8

 

Sie nahmen die Straße am Bidasoa entlang und folgten dem sich hinabstürzenden Fluss durch ein dunstiges grünes Tal, bevor sie rechts abbogen und zu einem anderen baskisch-navarresischen Dorf in die Berge hinauffuhren, vorbei an dem obligatorischen Steinbrunnen und an einem verlassenen grauen Frontön. Mit banger Erwartung fragte sich David, was Jose Garovillo wusste? Was hätte er ihm zu erzählen? Das Dorf hieß Etxalar.

Um die Aussprache zu üben, sagte David das Wort Etxalar mehrere Male laut vor sich hin; Amy lächelte - sehr verständnisvoll.

»Nein. Man spricht das x nicht wie ein x, sondern tchchhh.«

»Etch…alarrr?«

»Schon viel besser.«

Sie mussten hinter einem Viehtransporter, der die Straße blockierte, anhalten. Amy schien mit ihren Gedanken woanders. Wie aus heiterem Himmel fragte sie ihn nach seinem Leben in London und in Amerika, nach seinem Job. Er erzählte ihr Verschiedenes über sich.

Unvermittelt erkundigte sich Amy nach seinem Liebesleben.

David zögerte - doch dann gestand er, dass er Single war. Amy wollte wissen, warum.

Die Kuh auf dem Lkw glotzte sie vorwurfsvoll an. »Wahrscheinlich stoße ich jeden zurück, der mir zu nahe kommt. Möglicherweise liegt das daran, dass ich meine Eltern verloren habe. Jedenfalls lasse ich niemanden richtig an mich ran.«

Schweigen. Dann fragte David: »Und du? Hast du eine Beziehung?«

Schweigen. Der Viehtransporter fuhr los, und sie zuckelten hinter ihm her, an kleinen Obstgärten mit Pfirsichbäumen vorbei.

Nach einer Weile antwortete Amy: »David, da ist etwas, was du wissen solltest. Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt. Zumindest …«

»Ja?«

»… nicht die ganze Wahrheit.«

Das Blaugrün der Berge umrahmte ihr Profil. Ihr innerer Widerstreit spiegelte sich in ihrem Gesicht wider.

»Wenn du nicht willst, brauchst du nicht darüber zu reden«, sagte David.

»Nein, nein, ich bin dir eine Erklärung schuldig. Außerdem werden wir gleich Jose besuchen, Miguels Vater.«

Amy wandte sich David zu und sah ihn an; die Anspannung in ihrer Miene war unübersehbar, aber es war auch Entschlossenheit darin.

»Ich war mit ihm zusammen. Miguel war mein Freund. Aber das ist schon ein paar Jahre her.«

»Echt?«

»Ich war dreiundzwanzig. Gerade im Baskenland angekommen. Ich war allein. Jung und naiv. Ich habe es dir bisher nicht gesagt… weil ich … weil ich mich deswegen schäme.«

David nahm gerade eine enge Kurve und wandte den Blick nicht von der Straße ab; Bäume und Hecken erzitterten im Luftzug des vorbeifahrenden Autos. Er musste ihr die Frage einfach stellen. »Du wusstest, dass er bei der ETA war? Und trotzdem hast du …?«

»Mit ihm geschlafen?« Sie seufzte. »Ja, ich weiß. Muy stupido, ziemlich blöd. Aber wie gesagt, ich war jung, und … junge Mädchen stehen nun mal auf Machotypen. Dieses Abgründige. Dieser ganze Heathcliff-Scheiß, der Reiz älterer, reifer Männer. Sogar dieser Hang zur Gewalt hatte etwas Anziehendes.« Sie schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich hat das Ganze auf mich als junges Mädchen eine unglaubliche Faszination ausgeübt. Dieses Geheimnisvolle, Undurchsichtige, das er hatte. Außerdem ist er intelligent und sieht gut aus, und berühmt ist er auch, nicht zuletzt wegen seiner aufsehenerregenden Aktionen und seiner Kaltblütigkeit.« Sie rang sich ein verhaltenes Lächeln ab. »Er sieht übrigens ein bisschen aus wie du. Nur älter und ein wenig schmaler.«

»Und mit dem Unterschied, dass ich niemanden verstümmle und foltere und umbringe und … keine Frauen schlage.«

»Natürlich. Natürlich. Nach zwei Monaten habe ich es selbst gemerkt: dieser ausgeprägte Hang zur Gewalt. Und …« Sie zuckte verlegen mit den Achseln, bevor sie hinzufügte: »Und er hat eindeutig krankhafte Züge. Er ist richtig pervers. Im Bett. Nach zwei Monaten habe ich mich von ihm getrennt.«

David wusste nicht, was er sagen sollte; ihre Ehrlichkeit hatte etwas Entwaffnendes.

Er versuchte es mit einer anderen Frage.

»Hast du noch Kontakt zu ihm?«

»Nein. Jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Aber manchmal lässt es sich nicht vermeiden. Miguel hat mich seinem Vater vorgestellt, Jose; mit ihm bin ich immer noch befreundet - er hat mir dabei geholfen, den Job zu bekommen. Und ich mag meinen Job sehr … genauso, wie ich diese Berge hier mag.« Sie seufzte. »Aber Miguel ist irgendwie überall präsent, er scheint mir überallhin zu folgen, seit… was du da in der Bar getan hast, war übrigens sehr mutig.«

»Hat er dich auch geschlagen, als ihr noch zusammen wart?«

»Ja. Das war der Auslöser. Er hat mich geschlagen, und darauf habe ich mit ihm Schluss gemacht. Dieses Schwein.«

Er dachte an die Narbe auf ihrer Stirn. Aber nach der Folge eines häuslichen Streits sah sie eigentlich nicht aus. Doch er wollte nicht weiter in sie dringen. Die Viehweiden wichen dichten Wäldern; sie kamen immer weiter in die Berge hinauf.

»Amy - danke, dass du mir das alles erzählt hast.« Er sah sie an. »Dazu wärst du nicht verpflichtet gewesen. Übrigens, du musst mir nicht mehr helfen, ich komme schon allein klar.«

»Doch, doch. Inzwischen geht das auch mich was an.«

»In gewisser Weise, ja.«

»Nicht bloß in gewisser Weise«, sagte sie. »In jeder Hinsicht.

Außerdem kann ich deine Situation irgendwie ganz gut … nachvollziehen.«

»Wie das?«

»Wegen meiner eigenen Familie.« Leichter, boshafter Regen tröpfelte auf die Windschutzscheibe. »Mein Vater ist gestorben, als ich zehn war; bald darauf fing meine Mutter zu trinken an. Mein Bruder und ich mussten praktisch selbst für uns sorgen. Schließlich ist mein Bruder nach Australien ausgewandert. Und trotzdem sind meine Alkoholikermutter und mein Bruder am anderen Ende der Welt alles, was mir geblieben ist. Der Rest meiner Familie ist in den Vernichtungslagern der Nazis ums Leben gekommen - meine ganze Verwandtschaft. Sie wurden alle ermordet. Deshalb fühle ich mich wahrscheinlich auch ein bisschen … wie ein Waisenkind.« Sie sah ihn an. »So ähnlich wie du.«

Amys blondes Haar flatterte in dem kühlen, regnerischen Luftzug, der durch das offene Fenster kam. Ihre Beichte schien eine beruhigende Wirkung auf sie ausgeübt zu haben; sie wirkte nicht mehr so aufgewühlt.

»Da vorn musst du rechts abbiegen. Hinter der Kapelle.«

Gehorsam drehte er am Lenkrad.

»Ich frage mich …«, fuhr sie fort. »Manchmal frage ich mich, ob diese Seelenverwandtschaft, dieser ganz spezielle Draht, den ich zu den Basken habe, etwas damit zu tun hat, dass ich Jüdin bin. Denn sie haben einen sehr stark ausgeprägten Sinn dafür, wer sie sind und wohin sie gehören. Sie sind schon so lange hier. Ein Volk, das seit Urzeiten an einem festen Ort lebt. Dagegen sind die Juden schon seit jeher auf der Wanderschaft und werden auch weiterhin auf der Wanderschaft bleiben.« Sie rieb sich das Gesicht, als versuchte sie, wach zu werden. »Wie auch immer. Wir sind gleich da.«

David schaltete herunter, als er um die letzte Kurve bog. Er dachte an Miguel Garovillo, die schmalen, bedrohlichen Gesichtszüge, die dunklen, aggressiven Augen. Amy hatte ihm versichert, dass Miguel nicht im Haus seines Vaters auftauchen würde. Jose hatte es ihr versprochen.

Aber es war nicht so einfach, zu vergessen, mit welch wilder, gewalttätiger Eifersucht Miguel Amy angegriffen hatte. Mit mehr als nur Eifersucht. Mit lustvollem Hass.

Amy deutete nach vorn. »Nicht so schnell - hier, die kleine Straße dort.«

Es war ein schattiger Feldweg mit tiefen Fahrrinnen, der direkt in die dunstverhangenen Berge hinaufzuführen schien. Vorsichtig steuerte David den Wagen den schmalen schlammigen Weg hinauf; gerade als die Räder durchzudrehen begannen, erreichten sie eine Lichtung, und Amy sagte: »Wir sind da.«

Das Haus war winzig, hübsch, weiß gekalkt und hatte grüne Holzläden. Der Regen hatte aufgehört, und Speere aus Sonnenlicht drangen durch den sich verflüchtigenden Nebel. Vor dem Haus stand, stolz mit einer Baskenmütze winkend, der rüstigste alte Mann, den David je gesehen hatte. Er hatte extrem lange Ohrläppchen.

»Epa!« Jose Garovillo nahm David sehr genau in Augenschein, als er aus dem Auto stieg. »Zer moduz? Pozten naiz zu ezagutzeaz?«

»Äh…«

»Ha, keine Sorge, mein Freund David … Martinez!«, sagte der alte Mann schmunzelnd. »Ich werde Sie nicht nötigen, Baskisch zu sprechen. Ich beherrsche Ihre Muttersprache recht gut. Ich mag die englische Sprache sehr, vor allem ihre Schimpfwörter. Knödelkopf! Da kann Finnisch nicht mithalten.«

Er grinste und wandte sich Amy zu. Doch dann sah er den verblassenden blauen Fleck auf ihrer Stirn, und seine Miene verdüsterte sich.

»Aii. Amy. Aiii. Es tut mir schrecklich leid. Lo siento. Ich habe gehört, was im Bilbo passiert ist.« Der alte Mann schauderte vor Bedauern. »Aber was soll ich machen? Mein Sohn … mein schrecklicher Sohn. Er macht mir Angst. Aber, Amy, sag mir, was ich tun soll, und ich werde es tun.«

Amy beugte sich vor und schloss ihn aufmunternd in die Arme.

»Es geht mir gut. David hat mir geholfen. Wirklich, Jose.«

»Aber Amy. La violencia? Diese furchtbare Brutalität ist einfach unerträglich!«

»Jose!« Amys Reaktion war erstaunlich heftig. »Bitte. Mir fehlt absolut nichts.«

Das Lächeln des alten Mannes kehrte zurück.

»Dann … lasst uns jetzt nach drinnen gehen. Das Essen wartet bereits! Immer müssen wir essen. Wenn es Ärger gibt, müssen die Basken essen. Kommen Sie rein, Davido. Es ist aufgetischt, dass sogar die Jentilaks des Waldes ihre Freude hätten.«

David kam nicht mehr dazu, weitere Fragen zu stellen; nachdem sie sich gesetzt hatten, wurde schon das Essen gebracht.

Fermina, Joses deutlich jüngere Frau, erwies sich als fabelhafte Köchin; mit dunklen Augen und reifenbehängten Armen trug sie aus ihrer winzigen Küche traditionelle baskische Gerichte auf, die von Jose enthusiastisch vorgestellt und erklärt wurden. Es gab feurige Spießchen mit Espelette-Chilis und Tripotx, Lammblutwurst aus Biraitou; es gab Gerezi beltza arno gorriakin, eine tiefrote Kirschensuppe mit einem weißen Klacks Creme fraiche obendrauf; dann »Wangen vom Seehecht«, mit Oliven dekoriert; und zum Nachtisch geschmeidige Kanougas, Schokoladentoffees, weichen Turron-Nougat aus Vizcaya und Schafskäse aus Irauty mit einem Tupfer Kirschmarmelade, und alles hinuntergespült mit Krügen verschiedener baskischer Cidres, rot und grün und gelb und schäumend - und sehr alkoholhaltig.

Zwischen den Gängen des gigantischen Mahls redete und redete Jose; er erklärte ihnen die Ursprünge der Baskenmütze bei den Hirten von Bearn, er ließ sich über die Schönheiten der Widderkämpfe von Azpeita aus, er zeigte David ein hochgeschätztes Ormolu-Kruzifix, das dereinst von Papst Pius X. gesegnet worden war, er erzählte in geheimnisvollen Andeutungen von den angeblich von legendären Riesen errichteten Cromlechs in den Wäldern von Roncesvalles und von den mythischen Mauren, den Jentilaks und Mairuaks.

Es war anstrengend, aber auch fesselnd, geradezu hypnotisch.

Am Ende fühlte David sich vollgefressen, betrunken und wie ein Hobbylinguist. Seine ständig präsente Angst und den eigentlichen Grund seines Besuchs hatte er fast vergessen. Aber nur fast. Ganz konnte er nicht vergessen. La violencia, la violencia.

Es war schwer, das zu vergessen.

David sah Amy an. Sie schaute aus dem Fenster.

Jose trank einen Sherry. Fermina war in der Küche; sie schien Kaffee zu machen. Der Moment war gekommen. David brach das Schweigen und fragte Jose, ob er seine Geschichte hören wolle, den Grund für seine Reise nach Spanien. Jose lehnte sich zurück.

»Selbstverständlich! Aber wie ich in meiner SMS geschrieben habe, kenne ich die Antwort wahrscheinlich schon. Ich weiß, warum Sie hier sind!«

David sah den alten Mann an.

»Aha?«

Er machte eine bedeutungsschwere Pause. »Ich kannte Ihren Großvater. Als mir Amy gesagt hat, dass Sie Martinez heißen, war mir alles klar.«

»Woher? Wann?«

»Das ist schon lange her - viele, viele Jahre!« Das Lächeln des alten Manns war unerschütterlich. »Wir waren Jugendfreunde … in Donostia, vor dem Krieg. Dann flohen unsere Familien 1936 nach Frankreich. Nach Bayonne. Wo es die jüdische Schokolade gibt. Die beste Schokolade der Welt!«

David beugte sich vor und stellte die zwangsläufige Frage.

»War mein Großvater Baske?«

Jose lachte mit einem tadelnden Gesichtsausdruck - als könnte er nicht verstehen, wie man so eine dumme Frage stellen konnte.

»Aber natürlich! Ja. Hat er Ihnen das nicht erzählt? Das ist typisch. Er war ein Mann voller … Rätsel. Doch, ja, er war Baske! Und seine junge Frau auch! Wie hätte es auch anders sein sollen?« Jose warf Amy einen vorwitzigen Blick zu, dann sah er wieder David an. »Also, David Martinez. Sie sind Baske, zumindest zum Teil, ein Mann aus Euskadi! Sie dürfen am San-Fermin-Tag die Txistu spielen! Und, habe ich jetzt alle Ihre Fragen beantwortet? Ist das Rätsel damit gelöst?«

Ein paar Sekunden saß David stumm da und versuchte, zu verarbeiten, was er gerade erfahren hatte. War das schon alles? Sein Großvater war Baske gewesen, hatte es aber nie zugegeben?

Dann fiel David die Landkarte ein, und die Kirchen. Und seine Erbschaft. Was hatte es damit auf sich?

»Eigentlich nicht, Jose. Da wären noch ein paar Unklarheiten.«

»Tatsächlich?«

Amy unterbrach die beiden Männer: »Jose … die Zeitungsmeldungen. Die Erbschaft … die Landkarte. Hast du das nicht gelesen?«

»Ich lese nie Zeitung!« Joses Lächeln geriet ins Wanken. »Aber was sollen das für andere Unklarheiten sein? Erzählen Sie! Was wollen Sie wissen?«

David warf einen fragenden Blick in Amys Richtung. Sie zuckte mit den Achseln, als wollte sie sagen, nur zu, mach nur, deshalb sind wir schließlich hier.

Also begann David zu erzählen: die Geschichte von seinem Großvater und den Kirchen und der Erbschaft. Gleichzeitig fasste er in seine Tasche und zog die alte Karte mit den blauen Sternchen heraus.

Die Stimmung im Haus schlug abrupt um.

Fermina stand, in konsterniertes Schweigen gehüllt, an der Küchentür. Der alte Mann blickte stirnrunzelnd auf die Landkarte. Es hatte fast etwas Mitleiderregendes, so sorgenvoll war seine Miene. Es schien, als wäre er plötzlich von tiefer Trauer überwältigt worden.

Bestürzt über die Wirkung seiner Worte, ließ David die Karte auf den Tisch fallen. Das Licht im Zimmer schien plötzlich schwächer geworden zu sein; fast war es, als käme alle Helligkeit nur noch von den vergilbten Seiten der Landkarte.

Jose beugte sich über sie und nahm sie behutsam in die Hände, um das brüchige Papier ein paar Minuten zu streicheln - wortlos. Schließlich faltete er die Karte auseinander und betrachtete leise vor sich hin murmelnd die blauen Sternchen. Niemand rührte sich.

Dann schaute er zu David auf.

»Schlagen Sie sich das alles aus dem Kopf. Bitte, ich flehe Sie an. Lassen Sie die Finger davon. Diese Kirchen brauchen Sie nicht zu interessieren. Behalten Sie das Geld und vernichten Sie diese Karte. Gehen Sie nach London zurück. Porfavor.«

David machte den Mund auf. Aber er brachte kein Wort heraus.

»Ich will diese Karte nicht im Haus haben.« Jose hielt sie David schroff hin. »Schaffen Sie dieses Ding aus meinem Haus. Ich weiß, Sie können nichts dafür. Aber … schaffen Sie sie weg. Bringen Sie diese Dinge nie wieder zur Sprache. Nie wieder. Diese … diese Karte … die Kirchen … sie sind der Schlüssel zur Hölle. Ich flehe euch beide an: Lasst die Finger davon.«

David wusste nicht, was er tun sollte. Joses Frau wischte sich an einem Tuch die Hände ab; sie stand immer noch an der Küchentür, war furchtbar nervös und wischte die Hände ab. Immer wieder.

Ein Geräusch spitzte die gespannte Atmosphäre weiter zu. Jose Garovillo schaute auf; das Knirschen von Kies war unverkennbar. Vor dem Haus hielt ein rotes Auto. Amy schlug die Hand vor den Mund. »O nein …«

Jose schnappte nach Luft.

»Das darf doch nicht wahr sein! Ich habe ihm gesagt, dass er auf keinen Fall herkommen soll. Es tut mir leid. Ich habe ihm erzählt, dass ihr kommt, aber ich habe ihm gesagt, er soll wegbleiben. Barkatu. Barkatu. Fermina!«

Der auffallend große Mann, der aus dem Auto stieg, war unverwechselbar: Miguel Garovillo. Im nächsten Moment flog auch schon die Tür auf, und er war im Haus, groß und wild und finstere Blicke werfend. Er nahm die Landkarte in Davids Hand wahr. Das leichte Zucken seines Augenlids war ebenso deutlich zu erkennen wie die dünne Narbe über seiner Oberlippe.

»Papa!«, knurrte Miguel voller Verachtung.

Der Sohn hatte die Hand erhoben, und einen beängstigenden Augenblick lang sah es tatsächlich so aus, als würde er Jose schlagen, seinen eigenen Vater. Jose zuckte zusammen. Fermina stieß einen erschrockenen Schrei aus. Miguels schwarze Augen blitzten durch das Zimmer. David bemerkte die Konturen eines Hülsters unter der Lederjacke des Terroristen.

Fermina Garovillo stieß ihren Sohn zurück, aber Miguel brüllte auf seinen Vater ein, und auf Amy und David. Weil er es auf Baskisch tat, verstand David nicht, was er schrie - unmissverständlich war nur die wilde Wut. Jose versuchte, dagegenzuhalten - aber zaghaft und ohne Überzeugungskraft.

Dann wandte sich Miguel David zu und begann, auf Englisch loszulegen. Seine tiefe Stimme bebte vor Wut.

»Hau bloß ab hier! Du willst die Hure? Dann nimm sie doch. Und schaff schleunigst diese ganze Scheiße hier raus. Auf der Stelle.«

David wich zurück. »Wir gehen ja schon … wir gehen ja schon…«

»Das erste Mal habe ich dich bloß geschlagen. Das nächste Mal erschieße ich dich.«

Amy und David rannten aus dem Haus und sprangen in ihr Auto.

Aber Miguel folgte ihnen. Er hatte seine Pistole gezogen und hielt sie in die Höhe - als wollte er sie ihnen zeigen. Fast haftete ihm etwas von einem Fabelwesen an, ein Riese, ein wilder Jentilak aus dem Wald, der seine Wut und seine Stärke zur Schau stellte. Die Pistole schimmerte im dunstigen Sonnenschein unwirklich schwarz.

Hektisch mit dem Lenkrad ringend, stieß David mit durchdrehenden Reifen zurück und wendete, dann schoss er holpernd die Zufahrt hinunter und bog schleudernd auf die Landstraße ab.

Sein einziger Gedanke war, weg von hier, und eine halbe Stunde lang fuhr er einfach nur, immer weiter und weiter in die grüngrauen Ausläufer der Berge hinein.

Nachdem Panik und Schock sich etwas gelegt hatten, wuchs eine unbändige Wut in ihm. Zugleich hatte er das dringende Bedürfnis, anzuhalten und in Ruhe nachzudenken.

Er fuhr an den Straßenrand. Vor ihnen lag ein kleines Dorf; links war eine Sägemühle zu sehen. Die fernen Pyrenäen schienen mit einem Mal nicht mehr annähernd so schön; die Bäume des Walds waren in hartnäckigen, alles erstickenden Nebel gehüllt. Auf einem Hügel thronte eine von runden Grabsteinen umgebene Kirche.

Alles war von Feuchtigkeit durchdrungen, alles moderte vor sich hin.

»Verdammte Scheiße«, zischte David.

Amy legte schuldbewusst den Kopf auf die Seite.

»Ich weiß. Es tut mir leid.«

»Was?«

»Es tut mir leid, dass …«

»Das ist doch nicht deine Schuld.«

»Aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Und ob es meine Schuld ist. Vielleicht solltest du doch lieber nach Hause fahren, David. Miguel ist einzig und allein mein Problem.«

»Von wegen. Er ist auch mein Problem.«

»Aber ich habe dir doch gesagt, wie er ist. Mörderisch eifersüchtig. Er … wird … keine Ruhe geben. Er könnte dich sogar …«

»Umbringen?«

Sie zuckte zusammen.

Der Rebell in David bahnte sich einen Weg.

»Soll er es doch mal probieren! Ich will endlich wissen, was das alles zu bedeuten hat.« Er startete den Wagen und fuhr ein paar Minuten langsam weiter. »Ich will die ganze Wahrheit wissen. Es muss einen Grund für all das geben, sonst hätte mich mein Großvater nicht hierher geschickt - in diesen ganzen Irrsinn. Und ich will wissen, was dieser Grund war.«

»Die Landkarte.«

»Genau. Die Landkarte. Du hast ja gehört, was Jose gesagt hat; du hast gesehen, wie er reagiert hat - da ist etwas … etwas …«

Er überlegte, wie er die Komplexität dieses Rätsels beschreiben könnte; doch er kam nicht dazu, weiterzusprechen. »Nicht anhalten.«

»Was?«

»Fahr einfach weiter.«

»Was ist denn?«

David spürte, wie sich eine böse Ahnung eisig kalt um sein Herz legte. Amy bestätigte sie. »Miguel. In dem Auto hinter uns.«