19
Es fiel David schwer, Madame Bentayou anzusehen. Schließlich fragte er: »Woher kannten Sie meinen Vater?«
Die alte Frau setzte sich an den Küchentisch und legte die Hände um eine leere Tasse. »Ich habe ihn hier in Gurs kennengelernt. Vor fünfzehn Jahren.«
»Als er ermordet wurde … mit meiner Mutter?« David spürte, wie sein Herz schneller schlug.
»Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen die Stelle zeigen, wo sie gestorben sind. Sie ist nur wenige Minuten von hier entfernt, im Lager.«
Eine Katze war in die Küche gekommen; sie tappte zu der Untertasse und begann, an der sauren Milch zu lecken. »In welchem Lager?«
Eloises Großmutter zuckte müde mit den Achseln.
»Können Sie mir die Stelle bitte zeigen?«, fragte David.
Die alte Frau antwortete sehr behutsam. »Natürlich kann ich sie Ihnen zeigen.«
Es war ein zehnminütiger Spaziergang durch die laubreiche Trostlosigkeit eines heruntergekommenen Vororts, vorbei an einer hässlichen Kirche und einer nicht besonders einladenden Brasserie, eine endlos lange, schnurgerade Straße entlang. Sie näherten sich den alten, von Brennnesseln überwucherten rostigen Bahngleisen - und überquerten sie nervös, als fürchteten sie, von einem Zug überfahren zu werden, obwohl der Betrieb auf der Strecke offensichtlich schon seit Jahrzehnten eingestellt war. Das Areal schien unnatürlich eben. David fragte sich, warum es so tot wirkte. So desolat und verlassen.
Durch das kühler werdende Zwielicht schwirrten schwarze Insekten. Über eine weite Kiesfläche, die in regelmäßigen Abständen von rechteckigen betonierten Flächen durchsetzt war, gingen sie auf das hohe Kreuz in der Mitte zu. Madame Bentayou, immer noch in ihrer Strickjacke und den Schottenmusterpantoffeln, setzte sich mit ihrer Enkelin auf eine Holzbank. David blieb stehen und fragte die alte Cagot-Frau: »Das ist also das Lager? Und das Kreuz? Was hat es damit auf sich?«
Mit einer matten Handbewegung deutete Madame Bentayou auf das unkrautüberwucherte Gelände mit den rissigen grauen Betonflächen.
»Das hier war ein Nazilager. Ein Konzentrationslager.«
Sie verstummte.
David blickte sich um. Das also war der Grund für die seltsame Trostlosigkeit, die Gurs ausstrahlte - niemand wollte mehr in dem von seiner leidvollen Geschichte vergifteten Ort leben.
»Die Nazis haben … den ganzen Südwesten Frankreichs besetzt, bis hinunter zur spanischen Grenze«, fuhr die alte Frau fort. »Die Grenze zu Vichy, dem Marionettenstaat Petains, befand sich hundertfünfzig Kilometer weiter östlich. Das hier war das größte KZ Südwestfrankreichs.«
»Und wer wurde hier interniert?«
»Die üblichen Personen. Das Mahnmal dort drüben, das Kreuz mit den Glaswänden, wurde zum Gedenken an sie errichtet.« Sie deutete nach links. »Die zwei Baracken dort drüben stammen noch aus dieser Zeit. Sie wurden erhalten.«
Amy runzelte die Stirn.
»Sie haben hier Juden eingesperrt?«
»Ja. Aber auch …« Madame Bentayou hielt inne. »Alle möglichen Leute. Ursprünglich war das Lager ein Gefängnis für spanische Bürgerkriegsflüchtlinge, und dann übernahmen es die Nazis. Deshalb gab es dort bereits jede Menge Kommunisten und natürlich auch Basken. Unter den Nazis kamen dann noch Juden und Zigeuner dazu. Und andere Minderheiten.«
Das Lagergelände war von schmuddeligen Pfützen überzogen, in denen sich die Wolken eines aufziehenden Gewitters spiegelten. Davids Blick wanderte in den hinteren Teil des riesigen Areals, wo sich ein von einer niedrigen Mauer umgebener Bereich befand.
Dort war ein zweites Kreuz errichtet worden, ein weiteres Mahnmal.
Die alte Frau bemerkte Davids Blick.
»Das ist auch eine Gedenkstätte. Denn das war der … der berüchtigtste Teil des Lagers.«
»Warum?«
Madame Bentayou machte eine Pause, als müsste sie sich für das Kommende wappnen.
»Dort war die medizinische Abteilung. Es war furchtbar. In diesem Teil des Lagers haben die Deutschen … dort haben sie die Experimente gemacht… wissenschaftliche Experimente. Medizinische Versuche.«
Die alte Frau hielt ein zerknülltes Taschentuch in ihrer Faust, um die Tränen, so sie kommen sollten, aus ihren Augen zu tupfen. Sie fuhr fort: »Blutuntersuchungen. Gewebeuntersuchungen. Schreckliche Gräuel. Menschen wurden getötet und gefoltert. Viele Menschen.«
Ihre Worte gerieten ins Stocken, sie war den Tränen nahe. David dämmerte die grausige Wahrheit.
»Madame Bentayou.« Die Wörter kamen ihm nur mühsam über die Lippen. »Waren Sie auch in diesem Lager?«
Die Stimme der alten Frau war kaum mehr als ein Flüstern.
»Oui. Ich war hier. Als kleines Mädchen. Und meine Mutter, sie war auch in diesem Lager. Wie viele andere Cagots.« Sie schüttelte den Kopf. »Deshalb weiß ich, was Sie als Nächstes fragen werden. Sie wollen wissen, warum wir nach dem Krieg nicht von hier weggezogen sind?« Der Blick, den ihm die alte Frau zuwarf, war voll leidenschaftlichen Trotzes. »Die Cagots sind schon tausend Jahre hier, wir lassen uns nicht so einfach vertreiben! Von niemandem! Wir bleiben. Wir bleiben immer, es sei denn, sie bringen uns um.« Sie wischte ihre Tränen mit dem Taschentuch fort. Dann schien sie ihre Gefühle wieder im Griff zu haben. »Monsieur Martinez …«
»Sagen Sie doch bitte David zu mir.«
»Monsieur David, ich würde jetzt gern nach Hause gehen.
Es tut mir leid. Aber wie Sie sicher verstehen können, nimmt mich das alles sehr mit. Normalerweise spreche ich nie darüber.«
Sie erhob sich von der Bank. David spürte die nicht gestellte Frage wie einen körperlichen Schmerz. »Bitte - ich bitte Sie, ich muss unbedingt wissen, was mit meinen Eltern passiert ist.« Ihm entging nicht, wie fordernd sein Ton war. Aber das war ihm jetzt egal. »Was wollten sie hier? Wo wurden sie ermordet? Wieso kannten Sie sie?«
Die Miene der alten Frau war sehr ernst. »Ihr Vater… kam nach Gurs. Und ich erkannte ihn sofort.«
»Wie das?«
»Weil er wie Ihr Großvater aussah. Non? Oder etwa nicht?«
»Doch«, sagte David. »Doch, es stimmt. Dunkles Haar, breite Schultern. Groß…«
»Ich habe sofort Ihren Großvater in Ihrem Vater gesehen, genau so, wie ich ihn in Ihren Zügen entdeckt habe. Sie sehen sich alle drei sehr ähnlich … und wissen Sie, was ich Ihrem Vater gesagt habe? Ich habe ihm gesagt: >Monsieur Eduardo, ich war mit Ihrem Vater, Sergio Martinez, im Lager …<«
»Mit meinem Großvater.«
»Ja.«
Ein kühler Wind kam auf. Er fuhr in die Pappeln, die den Rand des Lagers bewachten; als beunruhigte sie der unerwartete Luftzug, gerieten ihre Zweige in heftigen Aufruhr.
»Ihrem Vater war das vollkommen neu«, fuhr die alte Frau fort. »Er wusste nichts über Ihre Familiengeschichte, und das war auch der Grund, weshalb er hierhergekommen war: um die Wahrheit über seine Vergangenheit herauszufinden.« Ihre Augen waren halb geschlossen. »Er wusste nicht, dass Ihr Großvater Baske war und dass er im Krieg in einem Lager war. Also habe ich es ihm erzählt. Und, David, nachdem Ihr Vater und Ihre Mutter das herausgefunden hatten, blieben sie hier. Zwei Wochen. Sie stellten weitere Fragen … Ihr Vater Eduardo ging mit Ihrer Maman immer in die Brasserie von Gurs. Ich glaube, mein Mann hat ihm viel erzählt, über das Lager und auch über andere Leute.« Sie seufzte ruhig. »Ich bin schon seit zehn Jahren Witwe.«
»Und was haben sie dann gemacht? Meine Eltern waren einen ganzen Monat in Frankreich.«
»Ja … danach fuhr Ihr Vater etwa eine Woche - vielleicht auch etwas länger - in die Provence und möglicherweise auch noch woandershin. Warum, weiß ich nicht. Aber … als er mit Ihrer Mutter zurückkam, hatte er noch mehr Fragen. Weiter gehende Fragen. Über das Lager und die Basken und die Cagots. Über Eugen Fischer. Über alles Mögliche. Auch über einen bestimmten Lagerinsassen, einen Verräter.«
»Wer war das?«
»An seinen Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber vielleicht fällt er mir wieder ein. Später. Das sind schreckliche Erinnerungen für mich, für jeden Cagot, überhaupt für jeden.«
David spürte, dass jetzt der Augenblick gekommen war, die entscheidende, die unvermeidliche Frage zu stellen. Er kam sich vor wie auf einer stillgelegten Bahnstrecke, die plötzlich wieder in Betrieb genommen worden war und auf der jetzt ein Zug auf ihn zuraste, mit der schrecklichen Wahrheit in den rostigen braunen Waggons.
»Wo wurden sie umgebracht? Meine Mutter und mein Vater?«
Madame Bentayou deutete auf die Straße, die am Rand des Lagers entlangführte. Dahinter war ein Feld mit verwelkten Sonnenblumen, die aussahen wie abgestorbene Bäume aus verkohltem, zerfetztem Papier.
»Dort drüben. In ihrem Auto. Es gab eine gewaltige Explosion. Jemand hat ihr Auto in die Luft gesprengt… zumindest dachten das die meisten in Gurs und Navarrenx. Die Polizei ist der Sache nie ernsthaft nachgegangen. Genauso, wie sie auch nichts unternommen haben, als vor ein paar Wochen … mein Sohn und seine Frau ermordet wurden.« Madame Bentayous Stimme zitterte. »Ich frage mich schon, ob hinter all diesen Morden nicht vielleicht dieselben Leute stecken. Ich glaube nämlich, bei beiden Gelegenheiten einen bestimmten Mann im Ort gesehen zu haben, denselben Mann; er war auffallend groß. Aber Sie müssen entschuldigen, wahrscheinlich ist alles nur dummes Zeug, was ich da rede. Ich bin ja verrückt. Meine Enkelin glaubt jedenfalls, dass ich langsam den Verstand verliere. Aber ich gehe jetzt. Ich möchte erst mal allein sein. Wenn Sie wollen, können wir später noch einmal über alles reden.«
Müde stand Madame Bentayou auf. Sie kam ganz nah auf David zu, drückte mit ihren kalten kleinen Händen seine Hand und sah ihm in die Augen. Dann drehte sie sich um und ging durch den Wald zu ihrem Bungalow zurück.
David sah ihr lange hinterher. Auch er hatte das Bedürfnis - das starke Bedürfnis -, allein zu sein. Er ging zu der Straße, auf die Madame Bentayou gedeutet hatte. Und als er auf den Asphalt blickte, fragte er sich, entgegen jeder Vernunft, ob die Reifenspuren noch zu sehen wären. Oder sonst irgendwelche Hinweise auf die Explosion. Fünfzehn Jahre danach. Winzige Quarzpartikel der Windschutzscheibe, immer noch in den Vertiefungen der rauen Straßenoberfläche versteckt. Flecken vom Blut seiner Mutter. Ein rot verschmierter Grashalm. Und ein Auto, schwarz verkohlt und total zerstört, mit zwei Leichen darin.
Aber da war nichts. Zehn Minuten stand er im kalten Wind, dachte nach und versuchte, sich zu erinnern. Seine Mutter in einem blauen Kleid. Lächelnd und lebendig. Er wollte nach ihr greifen, als hoffte er, ihren Geist sehen zu können, genau hier, an der Stelle, an der sie gestorben war. Er war ein kleiner Junge, der in die Arme seiner lächelnden Mutter lief. Die Traurigkeit der ganzen Geschichte war so deutlich spürbar wie der Wind, der von den Bergen herunterkam.
Die Sonne war verschwunden, und die Luft war kalt.
Er kehrte zu den zwei Mädchen zurück. Eloise telefonierte. Ihr Gesichtsausdruck war hochkonzentriert. Sie wandte sich David zu.
»Es ist meine Großmutter. Der Name ist ihr wieder eingefallen, Monsieur David. Der Name des Verräters. Er war Jose. Jose …«
»Garovillo?«
»Ja.«
David warf Amy einen kurzen Blick zu. Wie bitte? Aber in diesem Moment schrie Eloise ins Handy: »Grandmere? Grandmere!«
»Was ist?! Eloise! Was ist denn?!«, rief Amy besorgt.
Das Cagot-Mädchen steckte das Handy ein.
»Sie sagt, es kommen Männer ins Haus. Sie sagt, sie erkennt ihn … es ist der Mann … der Mann, den sie schon mal hier gesehen hat…«
Eloise lief bereits über das Lagergelände davon. Zu ihrer Großmutter.
Auch David und Amy rannten los. Der Schweiß stach in Davids Augen, als er Eloise einzuholen versuchte - aber sie lief erstaunlich schnell; sie war jung, erst siebzehn. Inzwischen hatten sie das Bahngleis überquert und hetzten an der abblätternden Holztür der Brasserie vorbei. Eloise lief, um ihre Großmutter zu retten; David lief, um Eloise zu retten und vielleicht sie alle. Die Logik des Ganzen explodierte in seinem Kopf wie die Zeitrafferaufnahme eines organischen Prozesses: wie eine dunkel erblühende Rose.
Es musste Miguel sein, es war Miguel, der hinter den Morden steckte. Es war Miguel, der Wolf, der die Cagots abschlachtete, der alle abschlachtete. Ein Fuchs, der die Hühner riss - zum Spaß.
Durch die Bäume hindurch konnte David bereits den Bungalow sehen.
Kamen sie zu spät? Im Dämmerlicht wirkte die Straße noch stiller und verlassener. Ein rotes Auto war nirgendwo zu sehen. Im Bungalow schien alles seine Ordnung zu haben. Doch dann - ganz kurz - sah David ein dunkles Gesicht an einem der Fenster. Ein großer Mann. Der Kopf verschwand wieder. Eloise begann zu schreien, aber David packte sie von hinten und zog sie in den Schutz der Bäume zurück. Er legte ihr die Hand auf den Mund.
»Eloise«, zischte er in ihr Ohr. »Der Mann da drinnen ist ein Psychopath. Er ist unglaublich brutal. Er hat auch uns umzubringen versucht. Er bringt jeden um. Deine Mutter und deinen Vater. Er wird auch dich umbringen …«
Halb setzte sich Eloise gegen David zur Wehr, halb ergab sie sich schluchzend ihrem Schmerz. Was sollte er tun? David merkte, er durfte sie nicht zurückhalten - es war irgendwie nicht richtig. Wenn sie ihre Großmutter retten wollte, wenn sie bei dem Versuch, sie zu retten, sterben wollte, durfte er sie nicht daran hindern. Mit einem erschöpften Seufzen ließ er sie los und sank gegen einen Baumstamm zurück.
Amy zischte eine Warnung, aber Eloise reagierte nicht darauf. Sie machte ein paar Schritte, wartete, schaute - im Bungalow brannte Licht -, und dann rannte sie über die Straße und zu ihrer Großmutter. Wie gelähmt stand David da - eine halbe Minute lang. Dann flüsterte er Amy heiser zu: »Was machen wir jetzt? Was machen wir jetzt bloß, verdammte Scheiße?«
Amy hob die Hand und artikulierte stumm das Wort »Eloise«.
Und tatsächlich, das Mädchen kam zu ihnen zurückgerannt, ihr Gesicht angstverzerrt, ihre jungen Lippen vor Entsetzen zitternd.
»El…«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Das silberne Kreuz an ihrem Hals schimmerte im Schein einer einsamen Straßenlaterne.
»Ich … ich … ich habe …«, stammelte sie, gegen ihre Tränen und Schluchzer ankämpfend. »Ich … habe durchs Fenster geschaut.«
»Und?«
Ein weiteres Kopfschütteln. Das Mädchen sagte kein Wort. Es stand nur zitternd da, wie eine verängstigte Gazelle, die die Nähe eines Raubtiers spürt. Amy legte Eloise die Hand auf die Schulter; David holte das Handy aus seiner Hosentasche und drückte es ihr in die Hand. Dann flüsterte er mit großem Nachdruck: »Ruf die Polizei an. Ruf sie an. Auch wenn du ihnen nicht traust…«
Eloise hob das Handy und wählte. Aufgeregt flüsternd versuchten Amy und David, zu einer Entscheidung zu kommen, wohin sie fliehen, wo sie sich verstecken könnten. Denn bisher hatte Miguel sie immer wieder aufgespürt; vielleicht war es aussichtslos. Eloise sprach aufgeregt in das Handy.
Die Tür des Bungalows ging auf. David packte Eloise erneut und zog sie unter die Bäume zurück.
»Komm!«
Endlich sagte Eloise etwas. »Ich weiß … ich weiß, wo wir hinkönnen. Wir müssen uns verstecken. Sonst wird er auch uns umbringen!«
»Ja …«
»Geben Sie mir den Autoschlüssel!«
David reichte ihn ihr; sie schlichen am Waldrand entlang zu Davids Auto. Dann zischte Eloise: »Jetzt!«
Sie rannten los und sprangen in den Wagen. David auf den Rücksitz, Amy vorn. Eloise startete das Auto und knallte mit aufheulendem Motor den Rückwärtsgang hinein. Und schon jagten sie los. Sie ließen Gurs hinter sich und fuhren auf einer schmalen Landstraße auf die Berge zu. David spähte aus dem Rückfenster - die Straße hinter ihnen war leer. Als er sich wieder nach vorn drehte, sah er, dass stumme Tränen über Eloises Gesicht strömten.
Er wollte lieber nicht daran denken, was sie durch das Fenster gesehen haben könnte. Ihre ermordete Großmutter oder - schlimmer noch - wie sie gerade umgebracht wurde. Offensichtlich stand sie unter Schock. Trotzdem fuhr sie sehr gut und sicher. Sie weinte, aber sie war hochkonzentriert und voll bei der Sache. Er betrachtete ihr dunkles Profil. Ihrer Teenagergrazie haftete etwas Stolzes an - und etwas zutiefst Trauriges. Wieder fiel ihm das Kreuz an ihrem dunkelhäutigen Cagot-Hals auf. Es blitzte im Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Autos.
Amy öffnete das Fenster, und kalte Nachtluft rauschte herein; David ließ sich erschöpft zurücksinken.
Wenigstens waren sie am Leben; Amy und Eloise waren am Leben.
Doch ihre Großmutter hatten sie sterben lassen.
Eloise hatte zu weinen aufgehört. Ihre Miene war jetzt vollkommen ausdruckslos. Sie fuhr auf einsamen Nebenstraßen schnell und mit stumpfer Effizienz auf die Berge zu, die schwarz vor ihnen aufragten; die Wolken hatten sich verzogen, und der Nachthimmel war inzwischen von einem tiefen Blau; den höchsten Gipfel umgab ein Heiligenschein aus funkelnden Sternen.
Sie waren am Leben. Aber Eloises Großmutter war mit Sicherheit tot.
Amy drehte sich um und sah zuerst David an, dann seine Hand. Jetzt schaute auch er an sich hinab: In seiner Handfläche klaffte eine blutige rote Wunde, die er sich zugezogen hatte, als er Eloise festzuhalten versucht hatte.
»Oh, oh«, seufzte Amy mitfühlend.
Er atmete aus.
»Es tut nicht weh.«
»Trotzdem sollten wir die Wunde verbinden.«
Amy griff nach einem T-Shirt, riss es in zwei Hälften und wickelte den Stoff fest um Davids verletzte Hand. »Das muss fürs Erste genügen«, sagte sie. »Bis wir da sind …«
Damit war die Frage angeschnitten. David nickte.
»Eloise. Wohin fahren wir eigentlich?«
Das Mädchen antwortete nicht. David und Amy tauschten besorgte Blicke. »Eloise?«
Das Auto raste weiter, aber das Mädchen sagte nichts. Erst nach einer Weile antwortete sie ruhig und sachlich: »Nach Campan.«
Wieder Schweigen. Dann hielt Amy es nicht mehr aus: »Eloise, hör zu, ich …«
»Non! Non! Nicht darüber sprechen. Bitte sprechen Sie nicht darüber, oder ich kehre auf der Stelle um und fahre zurück … Ich kann Ihnen nicht sagen, was ich gesehen habe! Non, non, non. Bitte fragen Sie mich nie danach.«
David sah Amy an. Sie nickte stumm. Sie mussten das arme Mädchen anders ablenken. Deshalb fragte David: »Wieso nach Campan, Eloise? Was ist dort?«
»Die Cagoterie.« Eloise nahm rasant eine Kurve. »Es sind nur noch ihre Ruinen übrig. Niemand kommt mehr dorthin. Die Ruinen, sie reichen bis in die Schlucht hinunter … dort steht ein Haus!«
»Campan …«, murmelte David zu sich selbst. Das Dorf der Puppen.
»Und du glaubst, dort sind wir in Sicherheit?«, fragte Amy.
»Oui«, antwortete Eloise mit einem bitteren Unterton. »Denn die Cagoteries sind auf der Seite des Flusses, die für die normale Bevölkerung tabu ist. Niemand will dorthin, unter keinen Umständen. Dort sind wir sicher. Totalement.«
David ließ sich nach hinten sacken, und Amy zog den Verband um seine blutende Hand fester zu. Im Mondschein sah das Blut aus wie die Tinte eines Oktopus.
Inzwischen stand für ihn fest, wer hinter all dem steckte. Wer seine Eltern ermordet hatte. Wer die Cagots umbrachte. Es konnte gar nicht anders sein.
»Es ist Miguel. Er hat die ganzen Morde begangen. Oder zumindest die meisten.«
Amy runzelte die Stirn.
»Aber warum? Und wie?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur eins: Miguel hat meine Mutter und meinen Vater umgebracht. Die …« Seine Stimme wurde so leise, dass sie kaum mehr zu hören war. Sie war nur noch ein finsteres Flüstern. »Eloises Großmutter hat doch selbst gesagt, dass ihr jedes Mal, wenn in Gurs ein Mord passiert ist, ein ganz bestimmter Mann aufgefallen ist. Ein auffallend großer Mann. Erinnerst du dich nicht mehr? Das kann nur Miguel gewesen sein. Sie hat es geahnt. Sie hat instinktiv gespürt, dass der Mann, der ihre Familie umgebracht hat, auch meine Eltern auf dem Gewissen hat. So ist es, Amy. So muss es sein. Er begeht diese Morde aus einem bestimmten Grund. Und aus diesem Grund ist er auch hinter uns her. Deshalb will er uns umbringen.«
»Aber wieso?« Ihre Stimme war leise - und doch fest. »Was hat das alles mit dir zu tun, mit dir und … mit Jose? Und mit den Cagots?«
»Er hat die Karte meines Großvaters gesehen, als wir bei Jose waren.« David entwickelte seine Theorie, während er sprach. »Vielleicht hat er gemerkt, dass wir dasselbe Ziel verfolgen. Dass wir derselben Spur folgen, die schon meinen Eltern zum Verhängnis wurde. Und deshalb versucht er, auch uns aus dem Weg zu räumen.«
Amy schaute aus dem Fenster zu den Sternen hinauf. »Wahrscheinlich … und Jose wusste … er wusste, dass Miguel auch uns umbringen würde, wenn wir dieses Geheimnis aufzudecken versuchen. Er wollte uns vor seinem Sohn retten. Mein Gott.«
David nickte. Wie hatte er nur so blind sein können? Es war, als hätte er die ganze Zeit nur ein winziges Detail eines Gemäldes angestarrt, ohne zu merken, dass das eigentliche Bild viel größer war. Erst jetzt kam ihm das ganze Grauen in seinem vollen Umfang zu Bewusstsein: das blutrünstige biblische Tableau eines brutalen, unbezwingbaren Sohnes, der Mütter und Väter mordete.
»Aber warum?«, fragte Amy. »Welches Geheimnis könnte so verheerend sein, dass Miguel immer wieder morden muss, um zu verhindern, dass es aufgedeckt wird?«
»Es muss etwas mit seinem Vater zu tun haben«, sagte David. »Und mit dem Krieg. Jose war in Gurs. Der Verräter von Gurs…?«
Im Licht der Autoscheinwerfer blitzte kurz das rot-weiße Ortsschild von Campan. Doch dann fuhr Eloise langsamer. Und zum ersten Mal seit einer halben Stunde begann sie wieder zu sprechen.
»Jetzt wird es schwierig … von hier ab.«
Sie fuhren über eine Brücke. Hinter den Schieferdächern von Campan konnte David den traurigen Kirchturm aufragen sehen; kurz leuchtete im Scheinwerferlicht das Gesicht einer Stoffpuppe auf, die glücklich lächelnd neben der Zufahrt zur Brücke lag; und dann waren sie auf der verrufenen Seite des Flusses, in der Cagoterie. Verfallene Häuschen mit leeren schwarzen Fenstern, eingestürzte Scheunen und brachliegende Felder säumten die Straße.
Dichter Wald wucherte heran, um sich das ehemalige Getto der Unberührbaren wieder einzuverleiben.
Die Straße wurde immer schlechter, überall lagen Steine und Äste. In der klammen Dunkelheit gewann David den Eindruck, als führen sie unter der Erde dahin - auf beiden Seiten der Straße erhoben sich die steilen Felswände einer Schlucht. Die armseligen Häuser, niedrige graue Umrisse zwischen den Bäumen, wurden weniger; eine gespenstisch weiße Eule flatterte durch das grelle Scheinwerferlicht.
»Voilä.«
Es war ein sehr großes, sehr altes Steinhaus. Wahrscheinlich aus dem Mittelalter. Doch trotz seiner Größe war es sehr geschickt getarnt. Dichtes Buschwerk verbarg die Abzweigung, die zu ihm führte, mächtige Bäume umgaben es wie eine natürliche Schutzmauer, ringsum erstreckte sich das Labyrinth der verfluchten Cagoterie - und es lag in der finsteren Schlucht.
»Ich war bisher nur ein einziges Mal hier«, sagte Eloise. »Mit meinen Großeltern. Das ist das Haus, in dem sich die Cagots versteckten, wenn die Verfolgungen besonders schlimm wurden. Die letzte Zuflucht der Cagots. Unter dem Haus gibt es zahlreiche Höhlen und Gänge. Les chemins des Cagots. Deshalb haben sich die Cagots hierher zurückgezogen, wenn es besonders gefährlich wurde.«
Sie stiegen aus. Die vom würzigen Duft des Waldes durchsetzte Nachtluft war fast eisig. David fuhr erschrocken zusammen.
Im Haus brannte Licht. Ein flackerndes Licht, wahrscheinlich eine Laterne oder eine Kerze. Jemand musste sich dort aufhalten.
David war hin- und hergerissen zwischen Angst und Neugier. Er wandte sich Amy und Eloise zu und hielt einen Finger an seine Lippen, pssst. Dann schlich er zu dem erleuchteten Fenster und spähte nach drinnen.
Er zuckte zurück. In dem schwach beleuchteten Zimmer drückten sich zwei Menschen aneinander.
Jose Garovillo und seine Frau.