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14.58, 14.59, 15.00.
Keine Spur von ihm. David schaute besorgt auf die Bahnhofsuhr.
15.02, 15.03, 15.04.
Angus stand neben ihm und sagte nichts - ausnahmsweise. Die Anspannung in seiner Miene war jedoch unübersehbar. Amy wirkte sehr niedergeschlagen.
Wie viel wusste sie bereits? Sie war merklich verändert, seit sie in Amsterdam gelandet und nach Nürnberg gefahren waren, wo sie sich am Hauptbahnhof mit Simon Quinn verabredet hatten. Warum? Ahnte sie inzwischen, dass er Cagot war? Oder reagierte sie lediglich auf seine veränderte Stimmungslage? Auf seine extreme Anspannung, seine abweisende Verschlossenheit, seine heftigen Stimmungsschwankungen, wenn er sein Inneres nach Antworten oder Trost oder Ruhe durchforstete?
Er hatte aufgehört, mit ihr zu schlafen. Er war nicht mehr dazu in der Lage. Sie waren wild, verspielt, extrem leidenschaftlich gewesen. Und jetzt? Jetzt sah er sich nur noch als Monster, das sie biss, so fest, dass ihr weißes weibliches Fleisch zu bluten begann.
Es war ein erschreckender Abgrund, der sich da vor ihm auftat, doch er musste unbedingt bis auf seinen dunklen Grund vordringen, wenn er sich über sein wahres Selbst Klarheit verschaffen wollte. Und für die entscheidenden Stunden, die ihm jetzt bevorstanden, brauchte er seine letzten Reserven an Gleichmut. Für die entscheidenden Tage, die entscheidenden Minuten.
15.07,15.08,15.09.
Vielleicht kam Simon ja gar nicht. Sie hatten ihm nur ein einziges Mal aus Amsterdam gemailt - und umgehend eine Antwort erhalten: Ja.
In Davids Posteingang war noch eine andere Mail gewesen, eine völlig unerwartete Mail: von Frank Antonescu aus Phoenix. Der ehemalige Anwalt seines Großvaters hatte Nachforschungen angestellt und schließlich mit Hilfe eines Bekannten bei der Bundessteuerbehörde IRS, der ihm anscheinend einen Gefallen schuldete, »nach einigem Wühlen und Suchen« herausgefunden, woher das Geld stammte.
Von der katholischen Kirche.
Summen in dieser Höhe wurden laut Antonescu »unmittelbar nach dem Krieg nicht nur an Ihren Großvater, sondern auch an mehrere andere Personen ausgezahlt. Es wurde als >Gurs-Geld< bezeichnet - warum, weiß ich nicht. Und auch mein Bekannter beim IRS hatte keine Erklärung dafür.«
Das war auf jeden Fall eine weitere Antwort, die eine tragende Funktion in dem allmählich entstehenden Lösungsgebäude hatte. Aber enthüllt würde das fertige Bauwerk erst, wenn sie in Zbiroh eintrafen. Und Fischers Forschungsunterlagen fanden.
15.16,15.17,15-18.
Würde Simon überhaupt noch kommen? War ihm vielleicht etwas zugestoßen? War Miguel etwa schneller gewesen?
»Da!« Amy deutete den Bahnsteig hinunter.
Ein leicht zerzauster, atemloser, sommersprossiger blonder Mann um die vierzig kam auf sie zugelaufen. Er sah Amy und David an…
»David Martinez?«
»Simon Quinn?«
Der Journalist bedachte die drei Wartenden mit einem scheuen Lächeln.
»Sie müssen Amy sein. Und Sie …«
»Angus Nairn.«
Hände wurden geschüttelt, und alle machten sich förmlich miteinander bekannt. Doch dann sahen sich David und Simon lange eindringlich an, und beiden wurde im selben Moment die Absurdität ihrer Förmlichkeit bewusst. Sie umarmten sich. David schloss diesen Mann, dem er nie zuvor begegnet war, in die Arme wie einen verschollenen Bruder. Oder wie den Bruder, den er nie gehabt hatte.
Kurz darauf drängte sich ihre extreme Anspannung wieder in den Vordergrund.
»Miguel ist nach wie vor hinter uns her …«, brachte Amy ihnen in Erinnerung.
Seit ihrer Flucht aus Namibia schien Amys Angst vor Miguel noch zugenommen zu haben. Möglicherweise, mutmaßte David, war auch das ein Grund für ihre Niedergeschlagenheit. Vielleicht hatte Miguels Hartnäckigkeit sie so entmutigt, dass sie sich irgendwann in die Unabwendbarkeit seines Triumphs gefügt hatte. Bisher hatte er sie am Ende doch immer wieder aufgespürt, und deshalb würde er sie auch dieses Mal finden - und sein Vorhaben endgültig zum Abschluss bringen.
Außer es gelang ihnen, als Erste an Fischers Daten zu kommen.
Sie gingen rasch zu ihrem Leihwagen und fuhren in Richtung tschechische Grenze los. Unterwegs erzählte ihnen Simon, dass sein Bruder wahrscheinlich von der Piusbruderschaft gefangen gehalten wurde. Entführt und gefoltert. Tiefe Sorge und heftige Schuldgefühle zeichneten sich auf Simons Gesicht ab, und als er schließlich zum Ende kam, trat erst einmal langes Schweigen ein. Auch das Schicksal von Simons Bruder Tim lag jetzt in ihren Händen. Die Last auf ihren Schultern wurde immer schwerer.
Sie näherten sich der Grenze, dem ehemaligen Eisernen Vorhang. Von den Wachtürmen und Stacheldrahtbarrieren aus der Zeit des Kalten Kriegs war jedoch nichts mehr zu sehen. Die Grenzstation bestand aus weitläufigen modernen Glasbauten - aber auch sie waren bereits wieder überflüssig und verlassen. Sie wurden nicht kontrolliert und konnten einfach passieren.
Es war Simon, der schließlich das Schweigen brach.
»Warum Nürnberg? Warum haben wir uns dort getroffen?«
Angus erklärte ihm, dass sie sich für die Anonymität einer großen Stadt nicht weit von der Grenze zur Tschechischen Republik entschieden hatten, um mögliche Verfolger abzuschütteln.
Simon nickte.
»Und dieses Schloss?«
»Der Karte zufolge liegt es am Rand eines kleinen Dorfs namens Pskov, das zwei Kilometer von Zbiroh entfernt ist. Und in der Synagoge von Pskov muss es einen versteckten Zugang zu einem unterirdischen Geheimgang geben, der ins Schloss führt.«
Wieder nickte Simon. Er wirkte sehr niedergeschlagen.
Hinter der tschechischen Grenze war alles ein wenig trister, verwahrloster und ärmlicher. Der Kontrast zu dem properen Deutschland war unübersehbar. An einer neben der Autobahn verlaufenden Landstraße standen reihenweise Frauen in Miniröcken und blonden Perücken.
Angus lieferte die Erklärung.
»Prostituierte.«
»Wie bitte?«
»Ich war vor ein paar Jahren auf einem Kongress in Prag. Diese Frauen sind alle Nutten … die Freier kommen aus Deutschland über die Grenze. Fernfahrer und Geschäftsleute. Und sie verkaufen hier auch Zwerge.«
»Zwerge?«, fragte Amy verständnislos.
Der Schotte deutete auf einen Verkaufsstand mit endlosen Reihen knallbunter Gartenzwerge.
»In Tschechien sind die Gartenzwerge wesentlich billiger. Deswegen kommen die Deutschen auch ihretwegen über die Grenze. Wegen der Nutten und der Gartenzwerge!«
Er lachte trocken. Sonst lachte niemand. Aber David war froh, dass Angus lachte. Der Schotte war der Einzige, der noch so etwas wie positive Energie und Optimismus verströmte. Seine wissenschaftliche Neugier, sein Drang, Fischers Untersuchungsergebnisse zu finden, und nicht zuletzt sein egoistisches Bedürfnis, herauszufinden, ob er recht gehabt hatte, das alles hielt erstaunlicherweise auch die anderen davon ab, aufzugeben.
Doch bald wurde es im Auto wieder still. Angus hatte die Karte in seinem Schoß ausgebreitet. Die Autobahn nach Pilsen war von dichten Wäldern gesäumt. Das schwache Tröpfeln wurde zu richtigem Regen.
»So«, sagte Angus schließlich. »Genug gebrütet. Tun wir was! Helfen wir Simon! Erzählen wir ihm, was bisher passiert ist. Der arme Kerl ist freier Journalist, so jemand braucht dringend eine vernünftige Story, um Frau und Kinder ernähren zu können. Werfen wir einfach alles zusammen, was wir bisher wissen.«
Die Stimmung im Auto war so gedrückt, dass David froh war über diese spontane Idee. Reden. Einfach nur reden. Egal worüber. Also taten sie das. Gemeinsam setzten sie die Teile des Puzzles zusammen, und jeder steuerte seinen Anteil dazu bei. Und Simon schrieb in seinem Notizbuch mit.
Dann setzte sich der Journalist zurück.
»Okay. Ich rekapituliere noch mal. Nach den Fakten, die uns bisher vorliegen, stellt sich der Sachverhalt folgendermaßen dar.«
David spürte das Flattern seiner Nerven. Ihn plagte die absurde Angst, Simon könnte auf ihn deuten und sagen: Du, du bist natürlich ein Cagot.
Simon begann.
»Die Anfänge dieses Rätsels reichen dreitausend Jahre zurück, in die Zeit, als in Babylon die Bibel geschrieben wurde. In verschiedenen Passagen des Buchs Genesis finden sich Andeutungen, dass es außer Adam und Eva noch andere Menschen auf der Welt gab.«
Amy schaute aus dem Fenster. Beobachtete angespannt die Fahrzeuge vor und hinter ihnen. Hielt wahrscheinlich nach roten Autos Ausschau.
»Die von diesen infamen biblischen Andeutungen aufgeworfenen Probleme waren natürlich im Christentum unterschwellig immer schon am Gären«, fuhr Simon fort. »Aber offen zum Ausbruch gelangten sie schließlich mit den Basken- und Cagots-Verfolgungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts.«
Er sah kurz Angus an.
»Die Basken sind tatsächlich eine ganz besondere Volksgruppe, mit einer einzigartigen Sprache, Kultur und Gesellschaftsform, ungewöhnlichen Blutgruppen und vielem mehr. Sie gehen als Rasse möglicherweise auf präindogermanische Zeiten zurück auf die Zeit um dreißigtausend vor Christus. Sie mussten lange unter Verfolgung leiden, weil sie schlicht und einfach … anders waren. Diese Verfolgung gipfelte in der Hexenjagd von 1610/11, der sogenannten Baskischen Traumepidemie.«
Sie überholten einen winzigen Skoda, der noch aus kommunistischen Zeiten zu stammen schien. Am Steuer saß ein Bauer, mit seiner dicken Frau auf dem Beifahrersitz. Der Skoda fuhr vielleicht dreißig Stundenkilometer.
Simon warf einen kurzen Blick in sein Notizbuch.
»Mit den rätselhaften Cagots verhält es sich ähnlich - nur ist die Sache in ihrem Fall noch extremer. Die Cagots sind - oder waren - eine Kreuzung. Sie lebten im selben Gebiet wie die Basken. Wahrscheinlich stammen sie sogar von Basken ab, die sich im achten und neunten Jahrhundert mit dunkelhäutigen sarazenischen Soldaten mischten. Schon allein deshalb waren sie im streng katholischen Spanien von Anfang an extrem isoliert - und dazu noch mit dem fatalen Beigeschmack der Ungläubigen behaftet.
Sie wurden massiv ausgegrenzt. Und im siebzehnten Jahrhundert nahm diese Ächtung sogar mörderische Züge an. Cagots wurden an Kirchentüren genagelt. Eine Begleiterscheinung dieser Verfolgung und der daraus resultierenden Ausgrenzung war die Zunahme erblicher Störungen bei den Cagots …«
»Für die sie aber nichts konnten«, flocht David ein.
»Nein, natürlich war das nicht ihre Schuld«, antwortete Simon mit einem erstaunten Stirnrunzeln. »Tragischerweise war jedoch die Unterstellung, dass sie zu psychotischen Störungen, Kretinismus und sogar Kannibalismus neigten, nicht gänzlich unbegründet. Viele Cagots litten an Syndromen, die zu bizarrem und sogar abstoßendem Verhalten führten.«
»War das der Grund, warum der König von Navarra anordnete, sie zu untersuchen?«, fragte Amy. »Um zu sehen, ob die Cagots wirklich >anders< waren?«
»Ja. Dazu kam, dass den Ärzten des Königs, so niedrig der damalige Stand der Wissenschaft auch gewesen sein mochte, die Syndaktylie, die zusammengewachsenen Finger und Zehen, und andere physiologische Auswirkungen der Inzucht unter den Cagots natürlich nicht entgangen waren. Und sie zogen daraus den Schluss, dass sich die Cagots tatsächlich in signifikantem Maß vom Rest der Menschheit unterschieden.«
Simon blätterte in seinem Notizbuch eine Seite weiter.
»Diese Entdeckung kam auch dem Papst und seinen Kardinälen in Rom zu Ohren. Für die Kirche war es eine undenkbare Vorstellung, dass Gott tatsächlich den Samen der Schlange hervorgebracht haben könnte - sprich: neue Arten von Menschen, andersartige Menschen, Menschen, die keine richtigen Menschen waren. Das hätte die gängige katholische Lehre, der zufolge der Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen ist, in ihren Grundfesten erschüttert. Wie kann Gott zwei Ebenbilder haben? Zweierlei Kinder? Wäre das bekannt geworden, hätte es nicht nur als Rechtfertigung für die unerbittliche Verfolgung eines christlichen europäischen Volks gedient - es hätte die gesamte katholische Glaubenslehre in Frage gestellt.«
»Nicht nur die katholische«, flocht Angus ein. »Die gesamte christliche Glaubenslehre.«
»Deshalb war die Kirche so sehr darum bemüht, der Verfolgung der Cagots ein Ende zu machen. Und aus demselben Grund beschloss auch die spanische Inquisition, die baskischen Hexenverbrennungen zu unterbinden. Die katholische Elite hatte ein starkes Interesse daran, dass der >Chor der Christenheit< unteilbar bliebe. Basken und Cagots wurden in den Schoß der Menschheit zurückgeführt. Dessen ungeachtet hielten sich innerhalb der Kirche weiterhin Strömungen, die hartnäckig den apokryphen Kanaansfluch-Theorien anhingen. Insbesondere in der niedrigen Geistlichkeit, in der Landbevölkerung und in einigen der besonders strengen Mönchsorden wie den Dominikanern.
Immer darauf bedacht, ein Schisma zu vermeiden, willigte der Vatikan in einen Kompromiss ein. Die wichtigsten und umstrittensten Dokumente - die sich auf die Hexenverbrennungen, die medizinischen Untersuchungen der Cagots und die daraus resultierenden päpstlichen Vermittlungsbemühungen bezogen - wurden nicht vernichtet, sondern, für die Öffentlichkeit unzugänglich, im Archivdes Angelicums aufbewahrt, der von Dominikanern geführten päpstlichen Universität in Rom. Jahrhunderte später, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wurden sie in ein neu gebautes Kloster in Frankreich verlegt.«
»Das wiederum«, ergänzte Angus, »von einem Architekten, der mit den Rechten sympathisierte, ausdrücklich zu dem Zweck erbaut worden war, für diese Dokumente ein sicheres Versteck zu schaffen. Richtig?«
»Und dazu ein Meisterwerk an Funktionalität war«, fügte Simon hinzu, »das ein solches Maß an Unbehaglichkeit verströmte, dass die Mönche reihenweise verrückt wurden.«
Amy schaute immer noch aus dem Fenster. Die Strickjacke war von ihren Schultern gerutscht und entblößte ihre sonnengebräunte nackte Haut. Zart und golden und anschmiegsam.
David heftete den Blick wieder auf die Straße. Simon hob sein Notizbuch.
»1907 reiste Eugen Fischer, ein hochbegabter junger deutscher Anthropologe, in die menschenleere und diamantenreiche Kolonie Deutsch-Südwestafrika, das heutige Namibia. Er trat dabei in die Fußstapfen seines großen Vorbilds Francis Galton, eines bedeutenden englischen Wissenschaftlers, der als der Begründer der modernen Eugenik gilt.
Fischer machte im Zuge seiner Forschungstätigkeit eine Reihe erstaunlicher Entdeckungen. Er befasste sich ausführlich mit den Khoisan, den >Buschmännern< der Kalahari, und ihren nahen Verwandten, den Baster, bei denen es sich um eine Kreuzung aus Buschmännern und holländischen Siedlern handelt. Und dabei stellte er fest, dass sich möglicherweise erst vor kurzem … eine neue menschliche Spezies herausgebildet hatte.«
Amy sagte nichts. David sagte nichts. Angus hatte ein abwesendes Lächeln aufgesetzt. Simon fuhr fort:
»Der Prozess der Speziation oder Artbildung - die Abspaltung einer neuen Spezies von einer bereits existierenden Spezies - ist natürlich für die Evolution von entscheidender Bedeutung. Die Kriterien hierfür sind jedoch nicht eindeutig definiert. Wann wird eine neue Rasse oder ein neuer Stamm eines Organismus eine Subspezies, und wann kann sie wirklich als eigenständige Spezies bezeichnet werden? Genetiker, Zoologen und Taxonomen sind sich diesbezüglich immer noch nicht einig, wenngleich niemand in Abrede stellt, dass es den Vorgang der Speziation gibt.« Simon blätterte eine Seite weiter.
»Bis dahin hatte allerdings niemand damit gerechnet, dass ausgerechnet beim Homo sapiens innerhalb der letzten paar tausend Jahre eine Speziation stattgefunden haben könnte. Wie Angus ganz richtig sagt, sind einige Experten der Ansicht, dass sich in Asien erst vor kurzem eine kleine Menschenform entwickelt hat - Homo floresiensis. Solche Hominiden wären vielleicht sogar eine Erklärung für die äußerst umstrittenen biblischen Hinweise auf die Existenz nicht adamitischer Menschen, die sich in den Anfangskapiteln der Genesis finden. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, wären diese Bibelstellen sozusagen authentische volkstümliche Überlieferungen über zwergenhafte Fast-Menschen.
Dennoch läge das alles zehntausend Jahre in der Vergangenheit. Doch nun gelangte Fischer bei seinem Studium der Khoisan und Baster zu der Überzeugung, dass in Afrika in der aktuellen Gegenwart ein Evolutionsprozess stattfindet, der einer Speziation sehr nahekommt. Entweder sind die Buschmänner bereits eine neue Spezies, oder sie stehen kurz davor, eine zu werden.
Diese Entdeckung bestätigte Fischer in dem Rassismus, der sein Denken auch zu diesem Zeitpunkt schon maßgeblich geprägt hatte. Wie viele andere Wissenschaftler seiner Zeit dachte sich Fischer nichts dabei, eine Rassenhierarchie zu postulieren: mit den Weißen an der Spitze und den Aborigines und Schwarzafrikanern am unteren Ende. Doch nun stufte er die Buschmänner noch niedriger ein, als eine unterhalb der restlichen Menschheit stehende Rasse.«
David schaltete herunter und überholte einen großen roten Lkw mit der Aufschrift Intereuropa an den Längsseiten. »Aber gegen Juden scheint Eugen Fischer nichts gehabt zu haben«, bemerkte er. »Oder zumindest nicht gegen die Kellermans.«
»Ja.« Simon nickte. »Interessanterweise war Fischer kein Antisemit. Er schätzte die Freundschaft anderer kluger Menschen, vor allem, wenn sie reich waren und Stil hatten. Er freundete sich mit der Kellerman-Dynastie an, einer Familie von deutsch-jüdischen Diamantenhändlern, die mit den Schätzen der mineralienreichen Namib-Wüste ein Millionenvermögen verdienten. Diese Freundschaft sollte sich in den kommenden Jahrzehnten als außerordentlich wichtig erweisen.«
Wieder wurde eine Seite umgeblättert.
»Dann kam 1933 Hitler an die Macht. Während seiner Haft hatte er Fischers Bücher geradezu verschlungen. Und schließlich verfügte er als Führer über die Möglichkeiten, Fischers Thesen in die Praxis umzusetzen. Zuerst ernannte er Fischer zum Rektor der Universität Berlin. Dann entsandte er ihn 1940 in ein neues deutsches Konzentrationslager, das in Gurs, nicht weit vom genetisch hochinteressanten französischen Baskenland, errichtet worden war.
Adolf Hitler hatte große Pläne mit dem renommierten Wissenschaftler. Fischer sollte den wissenschaftlichen Beweis für die Gültigkeit der nationalsozialistischen Rassenlehre erbringen. Und deshalb wurde der bekannte Eugeniker damit beauftragt, in Gurs die interessantesten humangenetischen Proben dieser Region für umfangreiche medizinische Untersuchungen zu sammeln: Zigeuner und Juden, Franzosen und Basken, Spanier und Cagots.
Mittels eines Vergleichs von Fischers namibischen Forschungsergebnissen und den in Gurs gewonnenen Erkenntnissen hoffte der Führer, eine tatsächlich gegebene, genetisch belegbare Rassenhierarchie nachweisen zu können: also den endgültigen Nachweis zu erbringen, dass die Deutschen auf der Stufenleiter ganz oben und die Juden ganz unten anzusiedeln wären.
Fischer war dabei außerordentlich erfolgreich. Bereits im ersten Jahr entdeckte er mit der Unterstützung einiger hervorragender deutscher Ärzte die DNS: die Grundlage der gesamten modernen Genetik.«
Simon klappte sein Notizbuch zu.
»Aber was hat Fischer danach entdeckt?«, fragte Amy. »In seinem zweiten Jahr in Gurs? Diese schreckliche zweite Entdeckung? Worin bestand die?«
Angus lächelte nicht mehr, seine Miene wurde sorgenvoll.
»Tja … das ist die große, die alles entscheidende Frage. Und das ist auch, was wir in Kürze herausfinden werden.« Er sah aufmerksam auf die regennasse Straße vor ihnen. »Falls wir noch so lange am Leben bleiben.«