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Simon stand am Flugsteig A des Lyoner Flughafens Saint Exupery neben einer Gruppe verbannter Raucher an einer Telefonzelle. Über den Terminals ging eine wässrige Oktobersonne auf. Die ersten Flugzeuge stiegen dröhnend in den grauen Morgenhimmel.

Simon wog die glänzenden Euromünzen in seiner Hand. Er hatte in der Nacht immer wieder Suzie anzurufen versucht, aber sie war nicht ans Telefon gegangen. Waren sie und Conor in Sicherheit? Wo war Tim? Sein Herz gestand seine Schuld - quittiert von einem schmerzhaften Stich. Zwar hatte er von dem Mönch in La Tourette einiges erfahren, aber war es das wert gewesen? Und wenn ihnen nun etwas zugestoßen war? Wo steckte Suzie? Möglicherweise war sie auch nur arbeiten gegangen. Aber um diese Zeit? Und Conor? Was war mit Conor? Wo war seine Schwiegermutter? Und wo war Tim?

Die Fragen marterten seine Seele.

Es gab niemanden mehr, den er anrufen konnte. Auch bei seinen Eltern hatte er es bereits versucht, vergeblich …

Ihm blieb keine andere Wahl. Er musste mit der Polizei telefonieren. Simon blickte auf die Münzen in seiner Hand hinab. Eins, zwei, drei…?

An den Münzen fummelnd, fütterte er den Apparat. Nach einigem Läuten ging jemand dran. »DCI Sanderson.«

Simon zögerte - holte tief Luft. Und dann brachen die Fragen aus ihm hervor. Tim. Conor. Suzie. Conor. Tim. Der Inspektor fiel ihm ins Wort.

»Immer mit der Ruhe, Quinn, keine Hektik. Ich bin ja da. Nur keine Aufregung. Rufen Sie von einem Münzapparat an?«

»Ja.«

»Von wo?«

Zweifel schlichen sich in Simons Gedanken.

»Irgendwo in Frankreich. Mein neues Handy habe ich weggeworfen. War mir zu riskant. Ich weiß nicht mehr … wem ich noch trauen kann … aber sagen Sie schon endlich: Was ist los?«

Sehr behutsam antwortete Sanderson: »Es geht ihnen gut. Ihrer Frau und Ihrem Sohn … geht es gut. Aber … es hat sich … einiges getan. Gestern Nacht. Ich bin gerade auf dem Weg in das Büro meines Chefs. Ich rufe Sie gleich zurück, ja? Geben Sie mir nur schnell Ihre Nummer.«

»Es hat sich einiges getan? Ist mit Conor auch wirklich alles okay? Haben sie Tim gefunden?«

»Conor geht es bestens. Suzie ebenfalls. Sie sind in Sicherheit. Geben Sie mir Ihre Nummer.«

Simon schluckte seine Ängste hinunter, sie hatten den grässlichen Geschmack von Galle - so als hätte er sich vor kurzem übergeben. Um den Lärm der Flugzeuge auszublenden, steckte er einen Finger in das freie Ohr und gab Sanderson die Nummer durch.

»Warten Sie dort«, sagte der DCI. »Ich werde gleich mit dem CS sprechen. Warten Sie dort und … vertrauen Sie mir, ja?«

Simon nickte und hängte auf. Er starrte auf das stumpfe Metall des Münzapparats.

»Bonjour…«

Er wirbelte herum. Hinter ihm stand ein sympathisch aussehender Franzose in schicken Jeans und mit einem türkisen Kaschmirpulli über der Schulter; er deutete lächelnd auf das Telefon.

»Je voudrais telephoner.« Simon knurrte. »Verschwinden Sie.« Der Mann sah Simon an. Verdutzt. Simon knurrte noch einmal.

»Gehen Sie weg! Merci beaucoup, verdammte Scheiße noch mal!«

Der Franzose machte ein paar Schritte rückwärts, dann drehte er sich um und rannte davon. Das Telefon läutete. Simon hob ab.

»Okay…« Sandersons Ton war nüchtern, aber mitfühlend. »Ich wollte mich von CS Boateng nur noch auf den neuesten Stand bringen lassen.«

»Was genau hat sich alles getan?«

»Ich habe zusätzliche Leute zugeteilt bekommen, die auf Ihre Frau und Ihren Sohn aufpassen. Und auf Ihre Eltern. Deshalb haben sie nichts zu befürchten. Niemand kommt an sie ran - weder diese religiösen Fanatiker noch sonst jemand. Niemand kommt auch nur in ihre Nähe. Wir haben Sie nur deshalb nicht angerufen, weil wir nach allem, was passiert ist, sehr vorsichtig sind …«

Mit Erschrecken begann Simon zu dämmern, wohin dieses Gespräch führen würde.

Der Polizist bestätigte seine Ahnung.

»Es geht um Tim, Simon. Um Ihren Bruder Tim. Warum haben Sie uns nichts von Tim gesagt?«

»Ich … weiß nicht… ich weiß es einfach nicht.«

Simon schauderte vor Reue. Tim. Natürlich. Warum hatte er ihnen von Tim nichts gesagt? Als Sanderson ihn nach Familienangehörigen gefragt hatte, die möglicherweise unter Polizeischutz gestellt werden müssten, hatte er Tim nicht erwähnt. Warum? Hatte es daran gelegen, dass er sich Tims schämte? Oder weil er nicht an Tim denken wollte? Oder weil er wirklich gedacht hatte, Tim habe nichts zu befürchten und sei deshalb nicht wichtig?

Vielleicht trafen alle drei Erklärungen zu, verschlungen zu einem Knoten des Leugnens und Verdrängens.

»Was ist mit ihm? O mein Gott. Ist er …«

»Nein, tot ist er nicht. Aber wir wissen, dass er entführt wurde. Gekidnappt.«

»Woher wissen Sie das? Sind Sie sicher, dass er nicht bloß ausgerissen ist?«

Sandersons Stimme war trocken und kühl. »Leider ja. Wir haben eindeutige Beweise. Sie haben ihn entführt.«

»Beweise?«

»Ein Video. Sie haben es uns gemailt. Die Entführer haben es gestern spätnachts an alle Beteiligten geschickt. An Ihre Frau, Ihre Eltern und natürlich auch an Sie, nehme ich mal an. Wenn Sie Ihre Mails abrufen, werden sie es finden. Ich rate Ihnen allerdings dringend, das Video zu löschen.«

»Wie bitte?«

»Sehen Sie es sich nicht an, Simon. Sehen Sie es sich auf keinen Fall an!«

»Warum nicht?«

»Es ist… sehr beängstigend.«

Ein Flugzeug landete mit einem bösartigen Dröhnen. Simon drückte den Hörer fester an sein Ohr. »Foltern sie ihn?«

»Nein. Aber sie … benutzen ihn. Um mit Ihren Gefühlen zu spielen. Sie machen das sehr geschickt. Sie wollen Ihre Gefühle, Ihr schlechtes Gewissen nutzen, um Sie gefügig zu machen. Und sie benutzen ihn, um Druck auf Sie auszuüben. Sie wissen offensichtlich, dass Sie mit Martinez und Myerson in Kontakt stehen. Sie wollen alles von Ihnen wissen - alles. Tim befindet sich in großer Gefahr.«

»Und was soll ich jetzt machen? Was kann ich machen? Nach Hause kommen?«

»Nein.«

»Was dann?«

»Tauchen Sie unter.«

Um sicherzugehen, dass er richtig gehört hatte, drückte Simon den Hörer fester an sein Ohr. »Untertauchen? Sie wollen, dass ich mich einfach… verstecke?«

»Vorerst ja.« Sandersons Stimme senkte sich. »Tut mir leid, aber ich muss Ihnen das leider sagen. Sie haben sich ganz allein dafür entschieden, so zu handeln, wie Sie gehandelt haben. Jetzt sehen Sie, was dabei herausgekommen ist. Ich will Ihnen hier keine Vorwürfe machen. Aber … nach Frankreich zu fahren, ohne uns zu informieren. Das war nicht sehr schlau. Aber wie gesagt, so haben Sie sich nun mal entschieden. Und jetzt gehen Sie wahrscheinlich ein größeres Risiko ein, wenn Sie nach London zurückkommen. Möglicherweise werden Sie unterwegs entdeckt. Sicher rechnen sie damit, dass Sie mit Ihrer Familie Kontakt aufzunehmen. Ihre Freunde haben doch gesagt, dass wir der französischen Polizei nicht trauen können, oder? Die Sache ist also ganz schön haarig. Wer weiß, wo sie überall ihre Leute haben.« Er seufzte laut. »Das Wichtigste ist - Ihre Frau und Ihr Sohn sind in Sicherheit. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Meine Männer sind sehr zuverlässig. Und es gibt nichts, was Sie tun könnten, um uns bei der Suche nach Tim zu helfen.«

»Ich soll also hierbleiben?«

»Ja, bleiben Sie vorerst, wo Sie sind, bis wir Näheres wissen. Tauchen Sie in Frankreich oder Deutschland unter. Dank Schengen können Sie unbemerkt nach Deutschland einreisen. Ziehen Sie den Kopf ein. So tief wie es nur irgend geht. Sie wissen hoffentlich, dass Sie jetzt nur noch Münztelefone benutzen dürfen.«

»Ja.«

»Und rufen Sie auch nie zweimal vom selben Münztelefon an. Mich erreichen Sie wie bisher … Bei Ihrer Frau sollten Sie es allerdings unter dieser speziellen Nummer versuchen.«

Simon klopfte seine Taschen ab und fand einen Stift. Er notierte sich die Nummer.

Der DCI seufzte.

»Simon … es tut mir wirklich leid. Aber Sie sollten sich … auf das Schlimmste gefasst machen. Und sehen Sie sich auf keinen Fall dieses Video an. Sie wissen, wie brutal diese Dreckskerle sind. Wir hören voneinander.«

Aus dem Hörer kam ein Klicken, gefolgt von einem leisen Drrrrrr. Simon dachte an die letzte Begegnung mit seinem Bruder - »Ich habe einen Hund für dich gemacht, hoffentlich gefällt er dir.«