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Drei Tage später stand ich mit Tanja und Bert an der Vulkobase und wartete darauf, dass die Raumfähre landen würde.
Es war schon spät am Abend und die Wartehalle, in der wir uns befanden, war viel kleiner, als ich sie mir vorgestellt hatte.
»Kunststoffwände?«, fragte ich erstaunt.
»Etwas Ähnliches«, sagte Tanja. »Das Material ist außerdem hitzebeständig und hält weitestgehend die Vibration während der Landung ab. Wenn ein großes Schiff mit dreihundert Personen an Bord ankommt, erzeugt das eine Menge Druck.«
Ich betrachtete den quadratischen Raum. Er hatte kaum zehn Meter lange, weiße Wände. Außer einer Bank und einer Palme, die wie bestellt und nicht abgeholt dastanden, war er leer. Mir kam es vor, als befände ich mich in einer übergroßen Gummizelle.
Wir warteten und warteten, aber es tat sich nichts. Minuten schlichen dahin und die Gummizelle wurde allmählich zu einer zeitlosen Zone, in der wir feststeckten.
Wie würden sie aussehen? Wie würden sie sein? Auch auf der Erde gab es viele Gesichter, große oder kleine Körper und die verschiedensten Charaktere. Ich dachte an die vielen Kriege in der Vergangenheit. Damals, bevor die Menschen wussten, dass unterschiedliche Kulturen in der Zukunft ihr geringstes Problem sein würden. Und doch hatten die Menschen bis heute einen Hang dazu, sich zu gruppieren. Gleiches gesellte sich zu Gleichem. Es war wie eh und je, nur in einer anderen Form. Nicht die Hautfarbe oder die Herkunft definierten die Subkulturen; das war nicht mehr möglich auf einem Planeten, wo alle zusammenrücken mussten. Heute war es schlichtweg die Gesinnung, die die Menschheit spaltete. Ihre Überzeugung, die häufig keinen Raum für Andersdenkende ließ; keinen Platz für das, was die Welt eigentlich so bunt machte. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst war – ich dachte oft genauso. Vielleicht war es einfach ein Urinstinkt des Menschen, Neues oder Unverständliches erst einmal abzulehnen. Aber jetzt, da wir eine Spezies erwarteten, die fünf Lichtjahre von uns entfernt lebte, rückte man auf der Erde doch zusammen. Plötzlich schienen wir alle gleich. Das war es, was ich in den letzten Tagen auf den Straßen und durch die Medien erfahren hatte. Seit sich die Neuigkeit herumsprach, dass schon in Bälde erste Loduuner die Erde besiedeln würden, war unter den Menschen hier ein völlig neues Wir-Gefühl entstanden.
Auch wenn Zusammenhalt eigentlich etwas Schönes war, so beunruhigte er mich diesmal. Denn er bedeutete, dass wir den Kindern unserer Nachbarn geschlossen entgegentraten. Es gab nicht viele Tanjas und Berts, die die Loduuner mit offenen Armen erwarteten und aufnehmen wollten. Ich würde mich zu ihnen gesellen, egal, was mich heute hier erwartete.
Ich wurde immer ungeduldiger.
Doch es tat sich nichts.
Also lauschte ich dem Platzen der Kaugummiblasen, die in gleichmäßigen Abständen aus Tanjas Mund quollen. Dann widmete sich mein Gehör dem Klacken ihrer Absätze, das allmählich auch immer ungeduldiger klang. Bert hingegen schien die Ruhe selbst zu sein. Er lehnte, die Hände in den Hosentaschen, an der harten Gummiwand und musterte die ausgesetzte Palme. Aber plötzlich war es so weit.
Über uns erhob sich ein leises, bebendes Rauschen. Schon bald wuchs es zu einem ohrenbetäubenden Donnern heran, das lauter und lauter wurde. Unsere Gummizelle fing an zu zittern und es war, als würde sie mit Blitzen oder gar einem Feuerstrahl beschossen. Die Wände wurden heiß, dann begannen sie zu glühen und eine drückende Hitze strömte von draußen herein. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Meine Panik stand mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn Tanja strich mir über den Rücken. Ich spürte ihre Hand kaum, so sehr bebte der Boden. Ihre Lippen formten sich zu einem »Es ist gleich vorbei!«, doch hören konnte ich sie bei dem Lärm nicht.
Das Donnern wurde noch lauter. Ich fühlte, wie mein Körper im Takt der Erde vibrierte. Tosen, Donnern, Rauschen – und schließlich ein lauter explosionsartiger Knall!
Der Krach verlor sich mehr und mehr in einem Zischen, das lange anhielt und dann allmählich leiser wurde. Der Boden war wieder hart und starr. Nach einer Weile kühlten auch die Wände ab. Der Geruch von Eisspray drang zu uns hindurch. Dem Zischen nach zu urteilen, wurde unsere Kabine gerade damit abgesprüht. Dem Ganzen folgte eine spannungsgeladene Stille, dann öffnete sich die Decke und der sternengeflutete Himmel breitete sich wie ein Zelt über uns aus. Wie gebannt sah ich nach oben und drehte mich im Kreis, während die Wände um uns herum in der Erde versanken. Jetzt standen wir in einer offenen Halle, die größer war als fünfzig Fußballfelder. Beleuchtet von unzähligen Scheinwerfern wirkte sie wie ein überdimensionales Stadion. Hundert Meter entfernt von uns schwebte ein gigantisches beleuchtetes Raumschiff dicht über dem Boden. Aus seinen Düsen quollen dunkle Rauchschwaden. Das alles erschien mir irgendwie surreal. Es kam mir vor, als wäre ich in einem dieser alten Science-Fiction-Filme, die meine Urururgroßeltern immer auf ihrem – wie hieß dieses Gerät noch mal? Ach ja, Blue-ray-Player – gesehen hatten. Menschen in weißen Raumanzügen liefen herbei, sie löschten mit Schläuchen die Triebwerke und kühlten das Äußere des Schiffes.
Die Raumfähre war innen hell erleuchtet, und als ich auf die zahlreichen Fenster blickte, sah ich etliche Kinder, die mit großen Augen ihre Nasen an die Scheiben drückten.
Ich war so überwältigt, dass ich alles wie durch einen Schleier wahrnahm. Aber irgendwann öffnete sich die Tür des Flugriesen. Sie schwenkte mit leisem Brummen langsam nach unten auf, bis sie den Boden berührte.
Ich wartete gespannt. Die Zeit schien stillzustehen, denn außer einer riesigen weißen Rauchwolke drang nichts aus dem Inneren des Schiffes. Der Rauch verlor sich nach und nach im Himmel. Die Sterne waren nicht mehr zu erkennen. Schließlich schien es, als ob nur noch ein dichter Nebel das Schiff umwölkte, in dessen Innerem sich allmählich zarte Konturen abzeichneten. Eine –, zwei –, drei –, vier – es wurden immer mehr. Wie wächserne Figuren standen sie da – anmutig und fremd, und doch den unseren auf eine Weise ähnlich, die mir den Mund offen stehen ließ. Obwohl ich ihre Gesichter noch nicht erkennen konnte, zeugte ihre Haltung von der lähmenden Angst, die sie haben mussten. Hier geschah etwas, das auch ihnen nicht real erschien. Etwas, das sie nicht zuordnen konnten.
Die Luft klärte sich mehr und mehr auf. Immer weitere kleine Körper wurden sichtbar, bis nur noch einzelne Nebelschwaden am Boden entlangschlichen.
Ich stand wie angewurzelt da und hielt schockiert die Hände vor den Mund. Mein Gott, so viele. SO VIELE!
Sie wirkten derart allein auf dieser Welt, dass ein Schreckenslaut aus meiner Kehle stolperte. Die fremden Kinder sahen sich still und ängstlich um, hielten einander Halt suchend an den Händen und sahen so scheu und verloren aus, dass es schmerzte. Manche klammerten sich mit ihren winzigen Fingern an Taschen oder Koffern fest, aber die meisten hatten nicht mehr bei sich als das, was sie auf den abgemagerten Leibern trugen.
Das war also Krieg. Paralysierte Gesichter, ausgehungerte Körper und Kinderaugen, die schon viel zu viel gesehen hatten. Das Wort Verzweiflung gewann für mich eine völlig neue Bedeutung.
Die Kinder trugen alle irdische Kleidung, hochgeschlossene Hängerchen, Rollkragenpullis oder zugeknöpfte Hemden. Wenigstens hatte man sie im Raumschiff schon mit dem Nötigsten versorgt.
Wir gingen auf das Schiff zu, denn Tanja wollte mit dem Leiter der Flüchtlingsüberführung sprechen. An der Gangway trafen wir den Mann, der gerade ausstieg. Tanja stellte uns vor und begann, weitere Informationen über die Herkunft der Kinder einzuholen, die sie nun mitnehmen sollte.
In diesem Moment fuhren zwei Sanitäter einen verletzten jungen Mann die Gangway hinunter. Ein kleines blondes Mädchen hielt sich weinend am Rand seiner Trage fest. Als ein Krankenschiff rückwärts angeglitten kam, versuchte einer der Sanitäter, ihre Hände zu lösen. Sie klammerte sich an den Arm des Verletzten und versuchte, den Sanitäter von sich zu stoßen. Ihr Schluchzen klang so gequält, es schüttelte mein Herz.
Der junge Mann streckte schwach eine Hand nach dem kleinen Mädchen aus und strich ihr über die Wange. Ich sah, wie sich die Lippen der beiden bewegten, aber ich konnte ihre Stimmen nicht hören, obwohl das Leid regelrecht aus ihren Augen schrie.
Der Sanitäter beugte sich zu ihr hinab. »Du kannst nicht bei ihm bleiben. Iason muss so schnell wie möglich in ein Krankenhaus.«
Die Lippen des Verletzten zitterten, dann formten sie sich erneut tonlos. HOPE, DU HEISST HIER HOPE, sagten sie, während sich die ausgestreckten Hände der beiden voneinander lösten.
Das Mädchen blieb bitterlich weinend zurück, als die Sanitäter den jungen Mann in das Krankenschiff einluden.
Ich schluckte hilflos.
»Sein Name ist Iason Santo«, erklärte Tanja, während wir ihm gemeinsam nachblickten. »Er ist auf der Flucht angeschossen worden. Die Wunde hat sich auf dem Weg hierher entzündet. Wahrscheinlich die falschen Medikamente. Aber die Ärzte haben mir soeben versichert, dass er überleben wird. Die Kleine ist seine Schwester.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass ich mich im Verlauf der erschütternden Szene, die sich vor unseren Augen abspielte, an Tanjas Arm festgekrallt hatte. Ich ließ sie los und trat auf das Mädchen zu. Langsam, um sie nicht noch mehr zu verschrecken, ging ich neben ihr in die Hocke. »Dein Name ist Hope, richtig?«
Die Kleine blickte mich aus großen grauen Augen an. Dann nickte sie und trocknete sich schniefend mit dem Ärmel ihres roten Rollis die Tränen. Als sie erneut zu weinen begann, zog ich sachte ihren Kopf an meine Schulter. »Schhh, kleine Hope – schhh – alles wird gut. Er kommt ja wieder.« Ich wusste nicht, ob sie mich verstand, aber mein sanfter Tonfall schien sie ein wenig zu beruhigen.