Imagestar 17

Ich hielt mir die Hand vor meine Augen, als das grelle Licht von Taschenlampen in unsere Gesichter strahlte.

Die Polizisten traten schnell auf uns zu, als die Wachmänner ihnen versichert hatten, dass wir unbefugt in das Gebäude eingedrungen waren. Iasons blutende Unterlippe und seinen anschwellenden Wangenknochen erklärten sie mit einem Handgemenge, weil »der Loduuner« angeblich versucht hätte zu fliehen. Was konnten wir erwidern? Man hätte uns sowieso nicht geglaubt.

Sie rissen Iason von meiner Seite, zerrten uns die Arme auf den Rücken und legten uns Handschellen an. Anschließend wurden wir einer gründlichen Leibesvisitation unterzogen. Ich war zu geschockt, um mich zu wehren.

Wir wurden abgeführt und auf die Wache gebracht.

»Hier sind zwei, die dringend ihre besten Jahre mit Arbeitsstunden verbringen wollen«, stellte man uns den dortigen Polizisten vor.

Unsere Personalien wurden aufgenommen. Anschließend durften wir kurz Bert und meine Mutter anrufen. In dieser Nacht sollten wir erst einmal hierbleiben. Am nächsten Tag würde man uns dem Haftrichter vorstellen.

Einer der Polizisten führte uns einen schmalen Gang hinab. Vor der ersten von einer Reihe Stahltüren blieb er stehen und öffnete sie mit klirrendem Schlüsselbund.

»Männlein«, sagte er und schubste Iason in die Zelle. Dann versperrte er sie und schloss die Tür daneben auf. »Weiblein.«

Ich betrat einen kleinen kahlen Raum, wahrscheinlich eine Ausnüchterungszelle, und stieß auf einen gemauerten Wanddurchlass, der Iason und mich durch eine Reihe Gitterstäbe voneinander trennte. Wie stählerne Wächter ragten sie zwischen uns auf. Krachend fiel hinter mir die Tür ins Schloss und es wurde finster.

Viele Atemzüge starrte ich einfach nur in die Dunkelheit. Das Mondlicht drang blass durch ein Fenster, das sich an einer Seite der Wand unter der Decke entlangzog. Betäubende Kälte kroch unter meine Haut und ich zitterte, fassungslos über das, was heute Nacht geschehen war. Vor meinem inneren Auge flimmerte das eisige grüne Leuchten, das sich lautlos in der Dunkelheit auf uns zubewegt hatte. Und in meinen Ohren tobte noch immer Iasons Angebot, zu bleiben.

»Mia«, drang seine Stimme vorsichtig zu mir durch.

Ich drehte mich um und erkannte seine Gestalt, umhüllt von einem schwachen blauen Schein.

»Warum?«, fragte ich ausdruckslos.

»Komm erst mal her.« Seine Bitte steckte voller Behutsamkeit, ebenso seine Geste, als er die Hand an das Gitter legte.

Mein Gang war mechanisch wie der Klang meiner Stimme. Ich trat vor die Gitterstäbe.

»Alles ist gut«, flüsterte er.

Ich senkte die Lider und nickte, sagen konnte ich nichts.

Viele Herzschläge standen wir einfach nur da.

»Warum bist du zurückgekommen?«, fragte er vorsichtig. »Wenn dir etwas passiert wäre … ich …«

»Warum bist du geblieben

»Es …« Er senkte den Kopf.

Mein Blick fiel auf seinen geschundenen Wangenknochen und lenkte mich näher. »Warum hast du dich so zurichten lassen, Iason?«

Er setzte zu einer Antwort an. Nichts. Dann noch mal: »Ich wollte sie aufhalten, damit ihr mit Finn fliehen könnt.«

Ich schüttelte heftig den Kopf und spürte, wie sich meine Hände verkrampften. »Da ist noch etwas anderes. Finn hat gesagt, du hättest dich wehren können.«

»Das wollte ich zunächst auch.«

»Aber?«

»Aber dann kam mir der Gedanke, so könnte alles gut werden.«

Was sollte das denn heißen? Was verdammt noch mal sollte das heißen?

Ich wartete, aber als ich begriff, dass er nichts weiter sagen würde, senkte ich die Lider, um Kraft für die Frage zu sammeln, vor deren Antwort ich am meisten Angst hatte.

»Das grüne Leuchten … war das einer von Lokondras Leuten?«, tastete ich mich heran.

Seine Augen bekamen einen seltsamen Glanz.

»Du wusstest, dass er da war?«, fragte ich.

»Ich habe es geahnt.« Auch seine Stimme klag rau und angesengt.

»Hätte er dich … umgebracht?«, kämpfte ich mich weiter.

Er schwieg und das bestätigte meine schlimmste Befürchtung.

Eine Wolke schob sich vor den Mond.

»Es gibt auf Loduun drei Brüder. Sie nennen sich Die Stimme, Das Auge und Die Hand. Ihre Namen tragen sie, weil sie Lokondra auf diese Weise vertreten. Ihn selbst hat noch nie jemand zu Gesicht bekommen. Sie agieren und funktionieren für Lokondra, als wären sie ein Teil von ihm. Dieser Mann mit den grünen Augen«, seine nächsten Worte sprach er ganz leise, »war Die Hand.«

Ich wollte etwas erwidern, aber meine Stimme fand den Weg nicht mehr.

»Ich habe mich nicht gewehrt, weil ich ihn herausfordern wollte. Ich wollte, dass er mir Auge in Auge gegenübertritt – denn so könnte ich ihn vernichten.«

Fassungslos sah ich ihn an. Von was redete er da? »Du meinst doch nicht etwa deinen Schattenblick!?«

»Erinnerst du dich?«, fragte er vorsichtig. »Wenn unser Sinn erfüllt ist, erlischt unser Leben ohnehin, denn wir sind mit ihm verwoben.« Er machte eine Pause, ehe er weitersprach: »Ich dachte, dies wäre der richtige Moment.« Jetzt sah er zu mir hin. »Ich lag so falsch, Mia.«

Ja, das war es: falsch. Ganz und gar falsch.

Wieder versanken wir in Stille.

»Du hast allen Grund, mich zu hassen«, sagte er dann.

Mir bot sich keine Gelegenheit, nach dem Sinn seiner Worte zu suchen, denn in meinem Kopf überschlugen sich jetzt die Bilder. Eine grausige Vorstellung jagte die andere …

Ich weiß nicht, welche Reaktion nach so einer Offenbarung »normal« gewesen wäre. Vor Schreck wie gelähmt zu sein oder in Tränen auszubrechen? Ich jedenfalls wurde wütend, fuchsteufelswild.

»Tu das nie wieder!« Mein Ton wackelte. »Hörst du! Nie wieder!« Aufgewühlt tigerte ich in der Zelle herum, warf die Hände über den Kopf und trat gegen die Wand. »Wenn du das noch mal versuchst, bringe ich dich um! Und zwar bevor du selber dazu kommst, das schwör ich dir!« Ich fuhr mir durchs Haar und tigerte weiter.

Damit hatte Iason eindeutig nicht gerechnet. »Mia, was du da gerade von dir gibst, ist komplett absurd.«

»Du und deine Logik, ihr könnt mich mal!«, schrie ich.

Er musterte mich besorgt. »Drehst du gerade durch?«

»JA!« HERRGOTT, ER GAB MIR AUCH ALLEN GRUND DAZU! Dann sackten meine Beine weg. Ich kauerte mich in das Hintere der Zelle, um so weit wie möglich von ihm entfernt zu sein. Mit umklammerten Knien wiegte ich mich hin und her. »Es … es muss einen anderen Weg geben.« Ich kam mir so jämmerlich vor.

Alles wird gut. Das hatte er also damit gemeint. Nichts wäre gut geworden, gar nichts. Ja, ich hatte Grund, ihn zu hassen, und ich hasste ihn auch – für diese Denkweise. Nie zuvor war er mir so fremd gewesen.

»Hast du …«, ein heftiger Druck pochte hinter meinen Augen, »als du dich ihm ausliefern wolltest, hast du da denn gar nicht an Hope oder mich gedacht?«

»An dich?«, fragte er.

Ich warf ihm einen kurzen, tränenverschleierten Blick zu. Sollte er doch wissen, was ich für ihn empfand!

»Aber das ist es ja gerade, Mia. Ich habe heute Nacht an kaum etwas anderes als an dich gedacht. Selbst in der Sekunde, als Die Hand auf uns zukam, warst nur du in meinen Gedanken.«

Und während diese Worte in mir sackten, hielt ich inne. Ich brauchte eine Weile, um sie wirklich zu verstehen … und brauchte … und brauchte. Dann wischte ich mir mit dem Saum meines Ärmels über die Wangen und sah zu ihm hinüber.

Iason schloss die Hand um eine Eisenstange. In das Mondlicht getaucht, schimmerte er in bläulichem Silber. »Es tut mir leid.« Er sah zur Decke. »Wie das immer wieder klingt. So oft habe ich mich noch bei keinem entschuldigt.« Er schüttelte den Kopf. »Ich war im Irrtum und deshalb hätte ich beinahe den größten Fehler meines Lebens begangen.«

Vorsichtig stand ich auf. Meine Schritte klangen unsicher auf dem Steinboden wider, als ich zu ihm hinging. »Du wolltest dein Schicksal steuern«, reichte ich ihm meine Worte nun ruhiger. »Anscheinend geht das aber nicht.«

»Nein, daran lag es nicht. Der Grund ist vielmehr, dass es gar nicht mein Schicksal war«, erwiderte er, als müsste das jedem klar sein. »Ich hatte mich getäuscht, verstehst du? Dass die Begegnung zwischen Der Hand und mir so ausgegangen ist, geschah, weil ich einen anderen Sinn habe.«

Blitzschnell hielt ich mir die Ohren zu. »Ich will nichts mehr davon hören!«

Er strich sich über die aufgesprungene Lippe. »Mia.«

»Vielleicht ist dein Sinn ja einfach nur, dass du lebst, und mal hier und da beschützt«, sagte ich. »Ja, ganz bestimmt ist es so.« Ich musste ihn irgendwie überzeugen. Ich musste einfach.

»Mia, hör mir zu …«

»Ob Sinn oder nicht«, fiel ich ihm ins Wort. »Versprich mir, dass du den Dingen in Zukunft ihren Lauf lässt.«

»Ich muss dir etwas …«

»Warum kämpfst du nicht dagegen an? Der Preis für deinen Sinn darf doch nicht dein Leben sein!«

»Das geht nicht … man kann nicht …«

»Es muss gehen!«, rief ich geradezu hysterisch. »Wenn es dich nicht mehr gäbe, das wäre …« Ich blinzelte eine Träne weg. In meinem Kopf schwirrten tausend und ein Gedanke.

»Mia!«, unterbrach er mich nun mit aller Deutlichkeit.

Ich sah ihn an.

Er sah zu mir hinab. Sein dunkles Haar fiel ihm in die Stirn, und seine grauen lichtdurchfluteten Augen schauten so unergründlich tief in mich hinein, dass es schmerzte.

»Du bist mein Sinn.«