Drei Jahre vorher

»Scheiße, Herb«, flüsterte Mike, »wir können nicht einfach da reinmarschieren. Wir haben nicht mal einen Durchsuchungsbefehl oder ’nen zwingenden Verdacht.«

»Der Kerl ist dort reingegangen, oder?«

»Schon. Aber ...«

»Und es ist ein Schlitzauge, oder? Würde ich zumindest sagen, dass der Kerl Schlitzaugen hatte wie Dschingis Khan und eine Haut so gelb wie meine Pisse am Morgen nach einem guten Fick.«

»Kann sein, Herb. Aber wir wissen doch nicht mal, ob etwas gegen ihn vorliegt.«

»Mann, Mike, wie dämlich bist du eigentlich? Er ist aus dem Bronze gekommen, oder nicht?«

»Ja, er ist aus dem Bronze gekommen.«

»Na bitte. Und wir beide wissen ja, was dort läuft. Welche Sorte Typen sich da rumtreibt, im Bronze. Und was die da treiben, um diese Uhrzeit. »

»Scheiße, Mann, das ist aber doch nicht unsere Baustelle. Wir können ja durchfunken, dass wir einen Verdächtigen dabei beobachtet haben, wie er ... Scheiße, Herb, ich weiß nicht mal, wobei wir ihn eigentlich beobachten. Der Typ ist vielleicht nur irgendein Hausmeister im Bronze, der nach Hause geht, um sich ›ne Mütze Schlaf zu gönnen.«

»Ein Hausmeister in einem Fünftausend-Dollar-Anzug? Mit einem Aktenkoffer? Denkst du, ich bin bescheuert?«

»Nein, Herb. Könnte schon was dran sein.«

»Könnte, einen Scheiß! Ich weiß, dass der Kerl was auf dem Kerbholz hat. Verrät mir meine Nase, und die hat mich noch nie im Stich gelassen.«

»Aber es ist trotzdem nicht unsere Zuständigkeit. Ich bin nur ein einfacher Streifenbulle, Mann ...«

»Und das wirst du auch ewig bleiben, du dämlicher Angsthase.« Herb spuckte aus. In dem Haus ging Licht an. »Schau dir das an, Mike, dreist wie Rotz, der Kerl.«

»Was meinst du, Herb?«

»Sieh dir doch nur diese Bude mal an. Der Kerl wohnt da bestimmt nicht. Da wohnt überhaupt keiner. Steht wahrscheinlich schon ewig leer. Und diese Wichser gehen einfach da rein, und setzen sich im Wohnzimmer auf den Fußboden und wickeln ihre Geschäfte ab.«

»Wieso glaubst du, dass die auf dem Fußboden sitzen, Herb?«

»Weil’s verdammte Schlitzaugen sind, Mike. Die sitzen immer auf dem Boden. Wir gehen jetzt jedenfalls da rein und nageln sie fest. Und danach kannst du in der Zentrale Bescheid sagen. Nachdem klar ist, wem sie diesen Fang hier zu verdanken haben, klar?«

»Scheiße, Herb, ich weiß nicht ...«

Herb erhob sich ächzend und trat aus dem Gebüsch, hinter dem sie gehockt und das Haus beobachtet hatten. Dann ging er auf das Haus zu.

»Scheiße!«, fluchte Mike und folgte ihm.

Herb ging zur Hintertür und bedeutete Mike mit einer Handbewegung, die Vordertür zu sichern.

»Wenn jemand anderer als ich da rauskommt, erschieß ihn!«, zischte er Mike zu, der noch einen Moment lang unschlüssig herumstand, dann aber seine Waffe zog und sich in den Schatten neben dem Eingang postierte. Als Herb die Hintertür erreicht hatte, drückte er sacht die Klinke herunter. Die Tür war nicht einmal abgeschlossen. Dreist wie Rotz, ohne Scheiß. Geräuschlos betrat er das Haus und folgte dem Licht, das aus dem Wohnzimmer durch die offene Tür schimmerte. Als er die Küche durchquerte, wäre er beinahe an einem Stuhl hängen geblieben, aber er bemerkte ihn im letzten Moment und ging drum herum. Dann zog er seine Waffe aus dem gut geölten Lederholster. Er lugte durch die Türöffnung in das Wohnzimmer. Das Licht stammte von einer Stehlampe, deren Schirm mit einem großen Tischtuch verhangen war. Die Chinesen saßen nicht auf dem Boden, sondern auf der Couch beziehungsweise auf einem Sessel. Der auf dem Sessel wandte ihm den Hinterkopf zu. Beide Möbelstücke waren mit weißen Decken verhangen wie die Stehlampe. Weiß wie das Zeug in den kleinen Plastiktüten im Koffer des Chinesen, der jetzt geöffnet auf dem Wohnzimmertisch lag. Herb grinste. Dann stürmte er, die Waffe im Anschlag, in das Zimmer.

»Okay, ihr Wichser, auf den Boden mit euch! Na los, auf den verdammten Boden!«

Er hatte damit gerechnet, dass sie vielleicht in das Innere ihrer Anzugjacken greifen würden oder einer sich vorbeugte, um vielleicht eine kleine Pistole aus seiner verdammten Socke zu ziehen. In dem Fall hätte er einfach drauflos schießen können. Sie saßen nah genug beieinander und waren keine drei Schritte von ihm entfernt. Herb war ein guter Schütze und hätte sie ausgeknipst, bevor auch nur ein Finger den Weg um den Abzug gefunden hätte.

Womit Herb nicht gerechnet hatte, war, dass plötzlich das Licht ausging. Das Bild der beiden Asiaten, welche die Arme in die Höhe gestreckt, auf der Couch saßen wie ein ertapptes Teenagerpärchen, brannte sich in seine Netzhaut ein. Er war so damit beschäftigt gewesen, auf ihre Hände zu starren, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass der Kerl auf der Couch seinen rechten Fuß auf das runde Gehäuse mit dem Druckknopf für die Lampe gestellt hatte. Es war eine ganz beiläufige Bewegung gewesen.

Herb schoss in die Richtung, in die seine Waffe zeigte. Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Luft und ein Blitz zuckte durch die Dunkelheit.

»Mike!«, brüllte Herb und ließ sich zur Seite fallen, »Scheiße, Mike! Ich brauch etwas Hilfe hier!«

Dann schoss er noch einmal und einer der Asiaten schrie auf.

Im Lichtblitz seines zweiten Schusses hatte Herb bemerkt, dass die beiden aufgesprungen und zur Vordertür unterwegs waren und es war ihm unbegreiflich, wie die beiden sich so schnell bewegen konnten. Herb schoss noch einmal und sah, dass der Kerl mit dem Koffer die Tür schon fast erreicht hatte, als diese aufflog und eine Gestalt hereinstürmte.

»Mike, diese verfluchten Japsen haben ...«

Ein weiterer Schuss bellte durch den Raum. Etwas riss Herbs Bein herum und für einen absurden Moment dachte er, an dem verdammten Lampenkabel hängengeblieben zu sein. Und dass das Ding ihn in den Knöchel gebissen hatte. Bevor er diesen surrealistischen Gedanken zu Ende denken konnte, knallte er hin, ein weiterer Schuss krachte, irgendetwas pfiff sirrend an seinem Ohr vorbei und schlug in die Dielenbretter neben seinem Kopf. Herb rollte sich zur Seite, versuchte, in die Deckung hinter dem Sofa zu gelangen, oder dorthin, wo er das Sofa vermutete. Jemand brüllte auf und dann krachten zwei weitere Schüsse, einer davon brachte das Brüllen zum Verstummen und dann war es Herb, der aus Leibeskräften brüllte. Die Kugel hatte ihn mitten ins Gesicht getroffen. Herbs Blase entleerte sich. Er war schon einen guten Meter zur Seite gerobbt, während er sich gleichzeitig in die Hose machte, als er begriff, dass er wider jede Vernunft noch lebte. Da, wo sein Auge gewesen war, bestand sein Gesicht nur noch aus Schmerzen und er spürte, dass etwas Längliches darin steckte, das nun aus seiner Augenhöhle herausragte und sich bei jeder Kopfbewegung mit bewegte. Ein Splitter, aus dem Tisch, in den die Kugel eingeschlagen war. Er lebte. Herb robbte weiter. Tastete sich voran, brüllend, kriechend, halb wahnsinnig vor Angst, während irgendwo jenseits der Couch weitere Schüsse krachten und Blitze zuckten wie das Stroboskop in der irrsten Diskothek der Welt.

Seine Finger ertasteten den Knopf des Schalters und halb von Sinnen drückte er drauf. An Deckung dachte er nicht. Herb dachte an überhaupt nichts mehr. Er wollte nur, mehr als er jemals zuvor irgendetwas gewollt hatte, dass das Licht zurückkam.

Dann kam das Licht zurück.

Herb lag da, reglos, willenlos, und starte die Decke an. Atmete die nach Pulver und Schweiß und Fäulnis stinkende Luft ein, und heulte wie ein kleiner Junge. Tränen rannen aus seinem rechten Auge. Dickes, dunkles Blut aus dem linken, in dem der Splitter steckte.

Das Schießen hatte aufgehört und als es nach ein paar Minuten nicht wieder einsetzte, richtete Herb sich vorsichtig auf. Als er seinen Oberkörper an der Armlehne des Sofas in eine halbwegs aufrechte Position gebracht hatte, sah er an sich herab. Sah das Blut an seiner rechten Hand, den großen, dunklen Fleck vorn an seiner Uniformhose und dann fiel sein Blick auf seinen Fuß. Oder das, was davon, von wenigen Sehnen gehalten, noch an seinem Bein hing. Er sah schnell wieder weg und schaffte es, sich nicht auf der Stelle zu übergeben. Dann kroch er, schwitzend vor Anstrengung und Schmerzen, um die Couch herum. Dort lag Mike.

Mike fehlte der größte Teil seines Hinterkopfes. Der Inhalt seines Kopfes, maßgeblich Hirnmasse und jede Menge Blut mit kleinen Knochensplittern darin, befand sich nun teilweise auf der Wand hinter der Leiche und teils auf dem schmutzigen Teppich davor. Von Mikes Gesicht fehlte der größte Teil der Stirn – alles oberhalb der Augenbrauen hatte sich in einen klebrigen Brei verwandelt, der mit ein paar Haarbüscheln garniert war. Entsetzt wandte Herb den Blick ab.

Die Chinesen waren verschwunden. Der Koffer war verschwunden.

Mike war tot.

Herb sank neben Mikes Leichnam zu Boden und krümmte sich zusammen. Aber dann bemerkte er das kleine Säckchen aus schwarzem Samt, dass inmitten der hingeklatschten Masse lag, die einst Mikes Hinterkopf samt Inhalt gewesen war. Auf dem Säckchen war etwas gestickt, ein goldenes Schriftzeichen. Chinesisch. Herb kroch ein wenig weiter und nahm das Säckchen an sich, ohne hineinzusehen. Dann steckte er es in die Innentasche seiner Uniformjacke. Er hörte die Sirenen draußen. Dann wurde er ohnmächtig.

Um die Rente zu bekommen, musste Herb lügen. Er wurde vom Dienst suspendiert, aber sie machten offiziell eine ehrenhafte Sache draus, weil sonst ein wahrer Scheiße-Tsunami über den Köpfen der Abteilung zusammengeschlagen wäre. Harper, dieses fette Arschloch, tauchte im Krankenhaus auf, sobald Herb aus der Narkose erwachte und erklärte ihm, wie die Story abgelaufen war. Der Verdächtige und sein Kumpan hatten aus heiterem Himmel das Feuer auf die beiden Cops eröffnet und sich dann im Haus verschanzt, wohin ihnen Mike und Herb gefolgt waren. Harper hielt ihm ein Album mit ein paar Chinesen hin und als sein fetter Daumen auf einen ganz bestimmten eine Winzigkeit länger als bei den anderen hängenblieb, nuschelte Herb, der noch ganz benommen von der Narkose war:

»Ja, Chef, das war der Bursche.«

Ob er sicher sei? Herb sagte, er sei sicher.

Also wanderte das Schlitzauge auf dem Foto, das zufälligerweise für die Tatzeit kein Alibi hatte, in den Knast, weil er einen Cop erschossen und einen anderen schwer verletzt hatte. Die Wärter drüben in Tulsa hatten fraglos ein Freudenfest gefeiert, als er eingeliefert worden war. Lang war er allerdings nicht geblieben, eine Woche später hatte man ihn an einem Bettlaken von der Decke seiner Zelle baumelnd vorgefunden und das war das gewesen.

Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus wurde Herb als dienstuntauglich erklärt, bekam seine ehrenvolle Entlassung und das Geld von der Versicherung in Form einer monatlichen Rente. Im Großen und Ganzen hatte sich die Sache also gelohnt, zumindest für Herb, auch wenn Harper, das fette Arschloch, ihm dazu geraten hatte, auf eine Abschlussfeier im Büro zu verzichten, aus Rücksicht auf Mikes Andenken. Oder weil die eine oder andere Version der Geschichte trotzdem intern die Runde gemacht haben mochte. Herb hatte mit den Schultern gezuckt und war nach Hause gegangen. Scheiß was auf Abschiedsfeiern.

An das schwarze Samtsäckchen hatte er erst eine Woche später wieder gedacht.