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»Wie sollen wir da rankommen?«, zischte Sim. »Oder glaubt ihr ernsthaft, die lassen uns einfach so da runterklettern?«
Slow vermutete die Bombe in der Konstruktion unterhalb der Bühnenplattform. Überall in diesem Bereich waren Grenzwächter positioniert, die ihre Blicke scharf über die Menge sandten.
»Wir müssen so oder so in die Richtung. In 10 Minuten fliegt da vorne alles in die Luft und reißt ein Loch in die Filterfolie. Dann hätten wir uns das Entschärfen der anderen Bomben sparen können«, sagte Slow und begann sich vorneweg zwischen den Menschen hindurchzuschieben. Ich folgte ihm, blickte auf die Bühne.
»… doch kommen wir zu dem Grund, warum wir heute hier sind. Es widerspricht natürlich allem, was wir uns bis hierhin aufgebaut haben, jetzt einen Rückzieher zu machen, doch die Umstände zwingen uns dazu. Wie Sie inzwischen wissen, befindet sich Centro II zurzeit auf der Sonnenseite. Nach aktuellen Berechnungen wird dieser Zustand auch noch mindestens zwanzig Jahre anhalten, was bedeutet, dass wir uns etwa auf der Hälfte der Sonnenperiode finden. Und damit an dem Punkt, der von der Planetenkrümmung her der Sonne am nächsten ist. Alles Dinge, die von uns einkalkuliert wurden und denen unsere Station ohne Probleme standhalten sollte. Doch worauf wir keinen Einfluss haben und was wir nicht erahnen konnten, sind die ausgeprägten Sonneneruptionen. Eben diese Schwierigkeiten bescheren uns einen Temperaturanstieg, der den Centro-Komplex an seine Grenzen bringt. Wir beobachten dies bereits seit etwa zwölf Monaten. Innerhalb der nächsten fünf Wochen wird sich die Lage drastisch zuspitzen und ein Leben in der Station Centro II unmöglich machen.« Slotan machte eine Pause, ließ die Informationen wirken. Ein aufgebrachtes Raunen ging durch die Menge, der Duft von Angst wurde so intensiv, dass mir leicht übel wurde. »Wir haben natürlich alle Möglichkeiten in Betracht gezogen. Das Umsiedeln der Station war unser erstes Ansinnen, doch wir mussten es schnell wieder verwerfen. Selbst wenn wir in Sektor 4 genügend Personal hätten, so wäre doch der Transport mit zu vielen Verlusten verbunden. Hinzu kommt der Materialmangel. Auch das Verstärken der Einrichtung scheidet aufgrund des drastischen Temperaturwachstums aus. Uns blieb letztendlich keine andere Möglichkeit, als die Evakuierung des Planeten Beta einzuleiten. Leider gelang uns dies nicht, solange wir nicht die richtigen Koordinaten hatten. Nachdem die Erde den Kontakt zu uns abgebrochen hatte, trafen wir jedoch gewisse Sicherheitsvorkehrungen, indem wir sämtliche Flugroutenplatinen vernichteten. Es war reiner Selbstschutz in der besonders sensiblen Phase nach der Besiedlung. Wir wollten verhindern, dass jemand aus Sehnsucht nach der Erde etwas Dummes tut. Ein Fehler, der uns jetzt einiges an Kraft und Zeit gekostet hat. Doch dank vereinter Kräfte gelang es uns schließlich, die Einzelteile in der Wüste zu finden und wieder zusammenzusetzen. So haben wir jetzt endlich die Daten, welche uns das Leben retten werden.«
Wieder ging ein Murmeln durch die Menge. Ich schob mich an einem hochgewachsenen Mann vorbei, der mich grob mit dem Ellbogen anstieß.
»Entgegen all unserer Prinzipien haben wir also zum Allgemeinwohl beschlossen, auf die Erde zurückzukehren. Es schmerzt, das Projekt »Beta« als gescheitert zu erklären, doch wir werden, sobald wir zurückgekehrt sind, weiter für unsere Rechte kämpfen! Vielleicht sogar abermals neu gestärkt zurückkehren! Unsere Forschungsergebnisse werden für uns sprechen!«
Jubel erklang; etwas verhalten, aber zumindest der Geruch von Angst flaute ab. Die Bühne befand sich nur noch wenige Meter entfernt. Tatsächlich waren um die gesamte Plattform Grenzwächter aufgestellt.
»Was jetzt?«, flüsterte Sim nah hinter mir, als Slow stehen blieb.
»Ich hab keine Ahnung«, murmelte ich und wich dem strengen Blick eines Grenzwächters aus. Uns trennten nicht einmal mehr anderthalb Meter.
»Aber ich.«
Meine Nackenhaare stellten sich auf, als ich die Stimme erkannte. Ich spürte deutlich, wie sich die Klinge in meinen Rücken bohrte.
»Sascha«, stieß Sim hervor.
»Nicht einen Ton, Bruderherz. Schön die Klappe halten und weiter geradeaus schauen, verstanden?«
»Ich hätte nicht gedacht, dass du so dämlich bist. In wenigen Minuten fliegt die Bühne in die Luft und du stehst in der ersten Reihe?«, knurrte Slow leise. Ein wütendes Grunzen erklang, und Slow zuckte zusammen.
»Das Kompliment gebe ich gerne zurück. Meint ihr ernsthaft, dass ich tatenlos dabei zusehe, wie ihr nach und nach meine explosiven Geschenke zerstört?«
»Sei nicht dämlich, Sascha, wenn du die Halle in die Luft jagst, gehen wir alle drauf!«, sagte Sim.
»Deswegen verschwinden wir jetzt auch hier. Rechts lang! Ganz brav und ohne Mätzchen zu machen.« Sie klang amüsiert und verströmte dabei einen süßlichen Triumphgeruch.
»Du wirst doch nicht zulassen, dass wir mitten in der Menge ein Gerangel veranstalten«, stieß Slow zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Ich warf ihm einen flüchtigen Seitenblick zu. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt.
»Warum ihr das nicht tun werdet, Slow? Weil ich jemanden habe, dem schlimme Dinge passieren, wenn ihr nicht spurt.«
Augenblicklich wurde meine Kehle eng, die Muskeln spannten sich bis in den letzten Winkel.
»Marcie«, flüsterte ich.
»Ganz genau, Sonnenmädchen. Und ich gehe stark davon aus, dass weder du noch einer deiner Freunde scharf darauf seid, dass dem Kerl mit der Brille oder deinem Schwesterlein etwas passiert?«
Keiner von uns antwortete.
»Los jetzt!«
Hilflose Wut pochte durch meinen Körper. Sascha lief neben mir her. Sie trug ebenfalls die weiße Kleidung aus Sektor 1. Wir hatten den Vorhang fast erreicht und uns denkbar weit von der Bühne entfernt. Wie lange hatten wir noch? Eine Minute? Fünf? Die Sorge um meine Schwester beherrschte meine Gedanken.
Uns begleiteten noch vier von Saschas Männern, die uns streng bewachten. Keiner ließ uns aus den Augen. Abermals dachte ich an das Messer, das in meiner Kleidung verborgen war. Niemand hatte uns durchsucht. Vielleicht hatten auch die anderen Waffen in ihrer Kleidung versteckt.
»Durch den Vorhang. Los!«
Ich warf Sascha einen wuterfüllten Blick zu, den sie mit einem Lachen quittierte. »Da kannst du dumm schauen, wie du möchtest. Wenn du dir noch mehr Zeit lässt, verliert dein Schwesterchen ein paar Finger.«
Ich schluckte trocken und schob mich zwischen den Stoffbahnen hindurch. Als Erstes sah ich Marcie, die im Klammergriff eines großen rothaarigen Mannes hilflos in meine Richtung blickte.
»Kay!«
Der Mann drückte ihr die Hand auf den Mund und erstickte jedes weitere Wort. Doc saß daneben am Boden, gefesselt.
»Lass sie los, du …«
»Na, na, na, Sonnenmädchen. Halt besser die Klappe, sonst schnitzt ihr Dan ein interessantes Muster ins Gesicht«, sagte Sascha mit einem breiten Grinsen. Ich schnaubte, schwieg jedoch.
»Verfluchte Scheiße«, flüsterte Lydia.
Ich folgte ihrem Blick. Auch Slow und Sim schienen sich wenig für Marcie zu interessieren, sondern für das, was hinter ihr lag. Obwohl meine Gabe in dem dämmrigen Licht perfekt funktionierte, hatte ich alles hinter meiner Schwester ausgeblendet. Noch nie hatte ich ähnliche Gefährte gesehen. Sie waren groß und aus einem weißen, glatten Material, das dem aus Sektor 1 glich. Ich fand keine Worte, um sie zu beschreiben, konnte mir jedoch denken, dass es die Shuttle sein mussten, die die Bewohner von Beta wegschaffen sollten.
»Sind sie nicht faszinierend?«, säuselte Sascha. »Wusstet ihr, dass sie nicht einmal zur Hälfte besetzt wären nach der Planung der verdammten Sonnenkinder?«
»Du wusstest, dass wir uns nicht auf der Erde befinden?«, stieß Slow atemlos hervor.
»Noch nicht lange«, antwortete Sascha knapp. »Die Spitze einer endlos langen Lügengeschichte, die jetzt ein Ende hat. Keiner wird diesen Planeten verlassen.«
»Das glaube ich nicht, junge Dame.«
Eine weitere Stimme, die dafür sorgte, dass sich sämtliche Nackenhaare bei mir aufstellten. In schlenderndem Schritt betrat Professor Freyer den Hangar. Das Raubtiergrinsen verzerrte seine Lippen.