48
Am liebsten hätten sie sich alle gleichzeitig durch die Öffnung gedrängt.
David schwenkte die Taschenlampe über die Ziegelwände des großen dunklen Raums, auf dessen Betonboden zahlreiche Holzkisten gestapelt waren.
Angus blieb vor einer der Kisten stehen und bedeutete David, die Taschenlampe auf sie zu richten. In das Holz war eine Art Wappen eingebrannt, ein großes schwarzes Hakenkreuz in den Klauen eines Adlers. Und darunter stand in Frakturschrift:
Die Fischer-Experimente.
Mit Simons Taschenmesser ließ sich der Deckel der Holzkiste mühelos aufstemmen. Amy hatte im hinteren Teil des Raums eine alte Petroleumlampe entdeckt. Sie drehte den Docht ein Stück heraus und setzte ihn mit einem Feuerzeug in Brand.
Und dann saßen sie eine Stunde lang im Kreis und studierten im Schein der Petroleumlampe die Dokumente aus der Kiste. Mit Amys Deutschkenntnissen, Angus’ Wissen über Biochemie und Genetik und Simons Sachverstand in Politik und Geschichte bildeten sie ein hervorragendes Team.
Als sie schließlich auch die letzten fehlenden Teile der Geschichte zusammengefügt hatten, schrieb Simon alles auf und blickte dabei immer wieder mit zusammengekniffenen Augen auf die Dokumente, die ihm die anderen hinhielten. »Ach, deshalb. Das hat er also entdeckt«, rief Angus.
Schließlich legte er das letzte Schriftstück beiseite und sah Simon an.
»Du bist unser Journalist. Du musst die Geschichte zu Ende bringen.«
Im ersten Moment fehlten Simon die Worte. Es war einfach unglaublich: die Entdeckung, die sie gerade gemacht hatten, die Gefahr, in der sie schwebten. Aber schließlich sagte er, erstaunlich ruhig: »Na schön, wenn ihr meint. Dann wären wir also beim letzten Kapitel angelangt.«
»Los, nun mach schon.«
»Fischers erste erstaunliche Entdeckung war: Es gibt bei Menschen tatsächlich Speziation. In Europa. Mitten unter uns. Und es waren die Cagots, bei denen es zu diesen gravierenden Veränderungen gekommen war.
Infolge ihrer sprachlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Isolation hatten sich die Cagots zu einer neuen Menschenart entwickelt. Zu einer neuen Spezies. Es war ihnen zwar, wenn auch unter Schwierigkeiten, weiterhin möglich, mit ihren nahen Verwandten, Homo sapiens, Kinder zu zeugen - aber sie waren bereits dabei, genetisch immer weiter abzudriften. Fischer ging davon aus, dass die Cagots infolge dieser Fortpflanzungsprobleme schon innerhalb weniger Generationen aussterben würden. Der Speziationsprozess, in dessen Verlauf sie sich von Homo sapiens fortentwickelten, würde also fehlschlagen.
Als Fischer den Führer darüber in Kenntnis setzte, nahm dieser die Nachricht begeistert auf. Damit hatte er endlich den Beweis, dass die nationalsozialistische Rassenlehre nicht nur, wie ihre Gegner immer behauptet hatten, auf ideologisch verbrämten Theorien basierte, sondern auf biologischen Tatsachen. Es gab tatsächlich Unterschiede zwischen den Rassen, und diese Unterschiede waren sogar größer, als Hitler angenommen hatte. Und diese spezielle Speziation fand sogar mitten in Europa statt. Bei den Cagots …«
In David begann es zu arbeiten. Aber er wollte nicht an die dunklen Geheimnisse denken, die in den Tiefen seiner Seele schlummerten. Die ihn aus der Gemeinschaft der Menschen verstießen, ihn unter dem Beton seiner Schande begruben.
Simon blätterte eine Seite weiter.
»1941 wurde der Ton der Korrespondenz zwischen dem Führer und seinem Lieblingswissenschaftler geradezu euphorisch. Um Fischers Forschungsprojekt schneller voranzutreiben, floss immer mehr Geld in das Lager. Hitler wollte den endgültigen Beweis, dass die Deutschen in der Hierarchie der Rassen, die sich jetzt herauszukristallisieren begann, die führende Stellung einnahmen. Doch dann machte Fischer in Gurs eine Entdeckung, die dem Ganzen noch größere Tragweite verlieh. Er prognostizierte, der Prozess, den er an den Cagots beobachtet hatte, würde sich wiederholen, und wies Hitler darauf hin, dass sich in Kürze eine weitere Spezies auf ähnliche Weise von Homo sapiens abspalten würde, wie das die Cagots bereits getan hatten.«
Amy unterbrach ihn.
»Die Juden.«
»Genau, das geht aus diesen Unterlagen hervor.« Simon deutete auf eine der offenen Kisten. »Wegen ihrer religiös bedingten Selbstabgrenzung und ihrer Ablehnung jeglicher Vermischung - wodurch die genetische Isolation vom Rest der Menschheit noch zunahm - waren die aschkenasischen Juden auf dem besten Weg, sich zu einer neuen Subspezies, wenn nicht sogar zu einer gänzlich neuen Spezies mit einem eigenen Genotyp zu entwickeln. Das alles hat Fischer Hitler schriftlich mitgeteilt. In diesem Schreiben hier.« Er hob das Schriftstück kurz hoch, um sich dann wieder seinen Notizen zuzuwenden.
»Fischer wies Hitler darauf hin, dass die Ausgrenzung der Juden durch die Nazis die Chancen und das Tempo ihrer Speziation paradoxerweise sogar erhöhen würde. Als Fischer diese Informationen an Hitler weiterleitete, wusste er, dass der Führer begeistert wäre über diesen Beweis für die Andersartigkeit der Juden. Das Problem dabei, wie Fischer Hitler gegenüber widerstrebend zu verstehen gab, war allerdings, dass sich die Juden in mehrfacher Hinsicht zu einer überlegenen Spezies entwickelten. Mit Sicherheit in Hinblick auf ihre Intelligenz. In diesem Punkt waren sie sogar den Deutschen überlegen.«
Simon blätterte weiter. »Und wie war es dazu gekommen? Die im Talmud verankerten Lehren und Gebräuche hatten im Lauf der Jahrhunderte dazu geführt, dass die Gelehrten in der jüdischen Gesellschaft zunehmend an Ansehen gewannen. Daher war es im mittelalterlichen Europa für ein jüdisches Mädchen wesentlich erstrebenswerter, einen klugen Rabbi zu heiraten, als einen erfolgreichen Kaufmann oder einen wohlhabenden Goldschmied.«
»Das heißt, es waren die Cleveren, die mehr Kinder bekamen, und nicht die Großen und Starken.« Simon nickte in Richtung Amy.
»Die genetische Evolution der Juden zielte auf eine immer höhere Intelligenz ab. Judenpogrome verstärkten diesen Effekt nur. In Zeiten massiver Anfeindung und Verfolgung überlebten nur die klügsten und anpassungsfähigsten Juden: die weniger intelligenten starben aus.«
Er hüstelte mit einem Anflug von Betroffenheit. Dann fuhr er fort:
»Dieser jahrhundertelange Aufwärtstrend die jüdische Intelligenz betreffend, gepaart mit der gleichzeitigen genetischen Isolation in den Gettos und Schtetln, hatte zur Folge, dass sich die Juden in kurzer Zeit zu intelligenteren Menschen entwickelten. Das war aber auch mit Nachteilen verbunden. So waren und sind speziell Juden für bestimmte Erbkrankheiten besonders anfällig, wie etwa für das … wie heißt es gleich … Tay-Sachs-Syndrom?«
Angus nickte. Simon wandte sich wieder seinen Notizen zu.
»Aber die Juden waren intelligenter. Diese Syndrome könnten sogar der genetische Preis gewesen sein, den sie für ihre höheren geistigen Fähigkeiten zu zahlen hatten.
Als Fischer dem Führer in Berlin diese erstaunliche Entdeckung mitteilte, sah sich Hitler dadurch in seinen tiefsten Ängsten bestätigt. Bis dahin hatte die Naziführung andere ehrgeizige Pläne mit den europäischen Juden gehabt. Sie wollten sie nach Madagaskar schicken oder in irgendeiner abgelegenen russischen Provinz als intelligente Arbeitssklaven einsetzen. Aber sobald Hitler Fischers Forschungsergebnisse vorlagen, sah er keine andere Wahl mehr, als unverzüglich einzugreifen - solange er noch die Kontrolle über Europa hatte und bevor die intelligenten und andersartigen Juden wirklich anders und überlegen wurden und ihrerseits die Deutschen versklavten.
Deshalb erteilte Hitler 1942 trotz der enormen Kosten und der Einschränkungen, die dies für die deutschen Kriegsbemühungen mit sich brachte, grünes Licht für die Endlösung: die Vernichtung aller europäischen Juden. Hitler glaubte, diese Bedrohung für die arische Rassenüberlegenheit ein für alle Mal aus der Welt schaffen zu müssen.
Aber Hitler machte sich sein Wissen um die Möglichkeit menschlicher Speziation auch anderweitig zunutze; er setzte es als Druckmittel gegen die katholische Kirche ein.«
»Die Mailänder Vereinbarung«, warf David ein.
»Richtig. In einem 1942 in Mailand unterzeichneten Geheimabkommen erklärte sich Hitler bereit, über die menschliche Speziation, die eine enorme Bedrohung für die christliche Lehre darstellte, Stillschweigen zu bewahren, wenn umgekehrt der Papst darauf verzichtete, wegen der Judenvernichtung Kritik an den Nazis zu üben. Von Hitlers Seite war das natürlich reiner Bluff. Er hatte nie die Absicht, Fischers Entdeckung, dass die Juden den Deutschen >überlegen< werden könnten, jemals an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Er wollte nur eines: die Juden ausrotten. Aber der Papst fiel darauf herein. Er schwieg zum Holocaust und unterstützte damit die Deutschen bei ihrem Genozid; die Schande dieser stillschweigenden päpstlichen Komplizenschaft belastet die Kirche bis zum heutigen Tag.«
Simon seufzte und fuhr fort:
»So … zwischen 1944 und 1945 befreiten die Alliierten nach und nach das besetzte Frankreich. Die Nazi-Ärzte, die in Gurs gearbeitet hatten, fürchteten um ihr Leben. Aber sie hatten einen wichtigen Trumpf in der Hand: Fischers wegweisende Forschungsergebnisse.
Eugen Fischer merkte, dass die westlichen Demokratien nicht weniger als die katholische Kirche mit allen Mitteln versuchen würden, dieses Wissen unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit dringen zu lassen - es hätte die Welt in so vieler Hinsicht destabilisiert und zudem den Rassentheorien der Nazis verhängnisvolle Glaubwürdigkeit verliehen. Somit hatten Fischer und seine Kollegen ein wirksames Druckmittel gegen die Alliierten - allerdings nur, solange es ihnen gelang, ihre Untersuchungsergebnisse vor der Vernichtung zu bewahren. Aus diesem Grund beschlossen sie, die Forschungsunterlagen zu verstecken: in den unterirdischen Gängen und Kammern eines schwer zugänglichen SS-Schlosses in Böhmen. Und das war der Grund, weshalb in Zbiroh überstürzt dieser Kellerraum gebaut wurde, während in der Slowakei bereits die Rote Armee einmarschierte.
Der Plan ging auf. Die Ärzte, von denen sich viele grauenhafter Verbrechen schuldig gemacht hatten, drohten damit, ihre Forschungsergebnisse publik zu machen, wenn sie in irgendeiner Weise belangt würden; deshalb wurden sie von den Alliierten rasch entnazifiziert und konnten wieder an deutschen Universitäten lehren. Fischers Unterlagen blieben dem Zugriff der Öffentlichkeit entzogen und wurden nicht bekannt. Die Verschwörung des Schweigens hatte funktioniert. Bis zu einem bestimmten Punkt.
Es gab bei Kriegsende nämlich noch einen zweiten Personenkreis, der das schreckliche Geheimnis von Fischers Experimenten hätte aufdecken können. Die Überlebenden von Gurs. Vor allem Cagots und Basken. Im Lager selbst hatten die Deutschen Fischers Forschungsergebnisse nämlich nicht geheim gehalten. Deshalb mussten die wenigen Überlebenden am Reden gehindert werden. Man erkaufte sich ihr Schweigen mit viel Geld. Die Gurs-Überlebenden wurden von der katholischen Kirche abgefunden, die ohnehin unter enormem Erklärungsdruck stand, weil ihre Geistlichen im Lager mit den Nazis kooperiert hatten. Dazu kam auch noch die Schande, die die Kirche durch ihr Schweigen zum Holocaust auf sich geladen hatte. Es wurde also Blutgeld gezahlt.
Darauf zerstreuten sich die Überlebenden in alle Welt und ließen sich in England, Kanada und Amerika nieder. Viele hatten zu dem Gurs-Geld wohl zeitlebens ein sehr zwiespältiges Verhältnis. Es war für sie unauflöslich mit den Schrecken von Gurs verbunden. Viele von ihnen rührten das Geld nie an und führten ein Leben in beschämter Zurückgezogenheit.«
»Und was geschah dann?«, fragte Amy.
»Zunächst nichts«, antwortete Angus. »Der Plan schien aufzugehen. Sowohl die Nazi-Ärzte als auch die Gurs-Überlebenden begannen nach und nach wegzusterben.«
»Nur an die Kellermans hatte niemand gedacht…«, sagte Amy.
Simon nickte.
»Ja. Die Kellerman-Dynastie im fernen Namibia. Sie hatte den Kontakt zu Fischer nie abreißen lassen, und einige von Fischers Nazi-Kollegen setzten sich nach dem Krieg sogar nach Namibia ab und fanden bei Kellerman Namcorp Unterschlupf.«
David blickte in die Runde. »Aber was sprang dabei für die Kellermans heraus?«
»Das kann ich euch beantworten«, erklärte Angus. »Die Kellermans hatten großes Interesse an Fischers Forschungsergebnissen und ganz besonders natürlich an ihren Konsequenzen für die Juden. Der alte Samuel Kellerman war nämlich ein überzeugter Anhänger von Levitikus 25, demzufolge es Gott den Juden gestattet hatte, die minderwertigen nicht jüdischen Völker zu versklaven.«
An dieser Stelle meldete sich Amy zu Wort. »Aber Nathan war doch…?«
»Natürlich, die jungen Kellermans waren anders … aber selbst wenn sie derlei Ansichten abgelegt hatten, waren sie dennoch weiterhin überzeugte Zionisten. Fest entschlossen, Israel wieder zur Heimat der Juden zu machen und als solche zu erhalten.«
»Und?«
Angus sah Amy an. »Nimm doch nur mal Israel als Beispiel, Amy. Du bist Jüdin, du kennst das doch. Schon seit den siebziger Jahren deuten sämtliche demographischen Erhebungen in Israel immer nur auf eines hin: dass die Juden irgendwann sogar in ihrer angestammten Heimat den NichtJuden zahlenmäßig unterlegen sein werden. Und wenn das eintritt, wäre Israels Sicherheit nicht mehr gewährleistet, und es käme vielleicht zu einem zweiten Holocaust.«
»Und aus dieser Situation hätten Fischers Forschungsergebnisse einen willkommenen Ausweg geboten«, erklärte Simon. »Wenn sich nämlich der Nachweis erbringen ließe, dass die Juden eine Subspezies sind, die anders geartet ist als alle nicht jüdischen Menschen - oder zumindest darauf hinsteuert -, könnte dies als Rechtfertigung dafür gelten, NichtJuden in Israel zu diskriminieren. Wieso sollte man zum Beispiel in einem Land, das den Juden vorbehalten ist, einer anderen menschlichen Spezies das Wahlrecht zugestehen…?«
Amy schüttelte den Kopf. »Homo judaicusl Das ist doch so was von peinlich!«
»Aber die dahinterstehende Logik ist nur zu offensichtlich«, entgegnete Angus ruhig. »Wenn die Menschen nicht universell gleich sind, gelten auch die universellen Menschenrechte nicht. Wenn die Juden nachweislich anders - sprich überlegen - sind, dann stehen ihnen auch andere - sprich mehr - Rechte zu. Jedenfalls, wenn man diesen Gedankengang auf die Spitze treibt.«
»Deshalb«, ergänzte Simon, »wollten also die Kellermans Fischers Forschungsergebnisse für ihre zionistischen Zwecke haben - und wenn daraus nichts geworden wäre, hätten sie die Experimente einfach wiederholt, um noch einmal dieselben Resultate zu erhalten, ist es nicht so?«
»Mhm.« Angus gestikulierte im Lampenlicht. »Erstere Möglichkeit kam allerdings nicht mehr in Frage. Denn niemand wollte ihnen verraten, wo sich die Unterlagen befanden. Somit blieb ihnen nur die zweite Möglichkeit. Die Wiederholung der Experimente. Aber die Wissenschaft hat siebzig Jahre gebraucht, um von neuem zu beweisen, was die Nazis bereits in Gurs entdeckt hatten. Denn ausgerechnet in jüngster Vergangenheit, als die Wissenschaft auf dem besten Weg war, diesen Rückstand aufzuholen, formierte sich heftiger Widerstand gegen alles, was sich mit der Unterschiedlichkeit der menschlichen Rassen befasste und auch nur im Entferntesten nach Eugenik aussah. Das Human Genome Diversity Project in Stanford wurde auf den massiven Druck westlicher Regierungen - und der Kirche - eingestellt.«
»Deshalb setzten die Kellermans ihre Hoffnungen auf GenoMap?«
»Richtig. Die Untersuchungen, die wir bei GenoMap durchgeführt haben, wurden direkt von Kellerman Namcorp finanziert und gefördert. Als Dresler, dieser alte Nazi-Arzt, in den neunziger Jahren von Davids Vater enttarnt wurde, floh er nach Namibia und beriet GenoMap bei deren Forschungsbemühungen, mit denen man an Fischers Arbeit anknüpfen wollte. Er schlug sogar vor, noch einmal das Blut derselben Leute zu untersuchen: das der Überlebenden von Gurs, insbesondere der Cagots.
Und das Schönste ist«, fuhr Angus fort, »wenn Fazackerly den Mund gehalten hätte, wäre dieser Plan sogar aufgegangen. Aber dann brüstete er sich auf einem Kongress in Frankreich damit, dass er Eugen Fischers Experimente erfolgreich wiederholen würde. Ich war selbst dabei. Es war eine Katastrophe. Und das war vermutlich auch der Punkt, an dem die katholische Kirche auf den Plan gerufen wurde. Sie setzte die Piusbruderschaft auf die Sache an. Das ist, wie wir alle wissen, zum einen ein fanatischer Haufen, der vor nichts zurückschreckt. Zum anderen kannten sie das Geheimnis von Gurs bereits, sodass keine weiteren Personen eingeweiht werden mussten. Die Anfänge der Bruderschaft reichen bis in die Zeit der Vichy-Regierung zurück.«
Simon warf einen kurzen Blick in Davids Richtung, bevor er wieder seine Notizen zu Rate zog.
»Sympathisanten der Bruderschaft hatten frühere Versuche, das Geheimnis von Gurs aufzudecken, bereits mit Erfolg vereitelt. Als deine Eltern, David, nichts von all dem ahnend, nach Frankreich kamen, um die Wahrheit über die baskische Abstammung der Martinez’ herauszufinden, wurden sie kurzerhand …«
Amys Stimme war ungewohnt erregt, als sie Simon unterbrach. »Und die Piusbruderschaft hatte sich genau die richtigen Leute ausgesucht, um die Drecksarbeit für sie zu erledigen: ETA-Terroristen wie Miguel. Einfach perfekt! Ein bestens ausgebildeter Killer, der zugleich gläubiger Katholik ist und einen tiefen Hass gegen die Cagots hegt.«
Angus ging zu einer der Kisten und entnahm ihr ein Dokument mit schwarzen Prägedruck-Hakenkreuzen, die aussahen wie futuristische Lauburus.
»Hört sich durchaus einleuchtend an …«, bemerkte David zögernd. Er versuchte, nicht an seine Eltern und an seinen Großvater zu denken, er versuchte, an überhaupt nichts zu denken. Stockend fuhr er fort: »Dass sie ihn für ihre Zwecke eingespannt haben. Miguel, meine ich. Den Wolf. Denn er kannte sich ja auch bestens aus in dieser Region, im Baskenland, wo viele Cagots und Gurs-Überlebende lebten …«
Simon kam zum Ende der Geschichte.
»Es ging also wieder mit den Morden los. Mehrere Gurs-Überlebende wurden gezielt umgebracht. Von den wenigen noch lebenden Personen, die erwiesenermaßen Cagots waren, wurden einige nur aus dem einzigen Grund umgebracht, dass sie zur Volksgruppe der Cagots gehörten.« Er blickte sich in dem schwach beleuchteten unterirdischen Raum um und klappte sein Notizbuch zu. »Und das ist das tragische Schicksal der Cagots. Sie mussten ausgerottet werden. Denn sie waren der lebende Beweis dafür, dass es auch bei Menschen Speziation gibt, eben die Speziation, die möglicherweise eines Tages bei den Juden eintreten wird. Wenn man nun aber alle Cagots ausrottete und dazu all die, die nachweislich von Cagots abstammten, gäbe es keine Beweise mehr für das Eintreten einer Speziation. Sobald keine Cagots mehr existierten, könnten Fischers Experimente nicht mehr wiederholt werden. Die katholische Lehre wäre nicht mehr anfechtbar, die gemischtrassige Demokratie nicht mehr gefährdet. Und deshalb mussten die letzten noch lebenden Cagots sterben.«
Alle setzten sich zurück.
»Das war’s mehr oder weniger«, sagte Simon. »Totaler Wahnsinn.«
»Okay«, sagte David. »Dann aber nichts wie weg hier. Das Rätsel ist gelöst. Jetzt haben wir ein Druckmittel. Das Licht kann jeden Moment ausgehen …«
Angus hielt das letzte Dokument in der Hand.
»David, schau dir das mal an.«
Eisige Angst kroch in Davids Seele. Der Augenblick war gekommen. »Ja. Warum?«
»Das habe ich gerade gefunden. Und dabei ist mir ein Name ins Auge gefallen.« Er machte eine Pause. »Martinez …«
Er hielt David das Blatt Papier im Schein der Taschenlampe hin.
David griff danach und las es mit zitternder Hand. Las es ein zweites Mal mit zusammengeschnürter Brust. Er sah Amy an und dann Angus und dann wieder die Namensliste. Er konnte genügend Deutsch, um die Bedeutung zu erahnen: In seinem Kopf begann sich alles zu drehen. Mit zitternder Hand gab er Angus das Blatt Papier zurück.
»Lies es bitte den anderen vor …«, sagte er.
Behutsam nahm Angus das Dokument an sich und begann vorzulesen. Es war die Geschichte, die Jose Garovillo David nicht erzählt hatte … ihm nicht hatte erzählen können.
»Dein Großvater … dachte, er wäre Cagot. Aber in Wirklichkeit war er gar keiner. Es stimmte nicht. Steht alles hier. Er war ein junger, aufmüpfiger Baske und galt im Lager bald als Unruhestifter. Um ihn kleinzukriegen und ihm das Maul zu stopfen, steckten ihn die Deutschen kurzerhand in den Cagot-Block, in die Baracken der verhassten Unberührbaren. Sie redeten ihm ein, dass er Cagot sei. Aber in Wirklichkeit war er Baske. Und das Gleiche gilt auch für dich, David. Du bist Baske.«
David sah Amy an. Er empfand unbeschreibliche Erleichterung, eine Art beschämter Freude. Aber Amys Miene blieb angespannt und verkrampft, aus ihr sprach nur Angst und Entsetzen.
Und dann verflog auch seine Freude und wich ähnlicher Bestürzung. Ausgelöst von einem einzigen Wort.
»Epa!«
49
Entsetzt beobachtete Simon, wie Miguel mit einem breiten Grinsen seine Pistole auf Angus und David richtete. Der Terrorist wurde von mehreren Männern begleitet, die Waffen, Benzinkanister und flache silberne Päckchen bei sich hatten. Wahrscheinlich Sprengstoff. Die Männer machten sich am Rand des unterirdischen Raums an die Arbeit.
Die vier Freunde waren so mit der endgültigen Enthüllung des Geheimnisses beschäftigt gewesen, dass sie das Nahen des Wolfs und seiner Männer nicht bemerkt hatten. Und jetzt war er da.
Und sah Amy lächelnd an.
»Amy. Esti. Muchas gracias, senorita.«
Sie starrte finster zurück, und ihre Stimme war gespenstisch monoton, als sie antwortete: »Ja … ich habe getan … was ich versprochen habe.«
»Das hast du.«
Miguel lachte. Ein tieftrauriges Lachen. David spürte unbändige Wut in sich wie ein aufziehendes Gewitter.
»Du, Amy? Du? Du hast uns verraten?«
Sie brachte es nicht über sich, ihn anzusehen.
Miguel pflanzte sich vor David auf. Sein Atem roch nach Rotwein. Er mischte sich mit dem Gestank des Benzins, das seine Männer wortlos über die Holzkisten schütteten. David musste sofort an den Geruch des Scheiterhaufens in Namibia denken. Damals hatte ihn Amy gerettet. Jetzt hatte sie ihn verraten.
Miguel nickte fast mitfühlend. »Ja, natürlich hat sie dich verraten. Weil sie mich liebt, mich immer geliebt hat. Was sollte ihr dein Leben schon bedeuten …«
Ohne Miguel zu beachten, fuhr David Amy aufgebracht an. Sie hatte den Kopf gesenkt und den Blick abgewandt. Vielleicht weinte sie.
»Du also? Schon die ganze Zeit? Du hast ihnen gesagt, wohin wir wollten? Dass wir nach Namibia geflogen sind? Du hinterhältige, falsche …«
Miguel ging dazwischen. »Genug, das reicht!«
Aber David schimpfte weiter auf Amy ein, die sich ganz in das Dunkel zurückgezogen hatte.
Miguels Lächeln verflog.
»Du darfst ihr das nicht übel nehmen. Sie ist eine Frau. Arrotz herri, otso herri. Und außerdem hat sie die einzig richtige Entscheidung getroffen, David. Alles andere wäre moralisch nicht vertretbar. Denn der Gute, der Held dieser Geschichte, bin ich. Wir sind die Guten. Verstehst du denn immer noch nicht? Wir stehen auf der richtigen Seite.« Miguels Augenlid zuckte leicht. »Wenn das Wissen, das in diesem Keller verborgen liegt, an die Öffentlichkeit käme, würden ganze Nationen, ganze Rassen und Volksgruppen … in den Krieg getrieben. Menschen, die keine Menschen sind? Eine Rasse, die einer anderen überlegen ist? Denk doch mal nach. Unterschiedliche menschliche Spezies würden anfangen, sich gegenseitig zu bekämpfen. Man könnte Rassenhierarchien plötzlich legitimieren und die Nazi-Wissenschaft nachträglich rechtfertigen. Die demokratische Vielvölkerwelt - ein einziger Scherbenhaufen.«
»Aber die Wissenschaft lässt sich nicht aufhalten«, widersprach Angus. »Eines Tages werden diese Untersuchungen zur genomischen Vielfalt wiederholt werden, das ist unvermeidlich …«
»Glaubst du, Nairn?« Miguel wandte sich dem Wissenschaftler zu. »Bist du dir da wirklich sicher? Wir haben das Stanford Pro-ject abgewürgt. Wir haben GenoMap abgewürgt. Die Cagots sind alle tot. Fischers Experimente können also nicht mehr wiederholt werden. Wir waren auf der ganzen Linie erfolgreich. Das war auch dringend nötig. Oder möchtest du, dass wir werden wie die Tiere, wie Ratten, die sich ständig gegenseitig bekämpfen? Willst du das wirklich? … Umeak! Das ist doch total absurd!«
Er blickte sich um; inzwischen hatten seine Leute die Sprengladungen angebracht, die flachen silbergrauen Päckchen waren an den Wänden befestigt. Die benzingetränkten Holzkisten würden brennen wie Zunder. »Gut. Wir sind fast fertig. Bai.«
Gab es denn keinen Ausweg mehr? Hektisch zählte David Miguels Männer. Sie waren zu siebt oder acht. Schwerbewaffnet gingen sie mit stummer Effizienz ihrer Arbeit nach.
Es gab kein Entkommen. Und was spielte es noch für eine Rolle? Sie saßen in der Falle; sie hatten verloren; und er, David Martinez, würde sterben, verraten von der Frau, die er liebte. In dem Moment, in dem er die Wahrheit herausgefunden hatte. Welch bittere Ironie.
»Sind wir so weit?«
Einer der Männer drehte sich um.
»Bai, Miguel.«
»Sehr gut.« Der Wolf richtete sich an seine Gefangenen. »Ich möchte euch dafür danken, dass ihr mir geholfen habt, Fischers Forschungsergebnisse zu finden, nach denen andere - Einzelpersonen, Behörden, Regierungen - schon seit Jahrzehnten vergeblich gesucht haben.«
Miguel sah zuerst Simon, dann Angus und schließlich David an, als wollte er sich für das, was er als Nächstes sagte, ihrer uneingeschränkten Aufmerksamkeit versichern.
»Ihr dachtet natürlich, dass wir im Auftrag der Kirche arbeiten, richtig? Ihr habt gemerkt, dass die Piusbruderschaft dahintersteckt, und habt deshalb angenommen, die ganze Kirche würde im Hintergrund die Fäden ziehen. Die Heilige Mutter Kirche.« Er schüttelte mit einem verächtlichen Lächeln den Kopf. »Wir bekommen von dieser Seite vielleicht ein wenig Unterstützung, und auf einer bestimmten Ebene könnte man vielleicht von einem gewissen Maß an Kooperation sprechen. Aber glaubt ihr allen Ernstes, Rom hätte das Geld und die Mittel und die Entschlossenheit und die Brutalität, um all das zu tun, um all diese Menschen zu töten? Kardinäle mit Gewehren und Raketen? Wirklich? Bai? Haltet ihr das wirklich für möglich? Wollt ihr wissen, woher unser Geld tatsächlich kam?«
Das Lampenlicht war schwach, die Luft abgestanden.
»Das Geld kam von wesentlich höherer Stelle«, fuhr Miguel fort. Sagen wir einfach nur … Washington, London, Paris, Jerusalem, Beijing und natürlich Berlin. Enorm viel Geld und Unterstützung aus Berlin. Es gibt vor allem eine Regierung, die es als ihre ausdrückliche Pflicht, ja sogar als ihr Schicksal betrachtet, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass der Faschismus, egal in welcher Form, niemals wieder sein Haupt erhebt. Sie täten fast alles, um Deutschland von seiner Schmach reinzuwaschen und die Welt vor wissenschaftlich untermauertem Rassismus zu bewahren. Auf jeden Fall schrecken sie nicht davor zurück, auch Fanatiker und Terroristen für ihre Zwecke einzuspannen … obwohl sie natürlich geflissentlich dafür Sorge tragen, dass diese Leute auf keinen Fall mit ihnen in Verbindung gebracht werden können und jederzeit - welch grandiose Wortschöpfung - >glaubhafte Abstreitbarkeit< gewährleistet ist. «
Er machte einen Schritt zurück. »Bai … David … und du, Angus Nairn … und du, Quinn. Ihr werdet sicher verstehen, dass wir niemanden am Leben lassen können. Deshalb werdet ihr zusammen mit Fischers Forschungsergebnissen für immer hier begraben werden. Nola bizi, hala hil. Dieser Raum hier wird zubetoniert. Die Gaststube zerstört, der Gang zugeschüttet.« Er hielt ein Kästchen hoch, den Fernauslöser für die Sprengladung. »Ihr bekommt ein richtig eindrucksvolles Grab. Ist doch schön, oder?« Er lächelte im Schein der Taschenlampen.
Seine letzten Worte waren noch nicht ganz verhallt, als Amy aus dem Dunkeln nach vorn kam. Ihr Gesicht war plötzlich sehr lebendig, und wütend.
»Miguel, du hast gesagt, du würdest sie verschonen.«
»Mazel tov. Das hast du doch hoffentlich nicht im Ernst geglaubt?«
»Aber Miguel … du hast gesagt, du würdest sie meinetwegen verschonen … du hast es mir versprochen …«
Sie starrte den Terroristen finster an. Er erwiderte ihren Blick abschätzig.
»Glaubst du etwa, ich würde dich so sehr lieben? Mein Ferkelchen? Die Hure, die mit dem Amerikako gefickt hat? Hm?«
Amys Gesicht wurde von der Petroleumlampe beschienen. Es lag ein Leuchten, ein flehentlicher Ausdruck auf ihren Zügen. Sie stolperte über ihre Worte.
»Aber ich habe nie … mit David geschlafen.«
Die Feststellung war absurd. Warum sagte sie das? Miguel tat es mit einer verächtlichen Handbewegung ab.
»Ich habe nie mit ihm geschlafen, Miguel«, sagte sie noch mal. »Und das ist wichtig … weil… weil…«
Amy geriet ins Stocken, sie hob die Hand an ihr Gesicht. Sie wollte etwas sagen, brachte es aber nicht über die Lippen. Trotz der Dunkelheit konnte David sehen, dass sie die Hand schützend auf ihren Bauch gelegt hatte.
Für David brach eine Welt zusammen, als er blitzartig begriff. »Nein!«
Dieses eine Wort war so einsam und doch so fest, dass alle sich zu ihm drehten. »Du bist schwanger?«
Miguel machte einen Schritt nach vorn. David sah Amy unverwandt an.
»Du bist schwanger«, sagte er. »Und du weißt, es ist von ihm. Du weißt, es ist von ihm?«
Dieser letzte Stich war zu viel für Amy. Tränen strömten über ihr Gesicht. Sie nickte und packte den Arm des Terroristen, zog seine dunkle Pranke auf ihren Bauch und legte seine Handfläche auf ihren Nabel.
»Es ist von dir, Miguel. Es ist von dir.«
Davids Tragödie nahm kein Ende. Zuerst hatte Amy ihn - sie alle - verraten, und jetzt noch das? Er schaute nach allen Seiten, zu Simon und Angus. Sie standen beide da und starrten auf Miguel, auf Amy, auf den Fernauslöser für die Sprengladung.
»Ich habe einen Sohn …« Miguels Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, heiser und triumphierend. »Ich habe einen Sohn!
Ein Kind. Eine Tochter.« Seine Augen leuchteten. »Die Garovillos leben … der Name lebt weiter …?«
Er ging zu einer der Kisten und griff nach seiner Pistole.
»Amy, was ich jetzt tue, tue ich nur für dich. Ich werde sie jetzt erschießen. Das ist ein schönerer Tod, als bei lebendigem Leib zu verbrennen. Hauxe de lorra! Ich werde deine Freunde jetzt erschießen. Damit sie nicht leiden müssen.«
Miguel deutete mit der Pistole auf David. Seine Männer hielten die Hände hinter dem Rücken verschränkt und standen abwartend da.
»Hinknien!«, befahl Miguel barsch. David schüttelte den Kopf. »Hinknien!«
»Da kannst du lange warten.«
Miguel ging zu David, legte ihm seine derbe, kräftige Pranke auf die Schulter und drückte ihn zu Boden. David blieb keine andere Wahl. Die Pistole war wenige Zentimeter von seinem Ohr entfernt. Seine Knie gaben nach, und er sank auf den Betonboden und kniete in der Dunkelheit.
Amy sah David an. Mit glänzenden Augen. Er verfluchte sie mit einem vernichtenden Blick. Inzwischen empfand er nur noch Hass für sie. Genoss sie das Schauspiel? Fuhr sie darauf ab? Hatte sie ihn nie geliebt? Immer nur Miguel?
Miguel ging vor David in die Hocke und hielt den Lauf der Pistole zehn Zentimeter vor seine Augen. Sein Lächeln war eher ein anerkennendes Spitzen der Lippen, der Gesichtsausdruck eines Gourmets, der seine Freude über ein besonders gelungenes Gericht zum Ausdruck brachte.
Und dann schrie Amy plötzlich: »Ich töte das Baby. Hör auf. Hör sofort auf.«
David riss den Kopf herum.
Amy hatte Simons Messer gepackt und seine Spitze auf ihren Bauch gerichtet, auf das Ungeborene. Bereit, jeden Moment zuzustoßen.
David blickte zu Angus, der verdutzt den Atem anhielt.
»Lass sie laufen, Miguel«, sagte Amy noch einmal, lauter dieses Mal. »Sonst töte ich das Kind. Deinen Sohn. In meinem Schoß. Ich werde ihn töten. Lass sie laufen, dann kannst du meinetwegen alles in die Luft sprengen. Aber lass sie laufen.«
Wütend, mit dem wilden Schrei eines Wolfs, sprang Miguel auf und stürzte auf Amy zu, um ihr das Messer zu entreißen. Doch sie stieß bereits nach ihrem Bauch; gleichzeitig schrie sie in Richtung Simon:
»Die Lampe!«
Aber es war schon zu spät. Die Petroleumlampe rollte über die Holzkisten und krachte gegen die Wand. Die herumliegenden Dokumente und das benzingetränkte Holz fingen sofort Feuer. Der unterirdische Raum ging in einer riesigen Stichflamme auf, die die Luft zum Glühen brachte und mit ihrem schwarzen Rauch alles Leben erstickte. Ein Mann schrie wie am Spieß; sein Haar hatte Feuer gefangen. Miguel versuchte, Amy zu packen. Und dann sah David, wie Angus mit seiner Taschenlampe ausholte und sie auf Miguels Schädel niedersausen ließ. Das grässliche Knacken war sogar in dem lauten Tumult deutlich zu hören.
David bekam nicht mehr mit, was um ihn herum vorging. War Miguel von dem Schlag zu Boden gegangen? Und wo war Simon? Die Luft war voller Staub und heißem Rauch, alle schrien wild durcheinander, die Flammen breiteten sich gierig aus. Amy? Und dann brüllte jemand: »Schnell raus hier! Der Sprengstoff!«
Alle rannten los. In einem heillosen Durcheinander trampelnder Körper drängten sie zur Tür und flohen durch den Gang. Nur David zögerte und drehte sich noch einmal um. Er sah Miguel blutend am Boden liegen und auf dem Beton herumtasten. David wurde klar, dass er nach dem Fernauslöser suchte, um den Sprengstoff zu zünden. Er bückte sich und versuchte, das Kästchen an sich zu reißen. Aber er war zu spät.
»Nein…«
»David!«, schrie Amy.
Ihr Schrei wurde von einer seltsam gedämpften Explosion übertönt. Einen Augenblick lang erbebte der unterirdische Raum - und dann kam die Druckwelle.
Es war wie ein Hieb von Gott. David wurde in eine Ecke geschleudert und knallte auf den Betonboden. Um ihn herum war nichts als Rauch und Dunkelheit.