17

 

Inspector Sanderson hielt nicht viel von Simons Vorhaben, mit Professor emeritus Francis St. John Fazackerly zu sprechen, Willard-Preisträger für Humangenetik und Exchef von GenoMap.

»Na dann, viel Glück. Das werden Sie nämlich brauchen, mein Lieber.« Sandersons aufgekratzte Stimme kam sehr deutlich aus dem Handy an Simons Ohr. »Aus diesem alten Sack ist einfach nichts Brauchbares rauszukriegen. Wir haben bereits letzte Woche mit ihm gesprochen.«

»Ja?«

Simon überquerte gerade die Euston Road und blickte auf die blitzenden Büros des Wellcome Institute. Es lag inmitten medizinischer Forschungszentren und universitärer Hightech-Institute, und die vielen jungen Studenten, die schwatzend und lachend vor den Pubs herumstanden, ließen Simon seine vierzig Jahre so richtig spüren.

»Weiß er denn gar nichts über Nairn?«, sagte er ins Handy.

»Wenn er etwas weiß, sagt er es jedenfalls nicht«, brummte Sanderson. »Tomasky hätte schon fast die Daumenschrauben ausgepackt. Treffen Sie ihn in den Räumlichkeiten von GenoMap?«

»Ja.«

»Uns hat er auch dorthin bestellt. Wahrscheinlich fühlt er sich auf heimischem Terrain wohler.« Simon ging die Gordon Street hinunter. »Detective …«

»Jetzt sagen Sie doch endlich mal Bob zu mir, Herrgott noch mal…«

»Bob … Detective … Bob …«

Bob Sanderson lachte. »Wenn Sie was über diese Blutuntersuchungen aus ihm rauskriegen sollten, geben Sie uns Bescheid. Vielleicht haben Sie dabei ja ein besseres Händchen als wir.«

»Wenn man Sie so reden hört, Bob, könnte man meinen, Sie … trauen ihm nicht über den Weg?«

Aus dem Hörer kam nur Schweigen. Simon wiederholte die Frage. Endlich antwortete der DCI bedächtig: »Ich weiß auch nicht. Es ist nur, dass er - wie soll ich sagen - was Verdruckstes, Ausweichendes hat. Aber Sie werden ja selbst sehen.«

Nachdem er das Gespräch beendet hatte, trat der Journalist durch die ramponierte Tür, von der bereits die Farbe abblätterte. Er fuhr mit dem Aufzug in die oberste Etage, wo ihn ein alter Mann mit faltigem Hals und gelblichen Augen in Empfang nahm, den man in seinem zerschlissenen Tweedsakko gut für einen Penner hätte halten können. Doch dank seiner Recherchen wusste Simon, dass dieser Mann Professor Fazackerly war und einmal zu den renommiertesten Genforschern seiner Zeit gehört hatte.

Fazackerly taxierte seinen Besucher. Das gelbzahnige Lächeln des Wissenschaftlers war distinguiert und doch abstoßend - wie das satte Grinsen eines Warans, der sich gerade mit einem Ziegenkadaver den Bauch vollgeschlagen hatte.

»Ah, Mister Quinn vom Daily Telegraph. Kommen Sie doch herein, und entschuldigen Sie bitte die Unordnung. Ich bin immer noch dabei, meine Unterlagen einzupacken und wegzubringen. Nach zwei Monaten!«

Fazackerly öffnete eine Glastür und führte seinen Gast durch das Hauptlabor des einstigen GenoMap-Instituts. Dass man das Projekt eingestellt hatte, war allgegenwärtig. Ein Großteil der Apparaturen war bereits abgebaut, und überall standen Kisten mit gefrierschrankgroßen Geräten herum, die in der staubigen Stille auf ihren Abtransport warteten.

Der alte Professor deutete auf ein paar der größeren Geräte und erklärte dem Journalisten, wozu sie dienten: der Thermocycler für rasche Segmentierung, die große Labor-Mikrowelle für Sterilisation und Histologie, die DANN-Sequenzierungsgeräte für die Analyse von Fluorochromen. Simon schrieb die fremdartigen Wörter und Verwendungszwecke in sein Notizbuch; er kam sich vor, als nähme er ein Diktat auf Lateinisch auf.

Dann bat Fazackerly den Journalisten nach hinten in ein Büro, schloss die Tür und nahm hinter einem Schreibtisch Platz. Simon setzte sich ihm gegenüber auf einen Edelstahlstuhl. Auf dem Tisch lag ein staubiges Schwarz-Weiß-Foto eines Mannes aus viktorianischer Zeit.

Fazackerly nickte in seine Richtung. »Gerade von der Wand genommen. Das ist Galton.«

»Aha?«

»Francis Galton, einer der ganz Großen dieses Fachs. Der Begründer der Eugenik. Hat in Namibia Bahnbrechendes geleistet.«

Der Wissenschaftler griff nach dem gerahmten Foto und legte es in eine Schachtel, die auch drei leere Whiskyflaschen enthielt.

»So, Mister Quinn, ich nehme an, Sie haben ein paar Fragen. Wie Ihr Freund von der Polizei?«

»Ja.«

»Um das Ganze etwas zu beschleunigen - was halten Sie davon, wenn ich Ihnen erst einmal ein paar Hintergrundinformationen zu dem Thema gebe?«

»Sicher, gern.«

Fazackerly holte weit aus: von der menschlichen Vererbungslehre über das Genomprojekt bis hin zu den Finanzierungsproblemen der Grundlagenforschung. Simon schrieb brav mit. Zugleich begann er zu ahnen, was der Scotland-Yard-Inspektor gemeint hatte. Fazackerly kam nicht wirklich zur Sache und errichtete, wie um den Blick auf das Wesentliche zu verschleiern, eine Wand aus gut klingendem, aber irrelevantem Geschwafel.

Simon versuchte, den Informationsfluss zu beschleunigen.

»Professor Fazackerly. Warum genau wurde das GenoMap-Pro-jekt eingestellt?«

Der so Befragte sog hörbar die Luft ein.

»Weil uns bedauerlicherweise das Geld ausgegangen ist. Die Genomforschung ist eine kostspielige Angelegenheit.«

»Es spielten also keine … politischen Gründe eine Rolle?«

Ein Aufblitzen der gelben Zähne.

»Tja…«

Stille.

»Professor Fazackerly. Ich weiß, Sie sind ein schwerbeschäftigter Mann. Deshalb möchte ich ohne lange Umschweife zur Sache kommen.« Simon sah den Wissenschaftler direkt an. »Ich habe brav gegoogelt. GenoMap wurde vorwiegend mit Geldern privater Unternehmen finanziert, um die Arbeit fortzuführen, die vom Human Genom Diversity Project an der Stanford University begonnen wurde. Ist das so weit richtig?«

»Ja…«

»Wurde Ihr Projekt aus dem gleichen Grund eingestellt wie das in Stanford?«

Zum ersten Mal schien dem Wissenschaftler nicht ganz wohl in seiner Haut zu sein.

»Mister Quinn. Vergessen Sie bitte nicht, ich bin nur ein pensionierter Biologe.«

»Und wieso sind Sie aus dem Ruhestand wieder in die Arbeitswelt zurückgekehrt?«

»Weil ich GenoMap für eine großartige Idee hielt. Wir setzen beziehungsweise haben uns zum Ziel gesetzt, die Unterschiede zwischen den verschiedenen menschlichen Rassen zu kartographieren … was, wenn es uns gelänge, von enormer Tragweite sein könnte.«

»Inwiefern?«

»In der Medizin zum Beispiel. In den Vereinigten Staaten etwa gibt es seit neuestem Medikamente, die speziell auf die Probleme an Bluthochdruck leidender Menschen afrikanischer Abstammung zugeschnitten sind - um nur ein Beispiel zu nennen. Bei GenoMap hofften wir insbesondere, tiefere Einsichten in das Tay-Sachs-Syndrom zu gewinnen, das vor allem unter Menschen aschkenasisch-jüdischer Abstammung weitverbreitet zu sein scheint…«

»Dagegen gab es jedoch, wenn ich recht informiert bin, seitens der Politik heftige Widerstände.«

Ein ausdrucksstarkes Seufzen. »Ja.«

»Warum?«

»Das wissen Sie, glaube ich, ebenso gut wie ich, Mister Quinn. Für manche Leute ist schon der bloße Gedanke, es könnte signifikante genetische Unterschiede zwischen den einzelnen Rassen geben, absolut tabu. Viele führende Denker und Politiker behaupten gern, alle rassischen Unterschiede seien eine Täuschung, ein soziales Konstrukt. Ein Märchen. Ein Hirngespinst. Was mit Sicherheit ein Standpunkt ist.«

»Allerdings einer, den Sie nicht vertreten?«

»Richtig. Ich glaube, junge schwarze Männer sprinten schneller als junge weiße Männer - durchschnittlich betrachtet. Das ist ein ganz fundamentaler rassischer und genetischer Unterschied. Natürlich sollte man so etwas lieber nicht laut aussprechen …« Er lachte bitter. »Aber das ist mir, ehrlich gesagt, ziemlich egal. Für derlei falsche Rücksichtnahmen bin ich schlicht und einfach zu alt!«

»Meinetwegen. Aber ein jüngerer Wissenschaftler?«

Fazackerly sah den Journalisten verschlagen an.

»Tja, für einen jungen Wissenschaftler sieht die Sache natürlich etwas anders aus. Sich auf dergleichen zu kaprizieren, könnte für so jemanden, karrieretechnisch gesehen, einem Selbstmord gleichkommen. Dieser Themenkomplex ist höchst umstritten. Koreaner sind besser im Schach als Aborigines und so weiter! Aus nur zu offensichtlichen Gründen war nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Eugenik als Wissenschaft Schluss. Und es hat sich als extrem schwer erwiesen, das Studium rassischer Unterschiede wieder aufleben zu lassen. Das HGDP in Stanford war ein Beginn, wurde aber von der Politik wieder ausgebremst. Daraufhin haben viele beschlossen, das Feld der genetischen Diversität des Menschen gänzlich auszuklammern. Und dann sind da natürlich auch noch diese endlosen Prozesse …«

»Wegen der Biopiraterie?«

»Sie haben ja wirklich Ihre Hausaufgaben gemacht.« Fazackerlys Gesichtsausdruck hatte fast etwas Wehmütiges. »Ja. Dazu müssen Sie wissen, wir haben im Zuge unserer Forschungsarbeit versucht, die DANN sehr isoliert lebender Stämme und Rassen wie der Melanesier und der Andamanen-Bewohner zu analysieren.«

»Warum?«

»Weil seltene Menschenrassen, wie seltene Pflanzen aus dem Amazonasbecken, möglicherweise einzigartige Gene haben, die für die gesamte Menschheit von enormem Nutzen sein könnten. Gelänge es uns zum Beispiel, einen isolierten kongolesischen Stamm zu finden, der, genetisch bedingt, gegen Malaria resistent ist, könnten wir wesentlich schneller einen Malaria-Impfstoff auf Genbasis entwickeln.«

Simon machte sich Notizen.

»Aber die Stammesangehörigen haben sich geweigert. Und sind vor Gericht gegangen. Mit der Begründung, dass es ihre DANN ist?«

»So ist es. Aber andererseits haben die Jäger und Sammler des Kaokoveld auch nicht diese extrem kostspieligen und zeitaufwendigen Forschungsbemühungen unternommen.« Fazackerly zuckte unwirsch mit den Achseln. »Wie dem auch sei, irgendwelche australischen Ureinwohnerorganisationen haben uns wegen Biopiraterie verklagt, und das war für unsere Hauptgeldgeber die giftige Kirsche auf dem ohnehin schon ziemlich ungenießbaren Kuchen. Die Greeler Foundation, Kellerman Namcorp und verschiedene andere sind ausgestiegen. Und das war das Aus für GenoMap.«

Fazackerly blickte aus dem Fenster. »Wirklich schade für die Mitarbeiter. Wir hatten einige richtig gute Leute hier. Ein ungeheuer cleveres Mädchen von der Universität Kioto. Und ein hochbegabter Kanadier chinesischer Abstammung. Und natürlich …«

Sie sahen sich an, und der Journalist sagte:

»Angus Nairn.«

»Der junge Angus Nairn. Vielleicht der beste junge Genforscher Europas. Er hat bereits mehrere aufsehenerregende Artikel veröffentlicht.«

»Aber … dann ist er verschwunden?«

»Nachdem wir hier den Laden dichtgemacht haben. Ja.«

»Warum?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

»Sie haben nicht die leiseste Ahnung, wohin er verschwunden ist oder warum?«

»Richtig.« Fazackerly schüttelte den Kopf. »Ich habe mich sogar gefragt, ob er vielleicht, wie ein guter Sokratiker, seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hat. Die Selbstmordrate bei jungen Männern ist alarmierend hoch. Ich persönlich bin allerdings der Ansicht, dass er zu … ehrgeizig … war, um sich von der Tower Bridge zu stürzen.« Das gelbzahnige Lächeln war unübersehbar traurig. »Es ist ein echtes Rätsel. So leid es mir tut, aber da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«

»Aber welchen Zusammenhang könnte es mit diesen … Morden geben? Sie haben am Telefon gesagt, Sie hätten meine Artikel gelesen. Demnach wissen Sie darüber Bescheid. Angus Nairn hat unmittelbar vor seinem Verschwinden Basken untersucht.«

»Die Basken sind genetisch hochinteressant.«

»Aber wie es der Zufall will, wurde einer dieser Basken vor kurzem ermordet. Eine gewisse Julie Charpentier …«

Im Labor war es sehr still. Unvermutet stand Fazackerly auf.

»Ich habe da eine Theorie. Zu Nairn. Aber ich habe nicht mehr viel Zeit, um mit Ihnen zu reden. Deshalb. Könnten wir vielleicht in den Park hinausgehen?«

»Ganz wie Sie möchten.«

»Gut. Vielleicht kann ich Ihnen dort etwas zeigen - etwas, was erklärt, was ich meine.«

Die zwei Männer verließen das Labor; die warme Herbstsonne ließ es noch verlassener erscheinen.

Für einen Mann seines Alters schritt Fazackerly erstaunlich flott aus. Er führte seinen Gast die Treppe hinunter und ins Freie, über die kaum befahrene Straße, durch das Maschendrahttor und in das septembrige Grün und Gold von Gordon Square Gardens. Studenten, Touristen und Büroangestellte machten auf den Rasenflächen Mittagspause, aßen aus durchsichtigen Plastiktüten Sandwiches oder fischten mit Essstäbchen Sushi aus kleinen Behältern. Die Gesichter der Menschen um sie herum hatten alle nur erdenklichen Schattierungen zwischen Weiß und Schwarz.

Das war London in Reinkultur, fand Simon - ein Hoffnungsschimmer für die ganze Welt. Ein Ort, an dem alle Rassen friedlich vereint lebten. Und dennoch versuchten ständig Leute wie diese Echse Fazackerly, die Menschheit von Neuem zu spalten, sie in verschiedene Schubladen zu stecken, damit wieder jeder jedem misstraute.

Simon verstand, warum die Menschen dagegen waren. Sie empfanden es als falsch und deprimierend, die Welt in Rassen zu unterteilen. Und doch war es bloß Wissenschaft, noch dazu Wissenschaft, die Menschenleben retten konnte. Es war ein seltsames Paradox. Und es stellte eine enorme Herausforderung dar.

»Hier.« Fazackerly bückte sich und hob mit seiner leberfleckigen alten Hand etwas vom Boden auf.

In seiner faltenzerfurchten Handfläche war eine rote Ameise, die hektisch krabbelnd zu fliehen versuchte.

»Jetzt passen Sie auf, Mister Quinn.« Er bückte sich tiefer.

Flache Pflastersteine umgaben einen Gully. Auf ihnen wimmelte es von schwarzen Ameisen, die einen weggeworfenen Apfelbutzen umwuselten.

Vorsichtig setzte Fazackerly die rote Ameise in das dichte Gewimmel schwarzer Ameisen. Obwohl er sich etwas lächerlich dabei vorkam, bückte sich Simon tiefer hinab. Gleichzeitig fragte er sich, ob sich die Studenten darüber lustig machten, wie sie die Ameisen beobachteten.

»Sicher haben Sie das als tintenklecksender Schuljunge auch schon mal getan«, bemerkte Fazackerly dazu. »Ein faszinierender Vorgang. Passen Sie auf.«

Offensichtlich verwirrt von dem plötzlichen Ortswechsel, drehte sich die rote Ameise bald hierhin, bald dahin - doch dann begann sie auf die Erde eines Blumenbeets zuzusteuern. Aber der Weg dorthin wurde ihr von schwarzen Ameisen versperrt.

Simon verfolgte das Schauspiel aufmerksam.

Die rote Ameise rammte eine schwarze Ameise.

»Und jetzt passen Sie auf…«, warnte Fazackerly.

Sofort begannen die Ameisen zu kämpfen. Die schwarze Ameise packte die etwas größere rote Ameise mit ihren Kieferzangen. Die rote Ameise wehrte sich und warf die schwarze Ameise auf den Rücken - aber inzwischen waren die anderen schwarzen Ameisen mobilisiert. Sie hatten die ganz auf sich gestellte Ameise umzingelt und rissen ihr, eins nach dem anderen, die Beine aus; zum Schluss packte eine schwarze Ameise den Feind mit den Kieferzangen und riss ihm den Kopf ab. Die sterbende Ameise zuckte.

»Da.« Fazackerly richtete sich auf. »Und?«, sagte Simon. »Was soll das Ganze?«

»Sie wurden gerade Zeuge eines Falls von interspezifischer Konkurrenz.«

»Und was ist das bitte?«

»Heftige Rivalität zwischen nahe verwandten Spezies, die eine ähnliche evolutionäre Nische bewohnen. Es ist nichts anderes als eine Form von darwinistischem Überlebenskampf. Allerdings äußerst destruktiv. Und absolut unbarmherzig.« Fazackerly ging zu einer Bank in der Nähe und setzte sich auf das warme alte Holz; Simon folgte seinem Beispiel. Der alte Wissenschaftler schloss die Augen und hielt sein verwittertes Gesicht in die Sonne.

»Intraspezifische Konkurrenz kann fast genauso brutal sein«, fuhr Fazackerly fort. »Rivalität unter Geschwistern. Der Kain-Komplex. Der mörderische Hass eines Bruders auf den anderen.«

»Okay.« Simon atmete ein und aus und gab sich Mühe, nicht an Tim zu denken. Große Mühe. »Okay, verstehe. Das mag ja alles hochinteressant sein, aber was hat es mit Angus Nairn zu tun?«

Der Professor öffnete die Augen. »Angus war Wissenschaftler. Er akzeptierte bereitwillig die bittere Wahrheit, die … Zivilisten wie Sie nicht akzeptieren wollen oder können.«

»Und diese Wahrheit lautet?«

»Das Universum ist nicht so, wie wir es uns wünschen. Es ist keine erweiterte Version von Schweden, die von einem Sozialarbeiter in Sandalen geleitet wird. Es ist nicht einmal ein Königreich, das von einem launischen Potentaten regiert wird. Das Universum ist eine gewalttätige, sinnlose Anarchie, voller gnadenloser Rivalität.« Er lächelte aufgekratzt. »Natürliche Auslese mag vielleicht wie Fortschritt erscheinen, ist sie aber nicht. Die Evolution ist willkürlich, sie … führt nirgendwohin. Das einzige Gesetz ist Konkurrenz - und morden und kämpfen. Der Krieg aller gegen alle. Und wir sind da keine Ausnahme. Die Menschheit ist denselben Gesetzen sinnloser Konkurrenz unterworfen wie die Tiere, wie die Ameisen und die Kröten und die wundervollen Kakerlaken.«

Der Wind brachte die Eichen hinter ihnen zum Rauschen.

»Und Angus Nairn?«

»Die Menschen wollen nichts wissen von dieser Wahrheit. Darwins Erkenntnisse sind jetzt schon hundertfünfzig Jahre in Umlauf, und dennoch leugnen immer noch Menschen die schonungslosen Wahrheiten, die er offengelegt hat. Selbst Leute, die den natürlichen Ausleseprozess akzeptieren, machen sich gern vor, dass er teleologisch ist, dass er einen Zweck hat, eine Richtung, eine Entwicklung zu höheren Formen hin.« Er schüttelte resigniert den Kopf. »Aber das ist natürlich kompletter Unsinn. Trotzdem will es niemand hören. Deshalb ist unsere Aufgabe auch äußerst undankbar. Und manchmal frage ich mich, ob sich Angus davon vielleicht hat entmutigen lassen. Vielleicht hat er einfach alles hingeworfen und liegt jetzt irgendwo unter Palmen in der Sonne. Zu verdenken wäre es ihm jedenfalls nicht.« Ein trauriges Seufzen. »Er war ein hervorragender Genforscher, nur leider in einer Welt, die partout nichts von den Wahrheiten hören will, die von der Genforschung in solcher Fülle enthüllt werden.« Der alte Mann atmete tief aus. »Aber natürlich entbehrt das Ganze nicht einer gewissen Ironie.«

»Inwiefern?«

»Nairn war sehr religiös.«

»Wie bitte?«

»Ja. Ziemlich verrückt, nicht? Trotz seiner enormen natürlichen Begabung als Genforscher war er … tiefgläubig.« Fazackerly zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, Nairn wurde von seinem Vater, einem Laienprediger, sehr religiös erzogen und eignete sich aufgrund dessen ein umfangreiches Geheimwissen an. Natürlich gerieten wir deswegen immer wieder gewaltig in Streit; obwohl ich nicht weiß, ob ich seinen Glauben, selbst wenn ich ihn glauben könnte, auch haben wollte. Angus Nairn sah keinen Widerspruch zwischen erbarmungsloser Evolution und einer ziemlich … böswilligen Gottheit.«

Simon dachte kurz an seinen Bruder. Verdammt von einem grausamen Gott? Die Einsicht war flüchtig und beunruhigend und schmerzhaft irrelevant. Er konzentrierte sich auf das Interview.

Der alte Mann hatte ein knallrotes Seidentaschentuch herausgezogen und wischte sich gewissenhaft den Schweiß von der Stirn, bevor er fortfuhr: »Angus hat viel über solche Dinge gesprochen. Vor allem gegen Ende. Wenn wir … Gäste … hatten, einige unserer Geldgeber - sie führten hitzige Diskussionen. Die Bibel und die … die Tora. Ist das richtig? Ich habe es vergessen. Das Heilige Buch der Juden.«

»Der Talmud.«

»Ja. Alles ziemlich astrologisch, wenn Sie mich fragen. Runen und Horoskope! Die Tröstungen der Einfältigen, wie Lottoscheine für die Armen. Aber Angus konnte sich gewaltig echauffieren, wenn es um die Feinheiten seines Glaubens ging. Irgendeine seltsame Lehre, die sich >Der Same der Schlange< nennt, der Kanaansfluch, lauter abstruses Zeugs.«

»Wie bitte?«

»Über die genaueren Einzelheiten kann ich Ihnen leider nichts sagen. Falls Sie sich jedoch näher dafür interessieren sollten, reden Sie am besten mit Emma Winyard. Sie ist dafür mit Sicherheit die beste Adresse, würde ich sagen. Angus gab sehr viel auf ihre Meinung. Die letzten Wochen war er geradezu besessen von diesem Kram, und er zitierte sie ständig. Schreiben Sie sich das auf.«

»Entschuldigung, aber … das verstehe ich nicht…«

»Ich sage Ihnen ihren Namen und ihre Adresse! Vielleicht kann sie Ihnen mehr darüber erzählen.« Simon zückte seinen Stift.

Fazackerly sprach sehr langsam, sein altes Gesicht war grau in der Sonne.

»Emma Winyard. King’s College. Theologisches Institut.«

»Am KC London?«

»Ja. Ich weiß, dass er sich gegen Ende viel mit ihr austauschte. Vielleicht bringt sie Sie bei Ihren Nachforschungen weiter. Aber vielleicht, und das halte ich für wahrscheinlicher, ist auch überhaupt nichts dran.«

Simon machte sich Notizen. Sie schwiegen ein paar Minuten. Schließlich sagte der alte Mann mit einem Anflug von nachdenklicher Traurigkeit: »Tatsache ist… er fehlt mir sehr, Mister Quinn. Angus fehlt mir. Er brachte mich zum Lachen. Sagen Sie mir also bitte Bescheid, wenn Sie ihn finden sollten. Aber jetzt muss ich wieder zurück in mein Büro, packen. Ihnen krabbeln übrigens Ameisen die Hose hoch.«

Es stimmte. Zwei Ameisen kletterten Simons Hosenbeine hinauf. Er wischte sie weg. Fazackerly entfernte sich bereits mit raschen Schritten.

Simon blieb noch eine Weile sitzen. Dann stand er auf und ging zur U-Bahn-Station. Als er nach Hause fuhr, gingen ihm Bilder von Ameisen durch den Kopf. Vom Kämpfen und Töten. Vom Krieg der Arten, vom Krieg aller gegen alle.

Als er aus der U-Bahn nach oben kam, läutete sein Handy. Es war DCI Bob Sanderson.

»Das Geld!«, platzte er aufgeregt heraus.

»Wie bitte?«

»Der schnöde Mammon! Wir haben eine Spur.«

Sanderson hörte sich richtig aufgeregt an; er meinte Edith Taits seltsame Erbschaft. Simon war froh über die Ablenkung; er hörte aufmerksam zu, als Sanderson fortfuhr.

»Ich hatte schon so eine Ahnung, als Sie mir davon erzählt haben. Wegen Charpentier. Deshalb habe ich ganz altmodische Nachforschungen angestellt. Sie hatten alle Geld. Das Opfer aus Windsor hinterließ achthunderttausend Pfund. Das aus Primrose Hill über eine Million.«

Simon konnte nicht anders, als den Advocatus Diaboli zu spielen.

»Viele alte Leute haben Geld, Bob. Ein halbwegs passables Haus in einem schönen Teil Englands, das ist schon mal eine halbe Million.«

»Ja, schon, aber …« Sanderson redete munter weiter. »Befassen wir uns doch etwas eingehender mit dieser Sache, ja? Warum haben sie es zum Beispiel nicht ausgegeben? Vor allem Charpentier. Soviel wir wissen, hat sie, seit sie nach England kam, in dieser armseligen kleinen Hütte auf Foula gelebt. Und das, obwohl sie so viel Geld hatte.«

»Das ist allerdings seltsam.«

»Und sie hatte das Geld schon, als sie emigrierte.«

»1946?«

»Richtig. Schon 1946. Ein paar Franzosen, alle baskischer Herkunft, lassen sich nach dem Krieg in England nieder, nachdem sie vorher im besetzten Frankreich gelebt haben, und alle haben Geld, und alle werden fast siebzig Jahre später ermordet.«

»Soll heißen…?«

»Soll heißen, Simon …« - halb lachte Sanderson -, »irgendetwas war mit diesen Leuten. Irgendetwas Ungewöhnliches …«

Trotz der warmen Herbstsonne lief Simon ein kalter Schauder den Rücken hinunter. Er atmete ein, rasch und tief.

»Aha …«

»Verstehen Sie? Jemand hat ihnen das Geld im besetzten Frankreich gegeben - oder sie haben es gefunden.«

»Sie glauben also, es hat etwas mit dem Krieg zu tun?«

»Ja«, antwortete der DCI. »Ich hatte dabei an Blutgeld gedacht. Oder …« - er machte, wie um des größeren Effekts willen, eine Pause - »an Nazi-Gold.«