe in meiner Zeit in der Felsenstadt, dann das: Dreistigkeit siegt.« Mit diesen Worten richtete sie sich auf, und bevor ich etwas sagen konnte, schritt sie auf die Felsentreppe zu. Ich schnappte nach Luft.
»Lydia!«, flüsterte ich gehetzt. Doch statt einer Antwort bedeutete sie mir mit einer hektischen Geste, ihr zu folgen. Zögerlich richtete ich mich auf und tat, was sie von mir verlangte. Als ich neben ihr die Treppe hinunterlief, musterte ich sie von der Seite.
»Was soll das?«, flüsterte ich und starrte gebannt auf das Ende der Treppe. Niemand schaute in unsere Richtung. Es herrschte Lärm; Waffen knallten in Übungskämpfen gegeneinander, Rufe erklangen und die lauten Gesprächen ergaben ein Raunen. Die Mitte der etwa fünfzig Quadratmeter großen Höhle bildete ein Zelt aus Leinenstoff. Es erinnerte mich an die frühen Behausungen der Kristallstadt; zusammengenähte Leinenkleidung, die weitläufige Zeltplanen bildete. An den Wänden waren halbrunde Käfige fest im Boden verankert, die aus geflochtenen Lianen bestanden. Menschen saßen oder lagen darin, während um sie herum Gardisten die Freifläche vor dem großen Zelt bevölkerten. Vereinzelt liefen einige Leute in ähnlicher Kleidung wie unserer zwischen den Männern hindurch. Sie trugen Krüge, aus denen Wasser schwappte, oder Stapel mit Schalen. Waffen, die ich aus meiner Zeit in der Arena kannte – Schlagstöcke und Jagdmesser –, waren in entsprechenden Halterungen untergebracht oder lagen auf dem Boden. Als wir den Fuß der Treppe erreichten, blickte ich mich unruhig um. Einige fragende Blicke streiften uns, aber keiner blieb lange an uns hängen.
»Mach es mir einfach nach«, raunte Lydia und griff nach einem Stapel Kampfstöcke. Wie selbstverständlich trug sie die Waffen über den Platz. Ich griff eilig die Stöcke, die sie liegengelassen hatte, und folgte ihr. Zielstrebig ging sie in Richtung des großen Zeltes. Niemand hielt uns auf, keiner fragte uns, was wir vorhatten. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Kurz vor dem Eingang blieb Lydia stehen und drehte sich halb zu mir um. »Jetzt wollen wir mal sehen, was da drinnen los ist.«
Bevor ich sie aufhalten konnte, stieß sie den Vorhang beiseite und betrat das Zeltinnere. Mir blieb keine andere Möglichkeit, als ihr zu folgen.
»Was ist denn hier los?«
Die schnarrende Stimme grub sich in mein Bewusstsein und weckte quälende Erinnerungen.
»Wir sollten die Kampfstöcke hierherbringen«, sagte Lydia und klang dabei so, als bestünde gar kein Zweifel an dieser Aussage. Ich stand halb verborgen hinter ihr, dennoch sah ich ihn, als er in unsere Richtung rauschte. Die große Hakennase, darunter schmale Lippen und diese eindringlichen Augen. Wut pochte durch meinen Körper, als ich daran dachte, was Jordan mir alles angetan hatte.
»Was für ein Schwachsinn, was sollen wir denn hier drinnen mit den Dingern?«
Er hatte mir meine kleine Schwester genommen, den Mittelpunkt meines Lebens.
»Wer hat euch das denn gesagt?«
»Ähm … sein Name war …?«
Wegen ihm waren Gerrits Eltern gestorben und ich hatte meinen besten Freund endgültig verloren.
»Das kann ja wohl alles nicht wahr sein?! Nimm gefälligst die Kapuze ab, wenn du mit mir sprichst!«
Er hatte Kandras getötet, den Mann, der in so kurzer Zeit zu einem Vater für mich geworden war.
»Hast du eine Ahnung, was das hier soll?«
Dieser Mensch hatte unzählige Leben auf dem Gewissen.
»Was ist denn hier – «
Als ich nach vorne stürzte, folgte ich keinem klaren Gedanken. Es war vielmehr ein Instinkt oder tief manifestierter Hass. Im selben Moment, in dem die Stöcke auf dem Boden aufkamen, kollidierte mein Körper mit dem von Jordan. Er schrie auf und fiel hintenüber. Als er auf den Boden traf, entkam seinen Lippen ein japsender Laut. Meine Faust prallte gegen sein Kinn, traf seine Nase und die Augen. Immer wieder. Jemand zerrte mich an den Armen zurück, doch ich merkte es kaum, war wie von Sinnen. Jordan fixierte mich fassungslos. Blut lief aus seiner Nase.
»Na, wen haben wir da? Du bist ja kaum wiederzuerkennen, Sonnenmädchen.« Noch eine Stimme aus meiner Vergangenheit, mit der ich keine guten Erinnerungen verband. Ich blickte auf. Aus dem Schatten des Zelteingangs tauchte ein roter Lockenschopf auf. Die vollen Lippen teilten sich zu einem breiten Grinsen. »Irgendwie habe ich dich erwartet.«