Leseprobe Paul Anger »Böses Mädchen totes Mädchen«

Prolog. 1999.

Der Junge kann das Messer kaum in seiner kleinen Hand halten, immer wieder droht es ihm zu entgleiten, während er heulend dasitzt, und sich abmüht, die Klinge in das weiche Fleisch des noch warmen Körpers hineinzustoßen. Seine Hände sind bis zu den Unterarmen rot und klebrig von dem Blut, das aus der klaffenden Wunde spritzt. Die Tränen lassen alles vor seinen Augen zu einem blutroten, matschigen Albtraum verschwimmen. Aber der Junge muss weitermachen, darf nicht aufhören. Er ist noch lange nicht fertig.

Und er kriegt die Augen nicht aus dem Kopf. Große, dunkle Augen, voller Intelligenz, die ihn angeschaut haben, fragend und ... verzweifelt? Augen, die niemandem je etwas Böses gewollt haben. Das Schlimmste ist aber, dass der Junge selbst die Beute entdeckt hat. Warum hatte er bloß die Klappe nicht halten können? So schön hatte sie ausgesehen wie sie da so stand, würdevoll und friedlich.

Dann hat Karl ihr in den Bauch geschossen. Der Junge hat sich die Ohren zugehalten, als der Schuss losging. Sie war sofort auf der Lichtung zusammengebrochen und liegengeblieben, und ihre schlanken Beine hatten in der Luft gezuckt, während sie starb. Aber Karl hatte so geschossen, dass sie nicht gleich tot war. Das musste der Junge erledigen, und zwar aus unmittelbarer Nähe. Er hatte dem Jungen erklärt, dass sie von dem Bauchschuss furchtbare Schmerzen leiden muss. Weil sich jetzt die Scheiße aus ihren Gedärmen mit dem Blut in ihren Adern vermischt, hatte Onkel Karl gesagt und dabei hässlich gegrinst. Und dass der Junge ihr eine Gnade erweisen würde, wenn er ihr Leiden beendete.

Und dass es allein in seiner Hand lag, wie lange dieses Leiden dauern würde.

Als sie heran waren, hatte sie den Hals gereckt und ihn angeschaut, hatte stumm und stolz seinen Blick erwidert, mit diesen großen, schönen Augen, und ein leises, verzweifeltes Fiepen ausgestoßen. Das war alles, zu dem sie jetzt noch in der Lage war. Karl hatte den Griff des Hirschfängers in seine Hand gedrückt und ihn gezwungen, eine Faust darum zu machen. Da waren dem Jungen die Tränen gekommen und er hatte nichts dagegen machen können.

»Verdammt nochmal«, schimpft Onkel Karl, »Jetzt pack das verfluchte Ding doch mal richtig an! So, und so!«

Karl zeigt dem Jungen, wie man es machen muss. Seine große, schwielige Faust schließt sich um die Hand des Jungen, die komplett darin verschwindet. Mit einem Hieb stößt er das Messer hinein, und die Hirschkuh zuckt noch ein letztes Mal, als es tief zwischen die Knochen ihres Brustkorbs fährt und in ihr Herz eindringt. Das müssen sie ein paar Mal machen, bis sie gar nicht mehr zuckt. Immer neues Blut schießt aus den Löchern, die die breite Klinge in den schlanken Körper reißt, bespritzt Arme und Gesicht des Jungen. Aber schließlich bäumt sich das Tier ein letztes Mal auf und liegt dann ganz still.

Onkel Karls Hand reißt das Messer in der Faust des Jungen mit einem Ruck zurück und nach unten — ein mächtiger Schwall Blutes schwappt aus der offenen Wunde. Es ist dick und dunkelrot, beinahe zähflüssig und es riecht ein bisschen streng.

Das muss die Scheiße sein, aus ihren Gedärmen.

In diesem Moment schießt etwas in dem Jungen nach oben, und er weiß, dass er jetzt verloren ist, weil er es nicht aufhalten kann, das ist einfach unmöglich. Im letzten Moment wirft er sich zur Seite, aber er schafft es nicht mehr ganz. Dann ist die Wärme in seinem Mund und es ist aus. Ein breiter Strahl ergießt sich aus dem Mund des hilflos zuckenden Jungen, Erbrochenes klatscht auf den Körper des getöteten Tieres, auf seine Hände und den Waldboden.

»Och, du Schwein! Was für eine verdammte Sauerei!«, tobt Onkel Karl und schlägt nach dem Jungen. »Was bist du bloß für eine elende Drecksau, verdammt nochmal?«

Während der Junge zuckt und sich windet und einfach nicht aufhören kann, sich zu übergeben, kommt ihm der Gedanke, dass die Hirschkuh vielleicht ein Junges gehabt hat. Es wäre die Zeit dafür. Schonzeit, das hat Onkel Karl ihm einmal erklärt, da muss man besonders aufpassen und sich nicht beim Jagen erwischen lassen. Doch er kommt nicht dazu, den Gedanken weiterzuverfolgen, denn in diesem Moment saust die große Hand seines Onkels herab und verpasst ihm eine schallende Ohrfeige, die den Kopf des Jungen zur Seite wirft, und ihn hart auf den Boden aufschlagen lässt. Das Messer fliegt in hohem Bogen davon. Dann ist Karl über ihm und bearbeitet ihn mit seinen riesigen Händen. Wie die Schaufeln eines Baggers, die unaufhörlich auf den Jungen einprasseln. Er packt den Kopf des Jungen an einem Büschel Haare, reißt ihn herum und drückt sein Gesicht in das Erbrochene, um damit die klebrige Masse vom weichen, warmen Körper des erlegten Tieres zu wischen.

»Beschissene Heulsuse!«, flucht Karl lauthals. »Dir werd ich zeigen, die Beute vollzukotzen.«

Der Junge würgt erneut, denn das klebrige Zeug ist jetzt überall auf seinem Gesicht, es brennt in den Augen und verstopft seine Nase. Der säuerliche Geruch, der sich mit der Ausdünstung aus dem blutenden Tierkörper vermischt, ist nicht auszuhalten. Aber da ist nichts mehr, das der Junge jetzt noch hochwürgen könnte. Onkel Karl wirft sich rittlings auf seinen schlanken Körper, irgendetwas knackt in der Brust des Jungen wie ein kleiner Zweig. Der Junge krümmt sich — rollt sich zusammen wie ein Baby, das zurück in den Bauch seiner Mutter will, und genau das würde er jetzt am Liebsten tun. Bloß ist seine Mutter tot und sein Vater auch — außer Onkel Karl gibt es niemanden mehr, der sich für den Jungen interessiert. Schluchzend erträgt er auch diesmal die Schläge und Beschimpfungen, wie so oft vorher, bis Onkel Karl schließlich irgendwann selbst genug davon hat. Nach einer Ewigkeit steht sein Onkel keuchend und schwitzend auf, verpasst ihm noch einen letzten Tritt in den Bauch und besieht sich dann zufrieden sein Werk. Das rechte Auge des Jungen ist komplett zugeschwollen, er sieht ein bisschen aus wie ein Profiboxer, der richtig was eingesteckt hat. Seine Augenbraue ist mehrfach geplatzt und dünne Rinnsale von Blut laufen über sein Gesicht. Blut rinnt aus seinem rechten Ohr und aus seiner Nase auf seine aufgeplatzten, angeschwollenen Lippen. Die Nase ist vielleicht gebrochen, vermutet Karl, aber das ist nicht weiter schlimm. Nichts, das ihm in diesem Alter nicht auch schon passiert wäre, bei der einen oder anderen Rauferei, wie es sich eben für richtige Jungen gehört, denkt Karl. Sein Vater war immerhin auch nicht gerade zimperlich, der hatte sich extra einen Gürtel gemacht mit Eisenbeschlägen — Karl kann heute noch die Narben auf seinem Hintern vorweisen, die diese Art der Erziehung mit sich gebracht hatte. Und manchmal, wenn er besoffen war, hat Karls Vater noch ganz andere Dinge mit dem Hintern seines Jungen angestellt. Aber das heißt bestimmt nicht, dass Karl eine Schwuchtel oder sowas ist. Immerhin ist aus ihm keine Heulsuse geworden, oh nein. Der Junge dagegen muss noch viel lernen.

Karl packt sich ein Haarbüschel am Hinterkopf des Jungen, der jetzt nur noch leise wimmert, gelegentlich unterbrochen von einem schleimigen Schniefen aus seiner gebrochenen Nase.

Wird schon wieder zusammenwachsen, denkt Karl. Aber auf das Wild zu kotzen, wo hat man sowas schon gesehen!

Dann zerrt er den Jungen auf die Knie, der sich sofort mit einem schmerzerfüllten Quieken an die Seite fasst, wo ihn Karls Stiefeltritte drei Rippen angebrochen haben.

»Hol dein Messer«, knurrt Karl.

Der Junge kriecht los in Richtung des großen Jagdmessers. Als er zurückkommt, weint er nicht mehr. Er starrt zu Karl hoch, das blutige Messer in der Hand, blickt ihn emotionslos aus seinem gesunden Auge an.

Sehr gut, denkt Onkel Karl.

Der Blick des Jungen ist nicht länger weich und verheult wie zuvor. Die Tränen haben scharfe, helle Spuren auf dem zerstörten Gesicht des Jungen hinterlassen, aus seiner Nase hängt ein langer Faden blutigen Schleims. Blut und Kotze sind zu einem Brei vermischt und gleichmäßig auf Armen, Gesicht und Oberkörper des Jungen verteilt.

Gut so. Der Junge, findet Karl, beginnt allmählich wie ein Mann auszusehen. Noch ein paar Lektionen dieser Art und er würde glatt als einer durchgehen.

»Na los«, sagt Karl und deutet auf den Körper der Hirschkuh. Der Junge macht sich schweigend ans Werk. Diesmal stößt er das Messer ohne Zögern in die weiche Bauchdecke des Tieres und säbelt sie in ungeschickten kleinen Schnitten auf. Karl schaut zu und unterbricht ihn nicht, auch wenn der Junge sich noch ziemlich ungelenk bei dieser Arbeit anstellt. Er wird den Bogen bald raus haben, da macht sich Karl keine Sorgen. Der entscheidende erste Schritt ist gemacht, der Rest ist Beiwerk. Der Junge wird es schon noch lernen.

Der Beginn. 2010, im Spätsommer.

»Das ist bestimmt ein Perverser«, flüsterte Kati und nickte in Richtung des alten Kerls, der eben durch die Ladentür in den kleinen Verkaufsraum der Tankstelle getreten war. Er war ihnen schon vorhin aufgefallen. Da hatte er noch draußen gestanden, die beiden Mädels in ihren knappen Wandershorts aber nicht aus den Augen gelassen, seit sie aus dem Auto gestiegen waren »Sieh doch nur, wie der uns anstarrt. Du möchtest bestimmt nicht wissen, was sich da gerade in seinem Kopf abspielt.«

»Ach, Kati, du bist widerlich«, flüsterte Beate zurück, und musste trotzdem ein bisschen kichern. »Nicht jeder denkt immer nur an das Eine, so wie du.«

»Na, der aber ganz bestimmt, das seh ich doch.« Der zerlumpte Typ trug etwas, das wie Jagdklamotten aussah, das aber ebenso gut irgendwelche Sachen aus dem Kleidercontainer sein mochten. Vielleicht einer von den Freizeitjägern, die sich manchmal hier in der Gegend herumtrieben, obwohl das Jagen hier natürlich verboten war, und ganz besonders in der Schonzeit, wenn das Rotwild mit dem Nachwuchs trächtig war. Aber gerade das machte die Aussicht auf fette Beute in den Augen der skrupellosen Jäger natürlich umso verlockender. Der Bart des Mannes war grau und struppig, seine linke Gesichtshälfte wurde von fettig glänzendem Narbengewebe entstellt. Und seine Augen ... irgendetwas Stechendes lag darin, bemerkte Beate, vielleicht war er ja nicht ganz richtig im Kopf. Der Alte schlurfte zur Bar, während sein seltsamer Blick ihnen folgte. Beate versuchte ein Lächeln, doch der Mund des Penners verzog sich zu einem Ausdruck des Abscheus, als habe er soeben zwei Vertreter einer besonders widerwärtigen Insektenart erblickt. Dabei legte er den Blick auf etwas dunkelrotes frei, in dem jede Menge Zähne fehlten. Beate sah schnell woanders hin.

»Wir brauchen noch Kekse«, sagte sie zu Kati und begab sich auf die Suche danach. »Oh, Mann, nur dieses super ungesunde Zuckerzeugs«, murmelte sie kopfschüttelnd, »Nicht mal einen Müsliriegel haben die hier. Und wo bleiben eigentlich die Jungs?«

»Was willst du denn mit Keksen?«, fragte Kati und zog stattdessen eine große Flasche Whiskey aus einem der Regale, und dazu eine Dose Schlagsahne. »Das ist das Zeug, das wir brauchen, das gute Zeug, verstehst du?«

»Was willst du denn damit anstellen?«, wollte Beate wissen und warf einen skeptischen Blick auf den Alkohol. Ziemlich starkes Zeug. Ihr war jedenfalls nicht klar, wozu billiger Whiskey und Sprühsahne zu gebrauchen sein sollten. Soweit sie wusste, war beides so ziemlich das Gegenteil von gesunder Ernährung. Wenn Kati so weitermachte, würde sie in ein paar Jahren eine fette Alkoholikerin sein. Schließlich blieb auch sie nicht bis in alle Ewigkeit Zwanzig.

»Wirst du schon sehen, Süße«, versprach Kati, »Und dann wirst du froh sein, dass ich das Zeug eingepackt habe.«

»Wenn du meinst«, sagte Beate immer noch zweifelnd und fuhr dann fort, sich durch das magere Angebot an Keksen und anderen ungesunden Snacks zu wühlen, auf der Suche nach etwas, das außer Zucker zumindest noch ein paar Nährstoffe enthalten würde.

Der alte Mann hatte sich inzwischen an der Theke auf einen der Barhocker gesetzt, wo ihn der Verkäufer und ein paar seiner Freunde skeptisch aber wortlos beäugten. Die größtenteils übergewichtigen Männer in Jeans und karierten Flanellhemden , lungerten auf den abgewetzten Polstern von Barhockern herum, die mindestens so alt zu sein schienen wie sie selbst. Sie trugen ölverschmierte Baseballkappen, unter denen strähniges, ungepflegtes Haar hervorschaute.

Holzfäller vielleicht, dachte Beate, aber dann verwarf sie den Gedanken.

Der umgebende Wald stand doch komplett unter Naturschutz, hier durfte schon seit den achtziger Jahren kein Holz mehr geschlagen werden. Das hatte sie schließlich erst letzte Woche während der Vorbereitung auf ihr Referat gelernt. Dann waren es vielleicht Trucker oder so was. Oder vielleicht hatten sie auch nur Spaß dran, wie welche auszusehen.

Aber wen interessierte das letztlich, dachte Beate, sollten sie doch aussehen, wie es ihnen gefiel, auch wenn ihr ungepflegtes Äußeres nicht gerade vertrauenerweckend wirkte. Oder vielleicht schon, zumindest im Vergleich zu dem älteren Streuner in den viel zu großen Flecktarnklamotten. Vermutlich hatte Michael Recht, wenn er sie damit aufzog, dass sie sich immer zu viele Gedanken um Sachen machte, die sie eigentlich gar nichts angingen.

Währenddessen war Kati zum anderen Ende des kleinen Verkaufsraums gestapft, und hatte die Schlagsahne und den Whiskey auf das abgenutzte Brett gestellt, das dort als provisorische Theke diente. Der Wirt warf einen Blick auf die beiden Sachen, tippte etwas in eine uralte Registrierkasse und sagte dann: »Macht zwei Euro.« Kati legte verwundert einen Fünf-Euro-Schein auf die Theke und griff nach der Sahne und dem Whiskey. Doch der Verkäufer war schneller. Bevor sie danach greifen konnte, hatte er schon seine Faust um den Hals der Whiskeyflasche geschlossen. Sie bewegte sich kein Stück, als Kati daran zog.

»Der bleibt hier«, sagte der Wirt und sah seine grinsenden Kumpane triumphierend an, »Bisschen zu hart für euch beiden Hübschen.«

Daraufhin brachen seine Kunden an der Bar in Gelächter aus, aber in ihrem Lachen lag nicht eine Spur von Freundlichkeit. Der einzige, der nicht lachte, war der alte, zahnlose Penner mit den stechenden Augen. Der saß am anderen Ende der Bar hinter einem Kaffee, den ihm der Wirt in einer schmutzigen Tasse ohne Henkel hingestellt hatte und ließ seinen Blick unablässig über Katis Körper gleiten, wobei sich wieder der altbekannte Ausdruck der Verachtung über sein Gesicht gelegt hatte.

Er schüttete einen Berg Zucker in seine Tasse und rührte mit seinem schmutzigen Zeigefinger darin herum, ohne hinzusehen. Er war jetzt völlig konzentriert auf Katis kurze Jeansshorts, beziehungsweise das, was darunter zum Vorschein kam — Katis braungebrannte, schlanken Beine.

Musstest du denn unbedingt das kürzeste Kleidungsstück anziehen, das du finden konntest?, dachte Beate.

Aber so war Kati nun mal. Die zerrissenen Jeans endeten gut zwei Fingerbreit über dem Ansatz ihrer Porundung und ihr bauchfreies Top machte es praktisch unmöglich, den Blick von ihrem Nabelpiercing abzuwenden. Was ihr sehr wohl bewusst war.

Kati lächelte den Verkäufer breit an, und Beate, die wusste, was jetzt kommen würde, nahm schnell irgendeine Packung Kekse und bewegte sich ebenfalls auf die Theke zu. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass der Penner seine stechenden Blicke nun auch über ihren Körper wandern ließ, während er den Kopf zurücklegte und sich ein ganzes Päckchen Zucker in den Mund schüttete, um es dann schmatzend zu verspeisen. Kati hatte sich inzwischen vor dem Verkäufer aufgebaut, der sie dennoch um mindestens einen Kopf überragte.

»Ich nehme das jetzt mal als Kompliment, aber ich bin Zwanzig«, sagte Kati mit Bestimmtheit. »Dürfte ich also jetzt bitte diesen Fusel da haben?«

»Ausweis«, knurrte der Wirt. Das mit dem Fusel schien bei ihm gar nicht gut anzukommen.

»Der ist im Auto.«

»Dann hol ihn.«

»Geht nicht, das Auto ist zu und unsere Freunde sind auf dem Klo.«

»Welchem Klo?«, wollte der Wirt wissen. Seine Freunde lachten wieder. Alle, außer dem Penner, der geräuschvoll den Rest seines Kaffees in sich hineinschüttete.

»Was weiß ich«, antwortete Kati auf die Frage des Wirts, »Dann sind sie eben in den Wald hinterm Haus gegangen oder was auch immer. Ist ja auch egal. Kann ich jetzt das Zeug da haben?«

Wortlos stellte der Wirt den Whiskey unter die Theke. Aus Katis Reichweite, wenn sie nicht über die Theke springen wollte. Was den Kerlen sicherlich gefallen hätte, sie da so in ihren Minishorts zappeln zu sehen.

»Was soll’s bei dir sein?«, fragte der Wirt, für den das Thema Kati und Whiskey damit offenbar abgeschlossen war, und überraschte Beate mit seiner plötzlichen Aufmerksamkeit derart, dass sie gar nicht gleich mitbekam, dass er sie angesprochen hatte, bis sie seinem ungeduldigen Blick begegnete.

»Hallo«, fragte er, »Jemand zu Hause?«, was erneut von brüllendem Gelächter seiner Barkumpels kommentiert wurde.

»Oh, Entschuldigung!«, sagte Beate, wobei sie sich nicht ganz sicher war, wofür sie sich da eigentlich entschuldigte. Dann legte sie die Packung Kekse auf den Tresen, während Kati sich demonstrativ an die Theke lehnte, offenbar nicht gewillt, diese ohne den Whiskey zu verlassen.

»Macht Fünf Fuffzig.«

»Was? Für eine Packung Kekse?«, staunte Beate. »Und ... und die sind sogar schon über dem Verfallsdatum.«

»Sechs fuffzig, dann.« Jetzt brachen die Holzfällertypen beinahe in hysterisches Gegacker aus. Das hier fanden sie offenbar sogar besser als Fernsehen.

»Ach, Mann, echt jetzt?«, fragte Beate genervt, griff aber trotzdem nach ihrer Geldbörse. Vielleicht schaffte sie es ja, zu bezahlen, bevor der Preis des Gebäcks auf über zehn Euro geklettert war.

»Du wirst das doch nicht bezahlen wollen?«, mischte sich Kati ein.

»Also ...«

»Also jetzt hören Sie mal«, wandte sie sich energisch an den Wirt, »Wenn Sie mir den Whiskey nicht verkaufen wollen, dann brauch ich auch die Sahne nicht. Hier! Ich will mein Geld zurück, und diese vergammelten Kekse können Sie sich in Ihren ... na Sie wissen schon.«

Der Wirt deutet grinsend auf ein Schild, das von einem Ende des beeindruckenden Hirschgeweihs hinter ihm hing. »Kein Umtausch«, stand darauf in ungelenken Buchstaben.

»Lustig«, sagte Kati. »Na schön. Aber ich hoffe jedenfalls, dass ihr kleiner Scheißladen demnächst Pleite geht.« Die buschigen Augenbrauen des Wirts zogen sich zusammen. Er deutete auf ein anderes Schild hinter sich: »Nicht fluchen!«

»Scheiß was drauf«, sagte Kati und stützte die Hände in die Seiten, während sie trotzig das Kinn vorrückte. Dann sprach sie, ganz ruhig, und schien jedes Wort genießerisch auszukosten: »Aber wissen Sie was? Ich glaube, dass Sie mit diesem ganzen Scheißdreck nur versuchen, den bekackten Preis für Ihren vergammelten Mist hier in die Höhe zu treiben. Jetzt sagen Sie schon, was Sie für dieses verfickte Scheißgesöff haben wollen, gottverflucht nochmal.«

Der Wirt starrte sie aus aufgerissenen Augen an. Er war kalkweiß. Zwei hektische rote Flecken hatten sich auf seinen wabbeligen Wangen gebildet.

»Haben Sie mich jetzt vielleicht besser verstanden?«, erkundigte sich Kati seelenruhig.

»Du ...«, sagte der Verkäufer und langte über die Theke nach Kati, die ihm problemlos auswich. Der Verkäufer war ziemlich fett und entsprechend träge. Und er war außerdem stinksauer.

»Verdammtes Gör!«, stieß er hervor, »Dich werd ich ...«

In diesem Moment erklang das kleine Glöckchen über der Tür.

»Gibt’s hier Probleme?«, wollte Tobias wissen, der soeben mit Michael durch die Tür getreten war.

»Außer, dass ihr mir an meinen Laden pisst und diese kleine Nutte hier ...«

Mit einem Schritt war Tobias bei dem Wirt. Als er sich vor dem Mann aufbaute, hatte das einen beeindruckenderen Effekt, wie jedesmal. Tobias war in der Fußballmannschaft der Uni, er besuchte das Fitnessstudio fast täglich und nun war er es, der sein Gegenüber um einen guten Kopf überragte. Was dem Wirt wohl auch gerade aufging. Wie auch die Tatsache, dass ihn die fetten Karohemdenträger an der Theke in keiner Weise unterstützen würden, wenn sie dabei Gefahr liefen, sich mit einem durchtrainierten Jugendlichen anzulegen und selbst etwas abzubekommen. Das war etwas völlig anderes, als zwei Studentinnen zu belästigen und dumm anzumachen.

»Erstens«, legte Tobias dem Wirt sachlich dar, »haben wir nicht an Ihr Haus gepisst, sondern in den Wald. Es gibt ja wohl kein Gesetz dagegen, oder?«

Zögernd schüttelte der Wirt den Kopf.

»Ich glaube aber«, fuhr Tobias fort, »dass es ein Gesetz gibt, das Ihnen vorschreibt, eine öffentliche Toilette zur Verfügung zu stellen, wenn Sie hier einen Barausschank betreiben.« Er deutete auf die Kaffeetassen der Männer an der Bar. Die ganz eindeutig nach Kaffee mit Schuss rochen. Mit mächtig viel mehr Schuss als Kaffee.

»Was bist du, ‘n Rechtsanwalt oder sowas?«, knurrte der Verkäufer, jetzt aber doch ein bisschen kleinlaut.

»Noch nicht«, antwortete Tobias grinsend. Er studierte Jura im sechsten Semester. Und er war ziemlich gut, einer der Besten seines Jahrgangs. »Aber ich bin ein ganz Schlauer, wissen Sie das? Es kostet mich einen Blick auf mein Telefon, die Nummer vom Gesundheitsamt herauszusuchen. Und wenn ich mir ihren Laden hier so ansehe ...« Er ließ einen vielsagenden Blick über die fettverschmierte Theke und die staubigen Spinnweben gleiten, die aus dem Gitter der defekten Lüftung hingen.

Der Verkäufer sagte nichts mehr, starrte ihn einfach nur aus zusammengekniffenen Augen an. Beate warf einen raschen Blick auf den Penner mit den unheimlichen Augen. Der war mit seinem Kaffee fertig und leckte jetzt die Tasse aus. Kleine feuchte Tröpfchen bleiben in seinem struppigen Bart hängen. Widerlich. Tobias’ Unterhaltung mit dem Wirt schien er überhaupt nicht wahrzunehmen. Er war nach wie vor damit beschäftigt, hemmungslos auf Katis Hintern zu starren, der ihn aus ihren Shorts heraus förmlich ansprang. Beate bemerkte bröselige Flecken auf dem Schritt der abgewetzten Armeehose, die der Penner trug. Angewidert wandte sie sich ab. Sie wollte plötzlich nur noch hier raus, die Kekse und der Whiskey waren ihr mittlerweile völlig egal.

»Kommt«, sagte sie leise, »lasst uns gehen.«

»Gleich«, sagte Michael, der zu Beate getreten war. Natürlich. Tobias würde es durchziehen, und Michael würde ihn nicht davon abhalten. Michael legte sanft einen Arm auf Beates Schulter. Das war besser. Er beobachtete die ganze Szene bestenfalls mit mildem Interesse, bereit einzugreifen, falls es nötig wurde. Auch wenn man ihm die Muskeln nicht so ansah wie Tobias, war er doch ebenfalls sehr sportlich, wie Beate sehr wohl wusste. Inzwischen hatten sie Tobias und Michael oft genug in ähnlichen Situationen erlebt. Und üblicherweise gingen diese Situationen genau so aus, wie Tobias sich das vorstellte. Kein Wunder bei diesem Körperbau. Michael bewahrte ihn lediglich davor, irgendwann einmal eine richtig große Dummheit zu begehen, wenn er provoziert wurde.

»Der Whiskey«, sagte Tobias und widerwillig stellte der Verkäufer die Flasche zurück auf die Theke. »Sehr schön«, kommentierte Tobias. »Und jetzt die Kekse. Was schulden wir Ihnen?« Manchmal drückte er sich so geschwollen aus, dass es fast zum Lachen war. Nur tat er das selten in Situationen, die einen wirklichen Lacher hergaben.

»Fuffzehn«, sagte der Wirt beinahe trotzig.

»Aha. Zehn Euro, also. Gut.«, sagte Tobias, als hätte er nicht richtig verstanden. Was er natürlich sehr wohl hatte.

»Fuff ...«, versuchte der Wirt nochmal, fing sich aber von Tobias einen Blick ein, der ihn augenblicklich verstummen ließ.

Tobias legte einen Zehn-Euro-Schein auf die Theke und nahm sich Whiskey und Kekse. Ohne ein weiteres Wort ließ er den Wirt stehen.

»Kommt ihr?«, fragte er in die Runde, und dann gingen sie. Als sie beinahe draußen war, glaubte Beate zu hören, wie der Wirt irgendetwas von »Arschgesicht« murmelte. Aber so leise, dass Tobias es nicht hörte. Kati hatte ihm derweil einen Arm um die Hüfte gelegt und kuschelte sich lachend an ihn. »Was für ein Penner!«, rief sie über ihre Schulter zurück. Und sie rief es ganz bestimmt laut genug, damit der Wirt es hören konnte.

Als sie den Wagen erreicht hatte, begann Kati, ihre Einkäufe in ihrem Rucksack zu verstauen und beugte sich dabei demonstrativ ins Wageninnere, wobei sie ihren Po herausstreckte, dessen Rundung in den knallengen Jeans so noch ein bisschen besser zur Geltung kam. Tobias verpasste ihr einen kräftigen Klaps auf das dargebotene Hinterteil, sie kicherte und rief aus dem Wageninneren: »Pass auf, dass du dir nicht die Hand brichst, großer Junge!«, woraufhin sich besagte Hand wie selbstverständlich zwischen ihre Schenkel drängte, was sie ebenfalls nicht im Geringsten zu stören schien, obwohl sie hier in aller Öffentlichkeit waren. Beate drückte die Kekse Michael in die Hand. »Hey«, sagte sie leise, »Ich glaube, ich muss auch noch mal fix in den Wald, bevor wir weiterfahren.«

»In Ordnung«, sagte Michael, »Aber beeil dich, ja? Wir sollten von hier verschwinden.«

»Okay.«

Beate lief in Richtung Wald, an dem Haus vorbei und warf im Vorübergehen einen flüchtigen Blick durch die schmutzige Scheibe in das Halbdunkel des Verkaufsraums der Tankstelle. Der Verkäufer war vollauf damit beschäftigt, wild zu gestikulieren, während er düstere Blicke zu den Jugendlichen beim Wagen warf. Vermutlich erzählte er seiner verbliebenen Kundschaft gerade, was er alles mit Tobias hätte anstellen können, wenn ihm nur der Sinn danach gestanden hätte, diesem ungezogenen Bengel eine Lektion zu erteilen. Und noch etwas bemerkte Beate. Der Penner saß nicht mehr auf seinem Platz.

*

Ende der Leseprobe