***

 

 

 

Angewidert starrte ich auf das mintfarbene Tablett, auf dem zwei dieser undefinierbaren Scheiben und der Becher mit der orangenen Flüssigkeit lagen. Ich griff nach dem ersten braunen Ding und biss ab. Mit jedem Kauen hatte ich das Gefühl, dass der klebrige Brei in meinem Mund zäher wurde. Er ließ sich nur mit Mühe hinunterschlucken.

In dieser Nacht hatte ich kaum Schlaf gefunden. Die Nachricht von Gerrit hatte dafür gesorgt, dass ich mich unruhig von rechts nach links gewälzt hatte. Noch immer wusste ich nicht, was diese Oase sein sollte, bei der er mich treffen wollte. Ganz abgesehen von den Tausenden anderen Fragen, die mir seit der Botschaft durch den Kopf gingen.

»Guten Morgen, das war eine Aufregung gestern, was? Hattest du auch solche Angst? Also es passiert ja nicht oft, dass überhaupt mal der Alarm losgeht. Aber dann auch noch diese Ausgangssperre! Oh, was ist mit deiner Hand? Hast du dich verletzt? Ist es schlimm? Ich hoffe nicht.«

Juli. Sie ließ sich hastig gegenüber von mir nieder.

»Weißt du, was der Grund für den Alarm gewesen sein könnte? Der Code steht ja für einen Einsatz der Grenzwächter, aber was genau passiert ist, verrät einem keiner. Ich bin echt nervös deswegen. Meine Nachbarin meinte, ich soll mich nicht so aufregen, aber das ist viel leichter gesagt als getan, meinst du nicht?«

»Hallo Juli«, sagte ich und atmete tief durch. Langsam gewöhnte ich mich daran, dass sie die Fragen, die sie stellte, entweder selbst beantwortete oder unerwidert im Raum stehen ließ. Ich hatte dieses schnell sprechende Mädchen nur bedingt vermisst. Bereits jetzt spürte ich einen pochenden Schmerz hinter meinen Schläfen. »Nein, ich habe keine Ahnung, was passiert ist.«

»Schade. Meine eine Kollegin meinte, dass vermutlich nur wieder einer der Leute weggekommen ist. Weißt du? Die, die sie suchen. Dass die mit diesem Typen mitgegangen sind, kann ich immer noch nicht verstehen. Also ich meine, da verspricht der denen, er bringt sie echt dahin, wo sie endlich die Wahrheit erfahren, und die glauben dem das einfach. Wie hieß der? Dave?«

Die Schnelligkeit, mit der Juli die Worte aussprach, war nicht das einzig Auffällige, sondern auch mit welcher Unbefangenheit sie die Informationen ausspuckte. Ich brauchte einen Augenblick, bis ich das Gesagte in meinem Kopf sortiert hatte, als sie schon wieder den Mund öffnete.

»Aber wenn du mich fragst …«

»Sprichst du von den Fluchtversuchen?!«

»Oh … ich …« Juli errötete und ihre spitze Nase zuckte. »Also ich meine, das sind ja alles nur Gerüchte. Ich hab ja keine Ahnung eigentlich.«

»Erzähl mir davon«, bat ich und versuchte unverfänglich zu lächeln. Juli blickte sich um und beugte sich dann zu mir herüber. »Man sagt, dass es mehr gibt als Sektor 1. Dass man da draußen richtig leben kann und wir hier drinnen nicht mehr eingesperrt sein müssten und …«

Jemand ließ sich an dem Tisch neben uns nieder; ein dunkelhäutiger Mann und eine Frau mit blassblonden, langen Haaren. Sie schenkten uns keine Aufmerksamkeit, aber Juli verstummte, blickte starr auf ihr Tablett

»Juli?«

»Ich … Ist ja auch egal.« Sie biss in eine Scheibe ihrer Nahrungsmittelration und schwieg. Ich hob beide Augenbrauen. Der dunkelhäutige Mann neben uns lachte ausgelassen, während die Frau ihm etwas erzählte. Für mich war es stets komisch und schön zugleich, jemanden wie Lydia unweit von mir sitzen zu haben. Es könnte alles so einfach sein. Einen Moment wünschte ich, sie wäre bei mir, um zu sehen, was ich sah.

»Und dieser Dave sagt, er würde die Leute da hinbringen?«, flüsterte ich und fügte das, was Juli gesagt hatte, mit den Informationen aus meinem Lauschangriff zusammen. Alles passte. Puzzleteil für Puzzleteil. Nun musste ich nur noch den Grund erfahren. Julis Gesicht nahm einen beinahe gequälten Ausdruck an. Immer wieder blickte sie zu dem Paar neben uns.

»Weiß du, ich habe schon oft Ärger bekommen, weil ich schneller rede, als ich denke. Und ich glaube, das stimmt wirklich. Es kommt einfach so aus mir raus, auch wenn ich das eigentlich gar nicht will. Vergiss, was ich gesagt habe, ja?« Sie starrte auf das Tablett vor sich. Meine Chance war verstrichen. Hätten die beiden sich nur ein paar Minuten später neben uns gesetzt, hätte ich vielleicht erfahren, warum die Leute so erpicht darauf waren, das Centro zu verlassen.

»Juli, weißt du, wo ich die Oase finde?«

Sie schaute auf. »Wieso? Willst du dahin?« Der Größe ihrer Augen nach zu urteilen, schien sie exakt zu wissen, was Gerrit in seiner Nachricht gemeint hatte.

Ich versuchte mir die Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Ja, genau. Wo ist das?«

Juli wirkte irritiert. »Also da … da kommt man nicht so einfach rein. Das ist ein Tanzclub im Intranet. Aber soweit ich weiß, haben da nur Führungsanwärter Zutritt und diejenigen, die auf der Gästeliste stehen.«

»Führungsanwärter?«

Juli verdrehte die Augen. »Ja? Hallo? Georgina? Die Leute mit den goldenen Knöpfen? Die Anwärter auf Führungspositionen?« Sie blickte mich an, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen.

»Entschuldige. Natürlich. Ich bin noch etwas verwirrt wegen der Sache gestern«, sagte ich schnell und Julis Gesichtsausdruck entspannte sich.

»Das kann ich verstehen. Mich nimmt das auch immer noch mit. Aber trotzdem solltest du dir die Idee mit der Oase aus dem Kopf schlagen. Da lassen sie niemanden rein. Echt nicht.«

»Hm.« Ich griff widerwillig nach der zweiten Scheibe meiner Nahrungseinheit.

»Mich wundert, dass sie überhaupt hier mit uns essen. Ich hab mal gehört, sie würden in Sektor 1c wohnen und in Sektor 1b arbeiten. Total irre! Ich war noch nie da! Du?« Julis Wangen röteten sich.

Ich nahm den Becher in die Hand. Der Geruch verriet, dass mich ein ähnliches Geschmackserlebnis wie die Male zuvor erwartete. Eilig setzte ich den Trinkbecher an und stürzte die dickflüssige Substanz herunter. Ich stellte irritiert fest, dass sie dieses Mal etwas süßer schmeckte.

»Besser als gestern, oder?«

»Ja«, entgegnete ich überrascht.

»Es passt sich immer den aktuellen Bedürfnissen an, die dein Körper hat. Eine Feinkalibrierung in den Automaten. Meine Kollegen und ich haben sie so konstruiert, dass sie sich genau den Daten aus den täglichen Scans anpassen.«

»Tägliche Scans?« Eigentlich war ich mir ziemlich sicher, dass ich die medizinische Überwachung abgeschaltet hatte.

»Natürlich. Die Werte aus den nächtlichen Messungen. Also die genauen Daten sind natürlich streng geheim. Ich weiß davon nix und die anderen auch nicht. Da brauchst du dir keine Sorgen machen. Und selbst wenn, dürften wir natürlich nicht drüber sprechen …«

»Ich habe die medizinischen Scans abgeschaltet«, sagte ich und erntete dafür einen Blick aus entsetzten Augen.

»Wieso?«

»Weil …« Ich verfluchte mich selbst für die unbedachten Worte. »Weil ich mich im Moment ohnehin ständig unter medizinischer Kontrolle befinde.«

Julis Stirn legte sich in Falten.

»Wie komme ich denn eigentlich zu dieser Oase?«, fragte ich schnell, um das Thema zu wechseln.

»Du willst wirklich … also ich meine …?«

»Ja, klar.«

»Darf ich dich hinbringen?« Julis Augen glänzten. »Also ich will dich nicht bedrängen. Aber wenn du da wirklich reindarfst, vielleicht kann ich dann auch …?« Ihre Wangen liefen feuerrot an.

»Also ich weiß nicht.«

»Ich verspreche, du wirst mich gar nicht bemerken, denn ich kann echt ganz still sein. Dann bin ich wie unsichtbar, du siehst mich gar nicht. Aber wenn ich nur einen Blick in die Oase werfen könnte. Das wäre so … Das würde mir keiner glauben, wenn ich das meinen Kollegen erzähle. Aber die würden mir schon nicht glauben, dass du da reinkommst.«

»Juli, du darfst aber mit niemandem darüber sprechen, hörst du?«

»Wieso?« Wieder blickten mich diese großen Augen an. Ich verfluchte mich selbst dafür, ihr überhaupt davon erzählt zu haben.

»Weil das nicht jeder wissen sollte. Wie du schon gesagt hast, man kommt da nicht so einfach rein.«

Juli nickte langsam, ihr Mund stand offen. »Nimmst du mich mit?«, flüsterte sie.

Ich schnaubte. »Ja, meinetwegen. Aber ich kann nicht versprechen, dass das klappt.«

»Supii«, quietschte Juli plötzlich und klatschte dabei mehrmals in die Hände. Ich fiel etwas in mir zusammen und blickte mich um. Einige neugierige Blicke waren auf uns gerichtet. Was hatte ich mir da nur eingebrockt?

Centro 03 - Das Ende
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