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Ich fuhr herum und schlug zu. Meine Faust prallte gezielt gegen den Kehlkopf des stinkenden Mannes. Er riss die Augen weit auf und gab einen gurgelnden Laut von sich, als er in die Knie ging. Die Machete landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Reflexartig trat ich zu und prallte seitlich auf Höhe des Ohres gegen seinen Kopf. Es knackte, als die Knochen seiner Halswirbelsäule brachen. Der junge Mann landete kraftleer zu meinen Füßen. Schwer atmend starrte ich auf den leblosen Körper im Sand. Für einen Sekundenbruchteil holte mich eine Erinnerung ein. Mariel auf dem Arenaboden, durch meine Hände gestorben. Wie lange war das jetzt her? Beinahe ein Jahr? Doch in diesem Moment machte es mir nichts aus, dass ich gerade einen Menschen getötet hatte. Ich verspürte nichts als Leere.
»Kay!«
Ich zuckte zusammen. Lydias Stimme holte mich zurück in die Realität. Ich fuhr herum und sah, dass sie in einen erbitterten Kampf mit dem Jagdmesser-Mann vertieft war. Gekonnt wich sie der Klinge aus, die wieder und wieder durch die Luft sauste. Der Gardist war schnell und geschickt, sodass die beiden auf Augenhöhe kämpften. Ich wollte zu ihr gehen, als ihr Blick meinen traf.
»Nein! Hilf Slow!«
Viel zu spät erkannte ich seine bedrohliche Lage. Ilja lag auf ihm und drückte entschlossen ein Messer in Richtung von Slows Kehle. Im Laufen nahm ich die Machete vom Boden auf. Bevor ich über mein Handeln nachdenken konnte, holte ich aus und rammte die Waffe in Iljas Rückseite. Er schrie auf. Als ich die Klinge wieder herauszog, klaffte seine Haut auseinander. Schnell füllte Blut den rosafarbenen Spalt im Fleisch. Mein Opfer krümmte sich zusammen und rutschte dabei von Slow hinunter. Ilja stieß schmerzerfüllte Laute aus, Blut tränkte den Boden. Als ich ausholte, vernahm ich deutlich eine zarte Stimme in meinem Inneren, einen leisen Protest, doch es war zu spät. Die Wucht des Aufpralls ließ die Klinge federleicht durch Haut, Knochen und Sehnen gleiten. Blut pulsierte aus seinem Körper, als wäre noch Leben in ihm. Die Machete fiel aus meinen tauben Händen und landete auf dem Boden. Ich starrte entsetzt auf den abgetrennten Kopf, forschte in meinem Inneren verzweifelt nach irgendwelchen Gefühlen, doch da war nichts.
»Kay, alles klar?«
Ich wollte ein Nein herausschreien, doch ich konnte Slow nur fassungslos anstarren. Vielleicht lag meine innere Kälte an diesem Ort, wo ich das erste Mal offensiv mit Gewalt in Kontakt gekommen war.
»Kay!«
»Ja …« Meine Stimme war heiser.
»Puh, ich hatte fast vergessen, wie viel Spaß das macht.« Lydia trat neben mich und stieß ein befreites Lachen aus. Sie klang atemlos. Dann blickte sie auf das Gemetzel zu meinen Füßen. »Oh.«
Meine Kehle zog sich zu. Ich spürte, wie das Blut von Ilja meine Schuhe tränkte.
»Gründlich«, murmelte Lydia und räusperte sich. »Kay, alles klar?«
»Ja«, antwortete ich mechanisch. Ich trat einen Schritt zurück, wischte meine blutigen Schuhsohlen im Sand ab. Slow und Lydia musterten mich eingehend.
»Was?«
Slow senkte den Blick und Lydia strich sich durchs Gesicht.
»Nichts«, sagte sie, mir entging jedoch nicht, wie sie mich durchleuchtete. Röchelnder Husten erklang und erregte unsere Aufmerksamkeit. Sim wand sich am Boden, öffnete flackernd die Augen. Sofort eilte Slow los und half ihm auf.
»Ruhig atmen, Mann. Das wird gleich besser.«
Sim japste noch immer nach Luft.
»Kay, gib mir den Krug, der da steht!«, rief Slow und deutete auf einen kleinen Tisch, den ich bisher noch nicht bemerkt hatte. In einer Schale lag ein Knust altes Brot, daneben stand ein Tonkrug. Ich griff danach und trug ihn zu den beiden. Wasser schwappte über den Rand. Slow führte das Gefäß an die Lippen von Sim, der noch immer röchelnd nach Luft schnappte.
»Trink! Und dann ruhig ein-und ausatmen. Die Wirkung lässt gleich nach.«
Welche Wirkung? Ich verstand gar nichts mehr. Besorgt beobachtete ich, wie Sim gierig einige Schlucke nahm. Sein Brustkorb hob und senkte sich krampfartig.
»Slow, was geht hier vor?«, rief ich.
Er antwortete nicht, sondern redete stattdessen beruhigend auf seinen Freund ein, der noch immer sichtlich nach Luft rang. Ich tauschte mit Lydia einen schnellen Blick, doch die zuckte nur mit den Schultern. Sims Atem wurde ruhiger. Er hustete noch ein paar Mal, bis seine Augen wieder klarer wurden. Dann sah er sich fragend um. »Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, gerade hier aufzuwachen.«
Slow reichte Sim die Hand, als er aufstand. Irritiert musterte ich ihn. Eben war er noch fast tot gewesen, jetzt stand er etwa drei Meter von mir entfernt. Zugegeben etwas wackelig, aber doch wesentlich stabiler als bei Sascha im Zelt.
»Die Umstände sind jetzt andere«, sagte Slow und deutete in Lydias und meine Richtung. Sim sah zu uns herüber und tatsächlich war es so, als würde er mich zum ersten Mal wahrnehmen. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn wieder, schüttelte den Kopf. »Kay?«
Ich konnte bloß nach Luft schnappen. Sim tat einen unsicheren Schritt. Einem inneren Impuls folgend, wich ich zurück. Schmerz verzerrte sein Gesicht. Eine offene Entschuldigung stand in seinen Augen, doch sie wollte nicht zu mir durchdringen. Welche Gründe sein Verhalten von damals auch haben mochte, da stand so viel zwischen uns. Ich konnte nicht einfach vergessen, was …
»Hallo?!« Die zarte Mädchenstimme klang heiser. »Kann ich bitte etwas zu trinken bekommen?«
Mein Herz setzte mehrere Schläge aus. Langsam drehte ich mich um, ging einige Schritte in Richtung des kreisrunden Lochs im Boden.
»Hallo?!«
Ich presste mir die linke Hand vor den Mund und erstickte so den merkwürdigen Laut, der meinem Hals entkam. Kraftlos sackte ich vor dem Abgrund auf die Knie. Erinnerungen wurden in mir wach und ruckelten an dem labilen emotionalen Gerüst, das ich mit Mühe aufrecht hielt.
»Marcie.« Es war viel zu leise, als dass sie mich hören könnte.
»Achtung!« Unterbewusst registrierte ich, wie Slow neben mir eine Strickleiter über den Rand warf. Dann blieb es eine Weile still, nur das Geräusch, das die hölzernen Streben am Felsgestein verursachten, erklang.
»Hab keine Angst! Komm hoch!«, rief Slow. Ich blickte ihn ungläubig an. »Kay, sag etwas zu ihr!«
»Ich … Sie erkennt mich?«, fragte ich leise.
»Ja, sie fragt oft nach dir.« Auf Slows Gesicht erschien ein trauriges Lächeln. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.
»Marcie!« Ihr Name klang schrill und verlor sich in den schwarzen Tiefen unter mir.
»Lauter«, sagte Slow eindringlich.
Ich räusperte mich, versuchte das trockene Gefühl in meinem Mund zu ignorieren. »Marcie! Hier ist Kay!«
Wieder blieb es still in der Dunkelheit vor uns. Ich biss mir auf die Unterlippe, schüttelte den Kopf. Meine Hoffnung sank.
»Kay?« Es war nicht mehr als ein Wimmern. Der Schluchzer, der sich meiner Kehle entrang, klang merkwürdig fremd.
»Ja! Kletter die Leiter hoch, in Ordung?« Meine Worte klangen verzerrt und Tränen liefen mir über die Wangen. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie lange es her war, dass ich ihre Stimme vernommen hatte. Ein Knarzen ertönte, als die Strickleiter belastet wurde. Die Seile bewegten sich am Rand. Ich sah, dass sie stabil im Felsgestein befestigt waren.
»Kay, geh nicht weg!«, erklang es von unten.
Eine seltsame Mischung aus Lachen und Weinen entrang sich meinem Mund. »Nein, ich gehe nie mehr weg!«
Sie klang so jung, als wäre sie auf einmal wieder ganz klein. Mein gesamter Körper war angespannt, kribbelte bis in den letzten Winkel. Ich beugte mich über den Rand, starrte in die Finsternis.
»Du hast es fast geschafft!«, rief ich, ohne zu wissen, ob das auch der Wahrheit entsprach. Ich hatte einfach das starke Bedürfnis, etwas zu sagen. Und dann kam ein wirrer Haarschopf zum Vorschein. Als die bleichen Finger nach der letzten Leitersprosse griffen, fasste ich ihre Hände und zog sie über den Rand. Die grünen Augen, die mich aus dem verschmutzten Gesicht anstarrten, waren noch genau dieselben. Sie war blasser als in meiner Erinnerung, ihre Haare durcheinander und verfilzt.
»Kay?«, flüsterte sie und musterte mich ungläubig.
»Ja, ich bin es.« Ich schluchzte, konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Marcies Wangen waren eingefallen, ihr Körper kaum mehr als ein Knochengerüst, über den sich fahle Haut spannte. Damals in Sektor 4 war sie schon dünn gewesen, aber jetzt war sie kaum noch vorhanden. Wir starrten uns an, mein Blick verschwamm immer wieder. Dann legten sich zwei dürre Arme um meinen Hals, klammerten sich an mich. Als ich meine Schwester an mich drückte, fürchtete ich kurz, sie zu zerbrechen, so zart war sie. Marcie begann zu weinen und mein Herz brach in tausend kleine Scherben. Auf einmal schämte ich mich abgrundtief, sie so lange hiergelassen zu haben.
»Es tut mir so leid«, wisperte ich, streichelte immer wieder ihren Kopf und küsste sie auf den Scheitel. Ich weiß nicht, wie lange wir so dasaßen, doch hätte Marcie sich nicht von mir gelöst, hätte ich sie wohl niemals losgelassen. Sie blickte mich aus tränenverschleierten Augen an. Ihre Unterlippe zitterte. »Kay? Wo sind Mama und Papa?«
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was sie da sagte, dennoch ergab es keinen Sinn. »Was?«
»Geht es Mama gut?« Marcie schluchzte leise. Meine Haut fühlte sich taub an, ich erstarrte.
»Marcie, Mama ist doch …«
Jemand berührte mich am Arm. Sim. »Kay, nein. Lass es.«
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er neben mir in die Hocke gegangen war. Voll Unverständnis starrte ich ihn an.
»Ich vermisse sie so«, wimmerte Marcie und begann wieder leise zu weinen.
»Deiner Mutter geht es gut, Marcie. Wir gehen jetzt zu ihr, nicht wahr, Kay?«, sagte Sim mit ruhiger Stimme. Der hoffnungsvolle Blick meiner kleinen Schwester zerriss mich innerlich.
»Ja«, brachte ich hervor. »Es geht ihr gut.«
Marcie wirkte nur teilweise überzeugt, doch sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Sim hat mit mir gespielt, wenn es da unten langweilig wurde. Er hat mir immer wieder gesagt, dass du kommst, um uns zu retten.«
Ich versuchte mich an einem Lächeln, doch meine Mundwinkel zuckten nur.
»Siehst du, ich hatte recht und habe nicht gelogen. Wir gehen jetzt nach Hause«, erklärte Sim mit der Zuversicht, die eigentlich aus meinem Mund hätte kommen sollen. Marcie lachte vergnügt, die Tränen schienen wie vergessen.
Als Sim sich langsam aufrichtete, blickte er mich auffordernd an. Ich kam seiner stummen Bitte nach und tat es ihm gleich. Meine Beine fühlten sich an wie Gummi. Sofort griff Marcie nach meiner Hand und schwang den Arm spielerisch hin und her. Während ihr Körper weiterhin einem Teenager gehörte, stand in den Augen deutlich das Kleinkind, das zu mir sprach.
»Warum bist du denn so traurig? Wir gehen doch jetzt nach Hause?«
Erst jetzt spürte ich, dass ich noch immer weinte. Fahrig wischte ich mir durchs Gesicht. Dieses Mal gelang mir hoffentlich ein halbwegs glaubhaftes Lächeln. »Das ist, weil ich mich so freue, dich wiederzusehen.«
Ich drückte ihre Hand und sie lachte vergnügt auf.
»Marcie, hast du noch Durst?«, fragte Slow. Er stand in einiger Entfernung und hielt den Wasserkrug hoch. Sie nickte eifrig, löste sich von meiner Hand und lief zu Slow.
»Was ist mit ihr?«, wisperte ich.
»Die Minibots haben ganz schön Schaden angerichtet«, murmelte Sim.
»Aber das ist alles Wahnsinn. Meine Eltern sind früh gestorben, sie kann sich gar nicht an sie erinnern.«
»Ich glaube, dass Marcies Gehirn so stark zerstört ist, dass sich die kläglichen Erinnerungsfetzen zu einem vollkommen neuen Bild geformt haben. In ihrer Welt ist sie sieben Jahre alt und lebt mit ihren Eltern und ihrer Schwester Kay in Sektor 4 des Centro. Sie haben genug Essen, Trinken und jede Menge Spielzeug. Marcie glaubt, sie ist hier gelandet, weil sie weggelaufen ist. Kommt dir davon irgendwas bekannt vor?«
Ich schnaubte. »Rein gar nichts.«
»Das dachte ich mir. Und vertrau mir, ich habe schon probiert, sie von der Wirklichkeit zu überzeugen, das hat übel geendet. Sie drehte schon durch, wenn ich ihr erklärte, wie alt sie tatsächlich ist. Sie kann das nicht verarbeiten.«
Ich fuhr mir durch das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Das kann doch alles nicht sein.«
»Wir wollten heute abhauen. Kay, ich wollte sie hier rausbringen!« Sim blickte mich eindringlich an. Ich wich ihm aus.
Marcie kam zu uns, umarmte mich abermals. Mein Herz wurde schwer vor Trauer.
»Kay, meinst du, Mama und Papa sind böse auf mich? Weil ich weggelaufen bin?« Ihre Augen wurden groß und füllten sich wieder mit Tränen.
Ich schluckte. »Nein, Marcie. Sie vermissen dich und freuen sich schon, wenn wir wieder daheim sind.«
Augenblicklich hellte sich ihre Miene auf, und ich hoffte, dass man mir meinen Schmerz nicht ansah.