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Die alten Frauen sangen durch die Nase, ein an- und abschwellender Gesang aus seltsamen Lauten; halb führte die zittrige Stimme des Manns, der in einem dunklen Anzug vor ihnen stand und rhythmisch mit den Armen fuchtelte, das intensive Summen des fremdartigen Frauenchors, halb folgte sie ihm.

Sie waren immer noch in Foula, etwa fünfhundert Kilometer von Glasgow entfernt.

In der Hoffnung, am nächsten Tag mit Edith Tait sprechen zu können, hatten Simon, Sanderson und Tomasky in Foulas einzigem Bed & Breakfast eine unbehagliche Nacht verbracht. Der Inhaber der Frühstückspension, ein Witwer aus Edinburgh, war hocherfreut gewesen über den Zustrom interessanter Touristen - und neuer Opfer, die er zutexten konnte - und hatte sie mit haarsträubenden Schauergeschichten über Foulas Absonderlichkeiten vom Schlafengehen abgehalten, während er ihnen unerbittlich Whisky nachschenkte.

Er erzählte ihnen von dem deutschen Vogelkundler, der auf der Nachgeburt eines Schafs ausgerutscht war und sich im Fallen an einem Felsbrocken den Schädel zertrümmert hatte, sodass sein Hirn von Schmarotzerraubmöwen gefressen wurde; er schilderte ihnen das Schicksal eines Touristenpaars, das auf das höchste Kliff, die Käme, gestiegen und in die Tiefe gerissen worden war, als einer von ihnen niesen musste.

Simon ließ alles mit einem unterdrückten Grinsen über sich ergehen; Sanderson dagegen reagierte mit unverhohlenem Sarkasmus: »Die Todesrate für Touristen liegt hier demnach bei wie viel? Fünfzig Prozent?«

Aber eine Sache gab es doch, die der Journalist ohne Abstriche interessant fand: das gälische Erbe der Insel. Wie ihnen der Pensionsbesitzer erklärte, war Foula so isoliert, dass sich auf der Insel zahlreiche nordisch-gälische Eigentümlichkeiten erhalten hatten, die andernorts fast ausgestorben waren. Die Inselbewohner hatten ihren eigenen gregorianischen Kalender, sie feierten Weihnachten am 6. Januar, und einige Foulaner sprachen noch unverfälschtes Schottisch-Gälisch.

Das taten sie vor allem in der Kirche, wo die Gottesdienste offensichtlich zu den letzten ihrer Art gehörten, bemerkenswert vor allem wegen des Acapella-Nasengesangs, der sogenannten »Dissonanten gälischen Psalmodie«, wie ihnen der Pensionsinhaber voller Stolz erklärte.

Und jetzt waren sie tatsächlich in der Kirche, lauschten der nasalen keltischen Heterophonie und warteten auf eine Gelegenheit, mit Edith Tait zu sprechen. Simon war sichtlich beeindruckt von dieser uralten heidnischen Tradition; DCI Sanderson war weniger angetan.

»Das hört sich ja an wie ein wild gewordener Schwarm irischer Hummeln unter der Dusche.«

Seine zur Seite gesprochene Bemerkung war deutlich zu laut gewesen. Eine Frau drehte sich um und bedachte Sanderson mit einem strafenden Blick, sang dabei aber unvermindert weiter durch ihre neunzigjährige Nase.

DCI Sanderson errötete; er erhob sich, zwängte sich aus der Kirchenbank und verließ die Kirche. Simon, der sich dadurch noch stärker als Eindringling fühlte, folgte ihm hastig. Sanderson stand auf dem Friedhof und rauchte eine Zigarette.

Der DCI warf die Kippe zu Boden, zerdrückte sie unter seinem Schuh und blickte auf den Sneck o’da Smaalie, eine gewaltige Felsspalte direkt neben der Kirche, die bis zum tobenden Meer hinabreichte, das sich wand wie ein Epileptiker in einer blauen Zwangsjacke; der Regen hatte aufgehört, und es hatte aufgeklart.

»Sie sind also nicht religiös, Inspektor?«

»Gut beobachtet.« Sandersons Lächeln war sarkastisch. »Meine Eltern waren allerdings streng gläubig, und deshalb kam ich auf eine kirchliche Schule. Die beste Maßnahme, einem auch noch den letzten Funken Religiosität auszutreiben.«

Simon nickte. »Bei mir war es genau umgekehrt. Meine Eltern waren … Atheisten. Wissenschaftler und Architekten.« Ein unerwünschter Gedanke schoss durch seinen Kopf: das Helium und der Wasserstoff. Er fuhr rasch fort: »Sie haben mir nie irgendeine Form von Glauben aufgezwungen. Daher habe ich diesbezüglich jetzt… eher vage Anschauungen.«

»Seien Sie froh.« Der DCI starrte auf eine schmutzig weiße Gestalt. Ein Schaf war auf den Friedhof getrottet. »Mein Gott, was ist bloß los hier? Überall diese Schafe. Wo man hinschaut, Schafe. Ich wüsste wirklich gern, wofür diese blökenden blöden Scheißviecher eigentlich gut sein sollen?«

Sanderson legte dem Journalisten eine Hand auf die Schulter und schaute ihm in die Augen.

»Qinn. Da ist etwas, was Sie wissen sollten. Falls Sie immer noch über diesen Fall berichten wollen.«

»Ja?«

»Es hat noch einen Mord gegeben. Heute Morgen. Ich habe es telegraphiert bekommen. Wir sind sicher, es besteht ein Zusammenhang.« Er runzelte die Stirn. »Deshalb kann ich es Ihnen erzählen.«

»Wo?«

»In der Nähe von Windsor. Ein alter Mann, er hieß Jean Mendia. Deshalb ist Tomasky heute Morgen schon zurückgeflogen. Um schon mal die Lage zu sondieren.«

Der nasale Gesang in der Kirche war verstummt.

»Lassen Sie mich raten. Das Opfer stammt aus Südfrankreich? War deformiert?«

Sanderson schüttelte den Kopf.

»Ein französischer Baske, das ja. Aus der Gascogne. Aber nicht deformiert, das nicht. Und auch nicht gefoltert.«

Bevor Simon die nächste Frage stellen konnte, fügte Sanderson hinzu: »Die Gründe, weshalb wir von einem Zusammenhang ausgehen, sind sein Alter - sehr alt -, er war Baske, und es wurde nichts gestohlen. Dem ersten Anschein nach ein völlig sinnloser Mord.«

»Das wäre jetzt schon der dritte …«

»Ja.«

»Wer um alles in der Welt macht so etwas? Und warum?«

»Das weiß Gott allein. Vielleicht sollten wir das Ihn mal fragen.« Er drehte sich um.

Der Gottesdienst war zu Ende. Die Kirchentür ging auf, und heraus kamen mehrere alte Frauen, die altmodische Hauben trugen und sich auf Englisch und Gälisch unterhielten.

Sie hatten Edith Tait rasch entdeckt. Sie war deutlich rüstiger, als Simon erwartet hatte; obwohl sie schon siebenundsechzig war, hätte sie als Fünfzigjährige durchgehen können. Aber das Leuchten in ihren Augen wurde rasch stumpf, als sie ihr sagten, wer sie waren und warum sie mit ihr sprechen wollten.

Mit einem Mal erweckte Edith Tait den Eindruck, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Doch dann knöpfte sie ihren Tweedmantel noch fester zu und ging mit ihnen in die leere Kirche zurück, wo sie sich in eine Kirchenbank setzten.

Sie war nicht die Zeugin, die sie sich erhofft hatten. Sie gab an, in der fraglichen Nacht ein seltsames Geräusch gehört zu haben - aber sicher war sie sich nicht. Möglicherweise hatte sie in den frühen Morgenstunden das Surren eines kleinen Boots gehört - aber beschwören hätte sie es nicht können.

Auch sonst gab es nichts, was Edith Tait mit Sicherheit sagen konnte - aber das war schwerlich ihre Schuld. Sie tat ihr Bestes - und das Ganze war nur zu offensichtlich nicht leicht für sie. Am Ende ihrer Aussage entfuhr ihr ein leiser Schluchzer, den sie mit ihren blassen Händen zu unterdrücken versuchte. Dann nahm sie die Hände wieder von ihrem Gesicht und sah den Journalisten an.

»Es tut mir furchtbar leid. Aber mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen. Sie war eine gute Freundin von mir, müssen Sie wissen. Eine sehr gute Freundin. Es tut mir wirklich leid, Mister … Gentlemen. Sie sind den weiten Weg gekommen, um mit mir zu reden. Aber was ich nicht gesehen habe, habe ich nun einmal nicht gesehen.«

Simon tauschte einen wissenden Blick mit Sanderson. Sie hatten so gut wie alles versucht. Es gab nur noch eine Frage, die vielleicht gestellt werden sollte.

»Wann und warum kam Julie Charpentier ausgerechnet nach Foula, Edith? Das ist hier ein ziemlich abgelegener Ort.«

»Sie kam Ende der vierziger Jahre hierher, glaube ich.« Sie zog nachdenklich die Stirn in Falten. »Ja. In den vierziger Jahren. Angefreundet haben wir uns dann erst später, als meine Mutter starb und ich das Anwesen nebenan erbte.«

»Dann wissen Sie also nicht, warum Sie aus Frankreich ausgerechnet auf diese kleine Insel gekommen ist?«

»Nein.« Edith Tait schüttelte den Kopf. »Darüber hat sie nie gesprochen, und ich habe sie auch nie danach gefragt. Vielleicht irgendein Familiengeheimnis. Vielleicht gefielen ihr auch nur die Einsamkeit und die Ruhe hier. Manche Leute können dem durchaus etwas abgewinnen … aber jetzt muss ich wirklich gehen. Meine Freundin wartet.«

»Selbstverständlich.«

Das Gespräch war beendet. Simon klappte sein Notizbuch zu.

Als Edith Tait zum Ausgang ging, wurden ihre Schritte plötzlich langsamer, und sie neigte den Kopf auf die Seite. Sie ließ sich die Frage noch einmal durch den Kopf gehen.

»Eine Sache gibt es doch noch. Etwas, was Sie vielleicht wissen sollten. Es war jedenfalls etwas ungewöhnlich.«

Simon klappte sein Notizbuch wieder auf.

»Vor einer Weile … ein junger Mann, ein Wissenschaftler … er hat Kontakt mit ihr aufgenommen und wollte sie für irgendein Forschungsprojekt gewinnen … das Ganze war ihr ziemlich unangenehm.«

»Wie bitte?«

»Er hieß Angus Nairn.« Die alte Frau schloss die Augen - und öffnete sie wieder. »Ja, genau so hieß er. Typischer schottischer Name. Ja. Er war ziemlich hartnäckig und rief sie immer wieder an.«

»Und weswegen? Was wollte dieser Wissenschaftler von ihr?«

»Er wollte sie untersuchen. Er meinte, sie wäre in gewisser Hinsicht einzigartig. Eine Baskin, glaube ich. Kann das stimmen? Ich bin nicht sicher. Baskin vielleicht. Doch.«

»Und das war ihr unangenehm?«

»Ja, sehr sogar. Eine Woche lang war sie völlig aus dem Häuschen. Dieser Nairn hat ihr ganz schön zugesetzt. Aber jetzt muss ich wirklich gehen, meine Freundin wird schon ungeduldig.«

Simon ließ nicht locker. »Nur noch ganz kurz, Misses Tait?«

Sie nickte.

»Sie sagen, dieser Mann wollte sie untersuchen. Wieso? Was wollte er untersuchen?«

Edith Tait antwortete ganz ruhig: »Ihr Blut.«