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Nicht die Sonne, sondern das leise Klirren von Krahja ließ mich erwachen. Mit geschlossenen Augen lauschte ich ihrem beruhigenden Klang. Unsere Welt gab es also immer noch. Ich legte den Kopf auf Iasons Brust, woraufhin seine Hand durch mein Haar kraulte. Sein Shanjas tauchte uns in zart schimmerndes Blau.
»Wie spät ist es?«, murmelte ich.
»Wir haben noch ein bisschen Zeit.«
Ein seltsames Knurren durchbrach die Vollkommenheit des Augenblicks.
»Hunger?«, fragte er mich.
»Nein. Ich hab alles, was ich brauche.«
Da draußen gab es so viele Hürden zu überwinden. Ich wollte hierbleiben. Hier, wo alles ganz einfach war.
Da, schon wieder!
Iason lachte leise. »Ein Teil von dir scheint anderer Meinung zu sein.«
Verflixt, irgendwann würde ich meinen Magen noch mal zur Organspende freigeben.
Zu meinem Leidwesen löste Iason sich von mir und stieg aus dem Bett.
Die Sonne drang schwach durch das Rollo. Ich stützte mich auf einen Ellenbogen und sah ihm zu, wie er im Halbschatten eine frische Jeans aus der Kommode zog. Jede seiner Bewegungen war vollkommen und geschmeidig wie die einer Katze. Dann hob er sein Hemd auf und ich erkannte, dass er es auf die fehlenden Knöpfe hin musterte. Er lächelte mir zu, warf es in die Ecke und holte sich ein neues aus dem Schrank.
Verlegen verschwand ich unter der Bettdecke.
»Wo willst du hin?«, fragte ich von dort aus.
»Dein Magen ist auch mein Freund.« Er kam zu mir, zog die Decke von meinem Gesicht und küsste mich auf die Nasenspitze. »Ich bin gleich wieder da.«
Auf dem Weg zur Tür schlüpfte er in das Hemd, öffnete unsere Welt und trat in den Flur hinaus.
»Morgen, Tony.« Rasch zog er die Tür hinter sich zu.
Tony! Seufzend ließ ich den Kopf in das Kissen fallen. Wie sollte ich dem Jungen das nur schonend beibringen? Ich stellte mir die Enttäuschung vor, wenn er mich, die zu heiraten er noch stets entschlossen schien, morgens aus Iasons Zimmer kommen sah. Ruck, zuck hatte mich die Realität zurück. Ich wusste schon, warum ich diesen Ort hier nie wieder verlassen wollte. Ich schloss die Augen und ließ mich erneut von dem sicheren Gefühl tragen, das die Nacht mir geschenkt hatte.
Ich musste wieder eingeschlafen sein, denn als ich die Augen aufschlug, stand Iason mit einem gefüllten Tablett vor mir. Ich blinzelte, als er mit einem flüchtigen Blick das Rollo hochsurren ließ. Nachdem ich mich an das grelle Tageslicht gewöhnt hatte, betrachtete ich hungrig das Frühstück. Es gab frisch gepressten Orangensaft, Toast, Marmelade, Eier und – meine Lieblingswürstchen.
»Wo hast du die denn her?«, fragte ich, während ich ein Niesen unterdrückte.
Er setzte sich neben mich. »Ich habe Bert gebeten, welche für dich mitzubringen.«
Zögerlich blickte ich auf die Schinkenknacker und sah dann zu ihm auf. »Iason, ich muss das nicht, wenn es dich …« Er nahm ein Würstchen und legte es an meine Lippen. »Mia, du bist, wie du bist, und so verehre ich dich, genau so.«
»Du verehrst mich?« Das hatte er bisher noch nie gesagt.
Iason sah mich an, wieder mit dieser Miene, die mir einfach nicht sagte, was er dachte. »Merkt man das denn nicht?«
Würstchen, wer wollte in so einem Moment schon Würstchen? Ich gab ihm gerade noch die Gelegenheit, das Tablett zur Seite zu fegen …
Ich schielte auf das zweite knopflose Hemd, das jetzt neben dem ersten am Boden lag. Wenn ich mich in Zukunft nicht etwas zurückhielt, würde Iason irgendwann noch oberkörperfrei in die Schule gehen müssen. Ja, ich musste mich zurückhalten. Ich würde diesen Anblick nicht so einfach mit irgendwem teilen.
Diesen wundervollen Körper, an dem sich jeder Muskel unter der zart schimmernden Haut abzeichnete. Iason war einfach zu schön, um wahr zu sein. Es gab nur eines, was ich noch mehr liebte, und das war sein Wesen selbst. Oh Gott. Das hier nahm ja Ausmaße an … Ich seufzte vollkommen glückserfüllt, hing meinen Gedanken nach und schwelgte in den Momenten, die diese Nacht so unglaublich gemacht hatten. Im Hintergrund war nur das sphärische Klirren, sonst herrschte Stille.
Iason war schon gegangen, um Hope zur Schule zu bringen. Auch wenn er sich, was die überzogene Fürsorge gegenüber seiner Schwester betraf, extrem gebessert hatte, dieses Ritual ließ er sich nicht nehmen. Solange es nur das ist, dachte ich. Tony hatte er mir zuliebe heute ebenfalls im Schlepptau. Das gab mir die Gelegenheit, unbemerkt das Zimmer zu verlassen.
Ich schälte mich aus dem Bett. Meine Kleider lagen überall verstreut. Niesend sammelte ich sie ein und zog mich an. Wo war nur meine Tasche? Da, unter dem Schreibtisch. Ich warf mir den Riemen über die Schultern, öffnete die Tür und lauschte. Dem Anschein nach war niemand mehr hier. Sicherheitshalber schlich ich trotzdem die Treppen hinab und stahl mich aus dem Haus.
Daheim machte ich mich noch schnell frisch und zog mir neue Sachen an. Wo war denn nur die Zahnpasta? Verdammt, war ich spät dran. Und was machte stattdessen der Joghurt am Waschbecken? Ich hastete in die Küche und stellte ihn in den Kühlschrank zurück. Da unser Frühstück heute Morgen unberührt geblieben war, knurrte mein Magen noch immer. Hungrig fischte ich mir den Käse heraus und was fand ich dahinter? Die Zahnpasta. Mann, meine Mutter wurde auch immer verwirrter. Ich biss schnell ein Stück Gouda ab und machte mich zurück ins Bad. Heute würde ich definitiv zu spät kommen.
Ich hatte Glück. Das Schiff kam zeitgleich mit mir an der Haltestelle an. Völlig abgehetzt stieg ich ein und erreichte in letzter Minute die Schule. Iason lehnte lässig an der Mauer des Schulgeländes. Als ich ausstieg, begannen seine Augen noch intensiver zu strahlen, als sie es ohnehin schon taten. Ich ging zu ihm hin, und auf einmal überkam mich eine tiefe innere Ruhe. Sollte Frau Müller mich doch wegen Zuspätkommens meinen Bioordner aufessen lassen.
Mit Iason an meiner Seite verging der Vormittag wie im Flug – mit Lichtgeschwindigkeit.
Es wurde ein sonniger Freitagnachmittag. Arbeiten mussten wir wegen des Parkfests heute nicht. Weil die Eissporthalle am Freitag schon nachmittags geschlossen hatte, schlug Iason vor, wir könnten dort hingehen. Die Bruthitze, so sagte er, sei heute kaum auszuhalten. Sicherlich wären auch Finn und Luna froh, wenn sie ihr für ein paar Stunden entkommen könnten.
Die Idee, sich in der Eissporthalle etwas abzukühlen, hatte zugegebenermaßen seinen Reiz. Die Sonne knallte so intensiv, selbst mir perlte Schweiß von der Stirn. Dennoch wollte ich lieber in den Tulpenweg gehen. Ich hatte die Kinder in den letzten Wochen kaum gesehen.
Iason warf einen Blick auf das Thermometer in seinem iCommplete. »Hältst du es für ein paar Stunden ohne mich aus?«
Ich tat so, als müsste ich überlegen.
Verzweifelt zeigte er mir sein Display. Wow, sechsundvierzig Grad!
Ich lachte und damit war die Sache entschieden. In Wahrheit kam auch mir eine kurze Pause ganz gelegen. Ich brauchte dringend etwas Zeit für mich. In erster Linie, um die letzten zwei Tage sacken zu lassen. Auch Glück musste eben verdaut werden.
Es war inzwischen halb vier, und ich schlug Iason vor, ihn gegen acht an der Eissporthalle abzuholen. Er rief Finn und Luna an.
Als ich im Tulpenweg eintraf, kam Tony mir auf seinen kurzen Beinchen entgegengeflitzt.
»Mia! Meine Holde!«
Er schwang sich in meine Arme und ich drehte ihn im Kreis.
»Na, mein Großer, wie war dein Tag?«
»Ich habe einen Zaubertrick von Bert gelernt.«
»Echt?«
»Ich weiß selbst nicht, wie er geht, aber Bert meint, wenn ich mich ganz doll konzentriere, kann er Bonbons aus meinem Ohr wachsen sehen und die pflückt er dann.«
Ich griff in meine Jackentasche und verbarg einen Kaugummi in der Hand.
»Zeig mal.«
Tony kniff angestrengt die Lippen zusammen und seine perlmuttschimmernde Haut begann zart zu glimmen. Zunächst war ich mir unsicher, aber dann erkannte ich ein schwaches hellblaues Strahlen, das aus seinen Augen trat.
»Tony!«, stieß ich überrascht aus.
»Wächst was?«, presste er zitternd hervor.
Beinahe hätte ich vergessen, weshalb er sich so bemühte. »Aber ja!« Ich griff mit dem verborgenen Kaugummi an sein Ohr. »Da, schau.«
Tony entspannte sich und blickte mit großen Augen in meine offene Handfläche.
»Bisher hat es nur bei Bert geklappt.« Freudig sah er mich an. »Ich werde besser.«
Hand in Hand gingen wir ins Haus.
Außer Luna, die sich mit Finn schon auf den Weg gemacht hatte, waren alle Kinder da. Niemand lud sie mehr ein. Ich verstand meine Landsleute einfach nicht.
So schön, wie der Nachmittag angefangen hatte, so sehr entwickelte er sich später zu einer Katastrophe.
Silas und Ariel gerieten in eine heftige Schlägerei. Die Ursache des Streits war am Ende nicht mehr genau nachvollziehbar, aber Ariel setzte in seiner Wut solche Kräfte frei, dass er dem gut einen Kopf größeren Silas eine blutende Nase und einige blaue Flecken verpasste. Selbst Bert gelang es diesmal nicht, den Jungen zu beruhigen, hatte Silas doch angeblich Ariels neu gebautes Lego-Schiff kaputt gemacht.
Danach kam Hope auf die glorreiche Idee, uns allen Grießbrei zu kochen. Sie benutzte dafür allerdings keinen Stahltopf, sondern eine Plastikschüssel. Das ganze Haus stank zum Schluss nach angeschmortem Kunststoff.
»Bist du immer noch dran?«, fragte ich Frank bei dem Versuch, gemeinsam mit Hope die Sauerei vom Herd zu entfernen.
Frank saß mit dem altmodischen Walkie-Talkie am Küchentisch und drehte an dessen Knöpfen.
»Ja, und weißt du was? Ich glaube, vorhin habe ich eine fremde Funkwelle empfangen.«
»Sag bloß.« Interessiert legte ich den Stahlschwamm beiseite und setzte mich neben ihn.
Frank zog sich wieder den verkabelten Haarreif namens Kopfhörer auf.
»Sie war ganz schwach, aber … da … da ist sie wieder.« Er tippte gegen einen der Schaumstoffkreise.
Ich bedeutete Hope, still zu sein, und beugte mich zu dem tellergroßen Ding hinab. Tatsächlich. Erst war es nur ein Rauschen, aber dann wuchs das Geräusch zu verzerrten Wortfetzen heran.
»Verstehst du was?«
»Scht!« Frank legte einen Finger an den Mund. Kopfschüttelnd zog er den Haarreifen ab. »Noch nicht, aber wenn ich den Apparat hier optimiere, ist es vielleicht möglich. Ich wüsste zu gern, wer außer uns noch solche Oldie-Technik benutzt.«
»Ich auch«, sagte ich. »Offenbar hatte da jemand dieselbe Idee wie wir.«
Frank drehte an den Knöpfen des Empfängers, wahrscheinlich, um wie angekündigt den Empfang zu optimieren.
»Mia, wann erzählst du uns die Gutenachtgeschichte?«, wollte Hope wissen.
Die Gutenachtgeschichte! Ich schlug mir gegen die Stirn. Es war schon kurz vor sieben. Aber ich hatte es Hope versprochen. Deshalb rief ich die Kinder zusammen und begab mich schnurstracks ins Wohnzimmer.
Silas kam als Letzter. Autsch, war sein Kinn geschwollen! Er setzte sich zu uns auf den Teppich vor dem Kamin, der nie an war, und spitzte die Ohren. Heute war Pippi Langstrumpf dran, so, wie ich es mir Tonys wegen vorgenommen hatte.
Anschließend gab es etwas verspätet Abendbrot. Ich aß aber nicht mit, sondern machte mich zum Aufbruch fertig, als Frank zu mir in den Flur rief.
»Wenn du noch kurz wartest, können wir zusammen zur Haltestelle gehen. Ich bin gleich so weit.«
Ich kam zu ihm ins Wohnzimmer, wo er noch immer unermüdlich mit dem Walkie-Talkie zugange war.
»Das glaubst du doch wohl selbst nicht. So, wie du gerade über dem Ding hängst.«
Frank war so versunken, dass er mir nicht mal antwortete. Nachdenklich kratzte er sich am Kopf. Anscheinend gab es irgendein technisches Super-Problem zu bewältigen.
Deshalb verabschiedete ich mich und verließ allein das Haus.
Ein grauer Dunst aus Feuchtigkeit und Straßenstaub sammelte sich unter dem Kuppelglas. Es war noch immer so heiß, dass die Luft flimmerte. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es zwanzig vor acht war. Hoffentlich öffnete sich bald die Kuppel. Jetzt, im Sommer, fanden sogar wir Irden die Temperaturen manchmal unerträglich. Die Luft brannte in der Kehle. Keuchend mühte ich mich durch die Straßen, bis ich die Haltestelle erreichte und in das nächste Schiff stieg.
Kurz darauf war ich da. Zehn Minuten zu früh. Egal. Auch mein verschwitzter Körper sehnte sich inzwischen nach einer Abkühlung. Ich öffnete die Eingangstür, durchquerte den Vorraum und trat in die Halle. Niemand war da. Ich stutzte, aber dann vernahm ich Stimmengewirr aus der Männer-Umkleidekabine. Komisch, dass sie mich nicht hörten? Sogleich wurde mir klar, warum. Zwischen Iason und Finn war eine hitzige Debatte im Gang. Ihre Stimmen drangen bis hierher, weil sie irdisch sprachen. Iason hatte einmal gesagt, dass man in unserer Sprache viel besser streiten könnte. Er fand, irdisches Schreien so erleichternd. Ich wollte mich durch Klopfen bemerkbar machen und ging auf die Tür zu. Mir war schon klar, dass es sich nicht gehörte, den eigenen Freund zu belauschen, und das hatte ich eigentlich auch gar nicht vorgehabt, aber dann schnappte ich meinen Namen auf und hielt inne.
»Du willst mit Mia deine Emotionen teilen?« Finn schien außer sich. »Das ist nicht dein Ernst!«
Iason schwieg.
»Was soll das?«, zischte Finn. »Du weißt genauso gut wie ich, dass wir uns nicht ewig hier verstecken können.«
»Lass das mal meine Sorge sein.«
»Aber was wird aus Mia, wenn wir zurückgehen? Hast du darüber schon mal nachgedacht?«
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«
»Ich schon, ich mag sie nämlich zufälligerweise auch ganz gern und will nicht, dass du sie verletzt.«
»Ich habe nicht vor, Mia zu verletzten.«
Jetzt war es Finn, der Zeit zum Antworten brauchte. »Iason«, sagte er dann ruhiger, »hier gibt es nichts für uns. Oder willst du irgendwann in einem dieser irdischen Großraumbüros die Blumen gießen, weil du es vor Langeweile hinterm Computer nicht mehr aushältst? Und du planst ja wohl nicht, Mia nach Loduun mitzunehmen, oder?«
»Natürlich nicht.« Iason klang entrüstet.
Eine Pause entstand. Wieder war es Finn, der das Schweigen brach. Diesmal aber lag etwas Mildes in seinem Tonfall.
»Sei ehrlich zu dir selbst, Iason. Fehlt dir Loduun etwa nicht?«
Stille.
»Ich vermisse es brennend.«
»Dann weißt du, was du zu tun hast.«
Was ich gehört hatte, brachte mich zum Zittern. Und Finn sprach noch weiter. »Ich habe Nachricht von Skyto erhalten.«
Skyto. War er nicht das Oberhaupt der Wächter? Ich lauschte.
»Jetzt, da Die Hand wieder auf Loduun ist, macht das unsere Anwesenheit hier überflüssig. Skyto will, dass wir wieder nach Hause kommen. Er braucht jeden Wächter. In drei Wochen kommt ein Schiff, das uns mitnehmen kann. Wir müssen zurück, Iason.«
Die Spindtür wurde zugeschlagen, und so, wie das knallte, wusste ich, dass Iason klar war, dass Finn recht hatte.
Ich taumelte rückwärts bis zum Ausgang. Dort angekommen, stürmte ich nach draußen und lehnte mich an die Wand. Keuchend kreuzte ich die Arme vor der Brust. Ich bekam kaum Luft. Atmen, erinnerte ich mich. Atmen und bloß nicht nachdenken.
Eigentlich hatte Finn nur das ausgesprochen, was ich ohnehin schon wusste. Aber es zu hören, brachte die Realität auf so erschreckende Weise nah. Eine leise Stimme in mir hatte bei all den Zweifeln stets an eine Lösung geglaubt. Doch jetzt war mir unmissverständlich klar geworden: Die Welt, in der Iason und ich gemeinsam glücklich sein durften, gab es nicht. Nicht auf der Erde und auch nicht auf Loduun. Mein Glaube war eine Illusion gewesen – eine Lüge. Und meine Hoffnung zerschlug in tausend Scherben. Wie viel Zeit blieb uns noch? Drei Wochen?
Es war so heiß hier draußen, und doch zitterte ich.
»Oh Mann, bei euch werde ich irgendwann noch mal gekocht.«
Ich schrak hoch. Luna stand wenige Meter entfernt auf dem Vorplatz und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Ich hatte sie überhaupt nicht kommen hören.
Ich verschloss mein Herz, stützte mich von der Wand ab und zwang mich zu einem Lächeln. Ich mochte gar nicht wissen, wie erbärmlich das aussah.
»Und, war’s schön?«, erkundigte ich mich nach dem Drak-Spiel, kämpfte gegen den mutlosen Klang in meiner Stimme, unterdrückte das Zittern der Beine.
»Es war traumhaft.« Luna war so sehr auf Wolke sieben, dass sie mir nichts anmerkte.
Ich bemühte mich um ein weiteres Lächeln.
In diesem Moment kamen Iason und Finn nach draußen. Ich wagte kaum, ihn anzuschauen, und als ich es schließlich tat, fühlte ich, wie etwas in mir zerbrach. In seinem Gesicht rangen die unterschiedlichsten Gefühle. Erst als er mich entdeckte, brachte er sie unter Kontrolle. Er kam zu mir und schloss mich in die Arme.
»Da bist du ja«, flüsterte er.
Ich schmiegte mich an ihn. Wir würden uns auf die Gegenwart konzentrieren müssen. Nicht an morgen zu denken, war die einzige Möglichkeit, die uns blieb.
Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, steckte ich Finns Worte in den Koffer meiner unliebsamen Erinnerungen. Er wurde immer voller. Ich setzte mich auf den Deckel, damit er wieder zuging, und schloss ihn sorgfältig ab. Verflucht, war das Ding schwer.
Die Sonne sank am Horizont und ein leises Brummen machte uns darauf aufmerksam, dass die Kuppel sich öffnete. Alle vier sahen wir nach oben. Der Dunst, der sich unter dem Glas gesammelt hatte, zog wie ein Nebelschleier durch den immer breiter werdenden Spalt, stieg zum Himmel auf und verlor sich im Abendlicht.
»Hast du Lust, eine kleine Tour zu machen?«, fragte ich Iason. »Etwas außerhalb gibt es einen Berg, von dort oben hat man eine wundervolle Aussicht.«
»Wandern?« Finn sah uns skeptisch an. »Um die Uhrzeit?«
Iason beachtete ihn gar nicht. Er lächelte mir zu und nickte.
Luna gähnte. »Geht ihr mal wandern, ich mach es mir inzwischen auf der Couch gemütlich.«
»Kann ich davon ausgehen, dass meine Wenigkeit zu diesem Spaziergang nicht eingeladen ist?«, wollte Finn wissen.
Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen. »Aber natür…«
»Da liegst du goldrichtig«, schnitt Iason mir das Wort ab.
Finn zischte etwas auf Loduunisch. Mahnte er Iason, an seine Worte zu denken?
»Im Osten der Stadt hat eine neue Bar aufgemacht«, sagte ich, um sie beide friedlicher zu stimmen. »Frank und Barbara wollten heute Abend dort hingehen. Sie freuen sich bestimmt, wenn du mitkommst.«
Finn zischte etwas Unverständliches und rief Frank an.
Unser Schiff kam und Iason stieg schweigend ein. Erst als wir auf unseren Plätzen saßen, hellte sich seine Miene wieder etwas auf.
»Du wirst begeistert sein, wenn wir auf dem Gipfel stehen«, sagte ich. »Von dort kann man über die ganze Stadt sehen. Man fühlt sich völlig frei. Keine Zwänge, kein Muss, alles rückt von einem fort.«
»Das ist jetzt genau das Richtige«, sagte er.
Er konnte ja nicht ahnen, wie sehr ich wusste, was er damit meinte.
»Früher waren Meer und Berge meistens Kilometer voneinander entfernt«, erklärte ich ihm, nachdem wir die Genehmigungen zum Verlassen der Kuppelgrenze erhalten hatten. Ich wollte keinen Moment des Schweigens aufkommen lassen, keine Gelegenheit zum Nachdenken. Also redete ich. »Dadurch, dass sich der Meeresspiegel so drastisch erhöht hat, liegt heute aber alles näher beieinander.«
»Wie sah die Erde aus, bevor all das geschah?«
Unsere Schritte raschelten im trockenen Gras.
»Es war ein schleichender Prozess, aber als man ihn endlich ernst nahm, war es schon zu spät. An die sechs Milliarden Menschen lebten hier, heute ist es kaum mehr eine halbe. Es gab fünf verschiedene Kontinente, und doch konnte man sich nicht aussuchen, wo man leben wollte. Ist das nicht seltsam? Bei so viel Platz?« Dieses Phänomen verstand ich bis heute nicht.
»Vielleicht hatten die Menschen Angst, die anderen könnten ihnen etwas wegnehmen«, sagte Iason. »Seit dem Krieg zeichnet sich auf Loduun eine ähnliche Entwicklung ab.«
Ich schüttelte den Kopf. »Heute leben die Irden enger als je zuvor zusammen und es klappt auch.«
»Weil ihr jetzt wisst, dass es nur gemeinsam geht«, sagte Iason und darin lag wahrscheinlich in der Tat die Lösung. Wir mussten, also konnten wir.
Die Sonne war inzwischen untergegangen und der Aufstieg zum Berg wurde nur noch blass von den entfernten Lichtern der Stadt beschienen. Wir holten unsere iCommpletes aus den Taschen, um den Weg zu beleuchten.
»Schon komisch. Ihr seid definitiv das vernünftigere Volk und doch habt ihr jetzt Krieg. Und obwohl wir Irden uns mit der Vernunft deutlich schwerer tun, herrscht bei uns seit über hundert Jahren Frieden.«
»Wir waren eben zu vertrauensselig, Mia. Das wird euch Irden aufgrund eurer Geschichte nie passieren.«
»Dennoch verstehe ich es nicht. Weshalb tut Lokondra das? Was du von Loduun erzählt hast, so wie es früher war, klingt nahezu perfekt. Welches Interesse könnte er daran haben, all das zu zerstören?«
Iason legte den Arm um mich. »Die Antwort kennt wohl einzig und allein Lokondra.«
Wir erzählten und erzählten. Bloß kein Schweigen aufkommen lassen, mahnte ich mich immer wieder. Schweigen war gefährlich, zu gefährlich für uns. Wir hatten fast die Hälfte des Weges zurückgelegt, als Iasons iCommplete klingelte. Stirnrunzelnd blickte er auf das Display und ging dran.
»Ja, hallo?«
Eine dumpfe Stimme drang aus dem anderen Ende der Leitung.
»Nein, ich bin unterwegs«, antwortete er.
Wer immer es auch war, Iason lauschte mit alarmierender Aufmerksamkeit. Dann nickte er.
»Ja, ich beeile mich. Bis gleich.«
Iason drückte das Gespräch weg.
»Was ist los? Wer war das?«
Ein Ruck ging durch seinen Körper, so, als hätte er ganz vergessen, dass ich da war. »Richter Hartung«, sagte er dann. »Er scheint ernstlich in Sorge zu sein. Genaueres wollte er mir aber nicht am iCommplete sagen.« Bedauern lag in seinem Blick. »Wir müssen den Ausflug leider verschieben. Ist das in Ordnung?«
Ich war schon ein bisschen enttäuscht. Aber immerhin würde uns das ablenken.
Iason steckte sein iCommplete zurück. »Wir holen das nach. Versprochen.«
Hoffentlich würden wir dazu noch die Gelegenheit bekommen, seufzte ich still in mich hinein.
Richter Hartung wartete schon unter der Tanne neben der Einfahrt auf uns, als wir im Tulpenweg eintrafen.
Das Haus war völlig dunkel. Um niemanden zu wecken, gingen wir durch den Flur und schalteten erst in der Küche die Stehlampe am Fenster ein.
Mit Richter Hartung betrat auch Bedrückung den Raum, das merkte ich sofort. Aber als der große, vollbärtige Mann mich erkannte, hellte sich seine Miene etwas auf. Fast schmunzelte er. »Wie ich sehe, haben Sie Ihre Wahl noch einmal überdacht, Iason.«
»Sozusagen.« Iason schmunzelte zurück.
Richter Hartung begriff. »Sie gerissener Fuchs. Das haben Sie mir aber verschwiegen, als Sie mich baten, Ihrer Freundin zu helfen.« Er schien ihm nicht im Mindesten böse zu sein.
Iason bot ihm einen Stuhl am Tisch an. Der Richter nahm Platz.
»Also«, sagte Iason, der neben mir an der Theke lehnte. »Was veranlasst Sie, uns so spät noch aufzusuchen?«
Richter Hartung wurde wieder ernst. Und diesmal verursachte meine Gegenwart offensichtlich kein so gutes Gefühl in ihm. Er wies mit einem kurzen Blick zu mir und sah Iason dann fragend an.
»Mia wird in naher Zukunft eine tragende Rolle für Loduun spielen«, sagte Iason. »Aus diesem Grund ist es auch in Bezug auf ihre Sicherheit besser, wenn sie alles weiß.«
Hartung konnte nicht wissen, was Iason damit meinte, aber er schien dessen Urteilsvermögen zu vertrauen.
»Also gut«, begann er. »Es geht um Tom O’Brian. Ich habe wiederholt versucht, ihn anzurufen, jedoch nie erreicht. Dann wollte ich ihn in seiner Wohnung aufsuchen, aber auch dort war er nicht.« Sorge schwang in des Richters Stimme mit, und er hob ratlos die Hände. »Er schien spurlos verschwunden. Bis er sich vorhin bei mir gemeldet hat.«
Ich horchte auf. »O’Brian hat sich gemeldet?«
»Was hat er gesagt?«, wollte Iason wissen.
»Er meinte, er habe ein schweres Lungenleiden. Er müsse zu seiner Schwester in den Norden, um sich dort zu erholen, was mir seltsam vorkam.«
»Was meinen Sie damit?« Iason verschränkte die Arme.
»Merkwürdig daran ist, dass ich mich erst vor wenigen Wochen mit ihm darüber ausgelassen habe, wie bedauernswert wir es beide finden, Einzelkinder zu sein. Entweder habe ich diesbezüglich etwas falsch verstanden, oder aber …« Er sprach nicht weiter.
»Sie haben ihn geschnappt«, ergänzte Iason.
»Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, er wollte mir genau das damit begreiflich machen.«
Fassungslose Stille verbreitete sich in der kleinen Küche.
Ich war die Erste, die wieder etwas sagte. »Wir alle haben Mr O’Brian das letzte Mal im Labor gesehen. Vielleicht sind wir ja einem Irrtum unterlegen. Vielleicht hatte er gar nicht vorgehabt davonzulaufen … wenn er nur rasch sein Flugschiff holen wollte, um uns alle einzusammeln.« Der Gedanke war schrecklich. »Ich meine, Die Hand ist doch erst im Labor aufgetaucht, als Mr O’Brian schon eine Weile nicht mehr da war. Er hätte also die Zeit gehabt, um …« Starr vor Schreck weiteten sich meine Augen. »Tom hat uns gar nicht im Stich gelassen«, flüsterte ich.
Iason zögerte nicht lang. Er ging ins Wohnzimmer und zückte sein iCommplete.
Ich eilte ihm hinterher. »Was hast du vor?«
»Ich rufe den Rektor an. Tom ist doch offiziell in der Schule krankgemeldet.«
Er stellte auf laut.
»Baum.«
»Rektor Baum, hier ist Iason. Entschuldigen Sie, dass ich zu so später Stunde störe, aber Mia und ich sitzen hier gerade mit Richter Hartung und wir hegen einen furchtbaren Verdacht. Wir benötigen dringend eine Auskunft von Ihnen.«
»Was ist los, Iason? Sind Sie in Schwierigkeiten?«
»Nein, ich nicht, aber Mr O’Brian wahrscheinlich. Haben Sie eine Krankmeldung von ihm erhalten?«
»Darüber darf ich Ihnen keine Auskunft erteilen. Das müssen Sie verstehen.«
Iasons Hand krampfte sich um das Gerät. »Es geht vielleicht um Mr O’Brians Leben.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
Jetzt schaltete der Richter sich ein. »Sagen Sie ihm, dass Kommissarin Hartung, meine Frau, sonst heute Nacht noch zum Verhör vorbeikommt, wir aber eigentlich keine Zeit zu verlieren haben.«
Das hatte Rektor Baum gehört.
»Wenn es von solcher Wichtigkeit ist, will ich ausnahmsweise einmal über die Regeln hinwegsehen. Denn merkwürdig ist es schon, dass Sie das gerade jetzt erwähnen.«
Das klang nicht gut, gar nicht gut.
»Was meinen Sie damit?«
»Ja, wir haben eine Krankmeldung erhalten, aber sie galt nur bis letzten Freitag. Da Mr O’Brian in dieser Woche nicht erschienen ist und ich ihn zu Hause nicht erreichen konnte, habe ich mich mit der Krankenkasse in Verbindung gesetzt. Dort ist nie eine Krankmeldung von ihm eingegangen. Dann habe ich seine behandelnde Ärztin angemailt. Sie hat ihn seit einem Vierteljahr schon nicht mehr in ihrer Praxis gesehen. Die Krankmeldung für die letzten Wochen ist demnach eine Fälschung. Als Mr O’Brian sich dann heute gemeldet hat, war ich leider nicht derjenige, der den Anruf entgegennahm. Morgen wollte ich der Sache nachgehen. Aber was um Himmels willen ist denn passiert?«
»Das erkläre ich Ihnen ein anderes Mal«, sagte Iason hastig. »Für uns gibt es jetzt eine Menge zu tun.«
»Melden Sie sich gleich morgen früh bei mir im Büro.« Rektor Baum klang nun ebenfalls besorgt.
»Mach ich.« Iason ließ wie paralysiert das iCommplete sinken. Ich konnte mich vor Schreck nicht regen und Richter Hartung starrte ins Leere.
»Sie sollten Ihre Frau anrufen«, sagte Iason ausdruckslos.
Diese Worte brachten wieder Leben in den Richter. Er zückte sein iCommplete. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, während er fahrig die Nummer wählte. »Oliv, Schatz, du musst sofort eine Suchmeldung herausgeben. Tom O’Brian ist wahrscheinlich entführt worden …«
Iason rief rasch Finn an. Dann jagten wir in Richter Hartungs Schiff durch die Stadt und zum Präsidium, wo seine Frau bereits auf uns wartete. Auf dem Parkplatz liefen uns zwei Polizisten entgegen. In voller Dienstmontur geleiteten sie uns ins Gebäude. Alles kam mir so unwirklich vor. Als wäre es ein böser Traum, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, nichts sehnlicher, als endlich zu erwachen.
Finn stand schon am Eingang. Als wir das Präsidium betraten, sahen wir Olivia Hartung. Sie war eine mittelgroße, hagere Frau. Die Haare zu einem strengen Knoten frisiert, stand sie in einem grauen Nadelstreifenanzug am Ende des Flures. Sie sprach zu zwei Männern, die ebenfalls keine Polizeiuniform, sondern Anzüge trugen. Als Olivia ihren Gatten sah, kam sie mit schnellen Schritten auf uns zu. Die Männer folgten ihr, während sie ihnen unterwegs Anweisungen erteilte. Der eine von beiden telefonierte daraufhin. Alles ging so schnell. Polizisten, Männer in Anzügen, Frauen in Kostümen, mit einem Mal waren wir umringt von Leuten. So absurd es klingt, ich fand es fast beruhigend, dass eine Polizistin mich in ihr Büro führte, um meine Aussage zu protokollieren. Die Stille in dem kleinen Raum gab mir Gelegenheit, um zu begreifen, was eigentlich gerade passierte. Ich sagte ihr alles, was ich wusste. Weshalb wir im Labor gewesen waren. Ich beschrieb ihr O’Brians merkwürdiges Verhalten, das ich mir damals aber nicht erklären konnte, erzählte von Iasons plötzlichem Erscheinen, und wie wir beide zu fliehen versucht hatten. Weiter ging es damit, was geschah, als ich zum Labor zurückkehrte, und wem wir dort begegnet waren. Auf die Frage hin, wann ich Tom O’Brian das letzte Mal gesehen hatte, wurde mir bewusst, welch grausamem Irrtum wir unterlegen waren. Was hatten wir ihm bloß unterstellt?
Einen Hoffnungsschimmer gab es immerhin. Die Tatsache, dass Richter Hartung heute mit Tom telefoniert hatte, ließ vermuten, dass er noch lebte.
»Noch«, sagte Iason, als Olivia Hartung den gleichen Gedanken aussprach. Er kannte SAH besser als alle anderen hier.
In dieser Nacht fand keiner von uns Schlaf.
Als Finn, Iason und ich wieder im Tulpenweg waren – ich hatte meine Mutter angerufen und gesagt, dass ich ein zweites Mal dort übernachten würde –, machte Bert lauwarmen Tee und brachte ihn uns ins Wohnzimmer. Wir saßen reglos auf dem Sofa. Jeder für sich damit beschäftigt, das Unfassbare zu begreifen.
»Wirst du es Lena erzählen?«, fragte Iason irgendwann in die Stille hinein.
Ich krallte die Finger in meine Oberschenkel und presste die Lippen aufeinander. Dann stand ich auf und ging zum Fenster. In der Dunkelheit machte ich den Schatten des Kirschbaums aus. Ruhig und friedlich, als wäre alles wie sonst, bewegten sich seine Zweige im Wind. Doch für mich hatte sich die Welt heute Nacht verändert.
»Das kann ich nicht«, flüsterte ich beinahe tonlos. Die Vermutung, dass Tom noch am Leben war, konnte nur eines bedeuten. Sie wollten an Informationen gelangen. Und sie würden Mittel und Wege finden, um das zu erreichen, so viel war sicher. Aber bis dahin hätten wir Zeit, ihn zu suchen. In diese Schleife des Wartens durfte ich Lena keinesfalls mit reinziehen. Sie würde es nicht ertragen. Ich hielt es ja selbst kaum aus.
»Wir müssen sie da raushalten, solange es geht.«
Finn und Iason nickten.