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Dr. Henke hatte uns gerade gebeten, die Mathematikbücher aufzuschlagen, als Lena – heute zur Abwechslung einmal mit gelben Haaren – wie so oft in letzter Minute angeschossen kam. Henke sah auf die Uhr und musterte sie streng über den Rand seiner Hornbrille hinweg. »Das ist das dritte Mal diese Woche, Lena.«
»’tschuldigung«, keuchte sie. »Ich verspreche Ihnen, dass ich dafür heute auch ganz besonders gut aufpasse.«
Dr. Henke gab ein zufriedengestelltes Brummen von sich, als sich erneut die Tür öffnete.
»Entschuldigung, Dr. Henke«, sagte eine ruhige, mir nur allzu bekannte Stimme.
Dr. Henke sah flüchtig von der Tafel auf und hieß Iason eintreten.
Meine Hoffnung, dass Iason, ganz in die Aufgabe vertieft, Hopes Leibwächter zu spielen, die Schule vergessen würde, war damit verflogen. Stattdessen stand er nun mit einer beigen Dreiviertelhose und dunkelblauem Polohemd in der Tür und sah unverschämt gut aus.
Lena stieß mich mit dem Ellenbogen an. »Da kommt die Sünde«, flüsterte sie.
»Er ist keine Sünde, er ist ein Arschloch!«, zischte ich zurück.
Iason funkelte mich an. Gut! Er hatte es verstanden.
Lena sah mich verständnislos an. Da der Unterricht begann, zog sie ihr iPad raus und kritzelte mit ihrem Pen darauf.
Wie kommt der Sinneswandel? Hat Iason Dir wegen gestern noch was gesagt?
Ich nahm ihr den Stift ab und schrieb, mit ordentlich viel Druck, darunter.
Nein, dazu kam es gar nicht. Als ich im Tulpenweg auftauchte, war er superschlecht gelaunt, weil die Mutter von Hopes Freundin unterbinden will, dass die beiden Mädchen miteinander spielen. Daraufhin hab ich dort angerufen und ihr die Meinung gegeigt.
Das hast Du gut gemacht!
Iason sieht das anders. Er war total sauer auf mich und dann hat er Hope angeschrien, weil sie mir, ohne seine Einwilligung, erlaubt hat, dort anzurufen.
Nachdem Lena meine Zeilen gelesen hatte, hielt sie erstaunt inne. Aber dann kritzelte sie hastig etwas darunter und schob es mir hin.
Blöder Scheißkerl!
Ich nickte ihr zu. Lena riss erneut das Pad an sich.
Wie geht es Ariel?
Die Rektorin hat sich gemeldet! Sie gibt ihm eine letzte Chance. Ab morgen darf er wieder in die Schule gehen. Wenn aber noch eine Sache vorfällt, fliegt er!
Jetzt war es Lena, die nickte. Anschließend hielt sie mir ihre gedrückten Daumen entgegen.
Aber in dem Lächeln, das ich ihr daraufhin schenkte, steckte nicht viel Hoffnung. Ariel hatte seit dem Vorfall in der Schule mit keinem von uns mehr ein Wort gesprochen. Es brauchte nicht viel, um zu erkennen, dass er derzeit einem Pulverfass glich. Tanja hatte mit ihm eine Psychologin aufgesucht, doch bisher war es auch dieser nicht gelungen, an ihn ranzukommen.
Als Mr O’Brian zu Beginn der nächsten Stunde noch nicht im Klassenraum aufgetaucht war, führte Mirjam Weiler unüberhörbar ihren Freundinnen die brandneue Lasernagelfeile vor. Sie war umringt von lauter aufgeregten Gummihühnern, die schier exstatisch applaudierten.
Das war die Gelegenheit, auf die Lena und ich seit Tagen gewartet hatten. Wir schenkten uns gegenseitig einen Blick und zogen zwei zusammengenähte Bettlaken unter unserem Tisch hervor. Lena ging damit zur einen Seite des Klassenraums und ich stellte mich auf die andere. In leuchtend roten Buchstaben war nun unser Banner zu lesen:
WER LASERSCHMINKT, DER STINKT
Die halbe Klasse lachte.
Iason indessen schüttelte den Kopf und drehte sich zum Fenster.
Mirjams Miene war kalt wie Eis. Diese Runde war an uns gegangen. Wir setzten uns wieder hin, und Lena ballte die Faust. »Yes.«
»Ihr seid echt albern«, fuhr Frank uns an.
Ich verdrehte die Augen.
In diesem Moment kam Mr O’Brian herein. Noch bevor er seine Tasche abstellen konnte, schnellte Lenas Hand in die Höhe.
»Was gibt’s so Dringendes, Lena?«
»Mr O’Brian. In dieser Klasse scheint ein reges Interesse an Nebensächlichkeiten wie Schminkprodukten und dem gegenwärtigen Entwicklungsstand der Lasertechnologie vorzuherrschen. Da sich die Vereinten Nationen Erde aber derzeit auch mit Themen beschäftigen, die von weitaus mehr Belang sind, schlage ich vor, dass wir heute einmal die wichtigen Dinge zur Diskussion stellen.«
Mirjam drehte sich zu ihr um und zog die laserstrichgeraden Augenbräuchen hoch. »Könntest du dein intellektuelles Geschwafel noch mal für Normalsterbliche übersetzen?«
»Nimm dir ’n Wörterbuch«, schnauzte Lena zurück.
»Okay, okay.« Mr O’Brian machte eine beschwichtigende Geste. Dann setzte er sich auf die Kante des Lehrerpults. »Ich sehe den Bedarf. Wenn es euch möglich ist, in einem angemesseneren Ton zu diskutieren, dann werden wir uns in den nächsten fünfzehn Minuten damit auseinandersetzen.«
Falls Tom O’Brian sich eingebildet hatte, dieses Thema innerhalb einer Viertelstunde abhaken zu können, dann kannte er Lena und mich schlecht. Nach zwanzig Minuten hatten wir uns erst richtig warmdiskutiert.
»Hast du schon mal was von Toleranz gehört?«, setzte ich Gummihuhn Vicci entgegen. Sie hatte es gerade gewagt, das Wahlrecht für Loduuner anzuzweifeln. »Es ist doch völlig egal, wer sie sind oder woher sie kommen. Sie haben ein Recht darauf, in diese Gesellschaft aufgenommen zu werden, und dazu gehört eben auch das Wählen. Unsere Aufgabe sollte es nicht sein, Loduuner in ihren Rechten zu beschneiden, sondern sie auf das, was sie auf der Erde erwartet, vorzubereiten.«
Nachdem Lena und ich erst einmal bis ins Detail die Bedeutung unserer Arbeit dargelegt hatten, ging es nun um den Sinn und Unsinn von Äußerlichkeiten. Natürlich war der verklemmte Frank bei all unseren Darlegungen keine große Hilfe.
»Weißt du, Mia«, fauchte Mirjam, »den Loduunern ist nicht damit geholfen, dass ich mich nicht mehr zurechtmache. Was bringt es ihnen, wenn ich so wie ihr herumlaufe?«
»Wie wär’s mit ein bisschen helfen«, zischte ich herausfordernd. »Die Zeit, die du mit Laserschminke vergeudest, könntest du auch mit Kindern verbringen, die wahrscheinlich nie die Gelegenheit haben werden, sich mit solchem Wohlstandskram zu beschäftigen.« Ich war so wütend, mir war es unmöglich, meine letzten Worte in kontrolliertem Tonfall rüberzubringen. Sprich: Ich schrie Mirjam geradezu an.
»Iason, was meinst du dazu?«, unterbrach Mr O’Brian die hitzige Debatte.
»Sprich ruhig frei heraus.« Lena zwinkerte Iason zu. »Egal, was du sagst. Du hast Mias und meine vollste Unterstützung.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete er. »Mirjam hat recht. Es ist keinem damit gedient, wenn sie sich nicht mehr lasert.«
»Das stimmt«, räumte ich ein. »Auf jemanden wie Mirjam können wir echt verzichten.«
Mr O’Brian stand auf. »Ich werde die Diskussion jetzt abbrechen. Ihr werdet unsachlich und geht unter die Gürtellinie.«
Wütend funkelte ich Mirjam an. Erst das Klacken der Tür ließ mich aus meiner Diskussionsexstase erwachen. Iason hatte den Raum verlassen.
In der folgenden Woche ignorierte ich Iason komplett. Das gefiel mir sehr gut. Er ignorierte mich ebenfalls, was mir weitaus weniger gefiel. Mit erschreckender Gründlichkeit kam er seiner selbst ernannten Aufgabe, Hope zu beschützen, nach. Da er seine Schwester sogar jeden Morgen in die Schule brachte, erschien er täglich zu spät zum Unterricht. Auch nachmittags verließ er die letzten Stunden eher, um sie abzuholen. Richtig ärgerlich wurde ich allerdings, als er sogar die Mathearbeit zwanzig Minuten früher abgab, um pünktlich vor Hopes Klassenraum auf sie zu warten. Ich hingegen schwitzte mich bis zur letzten Minute durch Dr. Henkes geliebte Sinuskurven, die sich wie Würgeschlangen um meine angestrengten Gehirnzellen wanden. Das Ergebnis: Ich bekam gerade noch sechs Punkte, während Iason als Klassenbester ohne einen einzigen Fehler abschnitt.
Hope mit in unser Nachmittagsprogramm einzubinden, war unmöglich. Iason kümmerte sich jede freie Minute, die ihm zur Verfügung stand, um sie. Nicht, dass er seine Schwester noch aufs Klo mitnahm. Aber für solche Fälle hatte er seinen inzwischen eingetroffenen Freund Finn rekrutiert.
Natürlich hatte Iason mich nicht, wie ausgemacht, mitgenommen, als er ihn mit Hope und Bert von der Vulkobase abholte.
Finn hatte hellbraunes Haar und ebenfalls wunderschöne strahlende Augen – wenn sie auch nicht so fesselnd waren wie Iasons. Auch er trug kein Halstuch. Nur Hemden oder mal einen ausgefallenen Schal, die seinen Hals verdeckten. Die beiden mussten wohl im gleichen Alter sein, denn auch Finns Haut schimmerte nicht mehr perlmuttfarben. Irgendwann packte ich eine günstige Gelegenheit beim Schopfe und betrachtete ihn unauffällig genauer. Ein honiggelber Schein umhüllte ihn. Fast golden strahlte es aus seinen Augen. Welchem Clan mochte er wohl angehören? Ich würde mich bei Tanja erkundigen. Fest stand, er war ein vollkommen anderer Typ als Iason, eher flippig und weitaus fröhlicher. Schade, dass ihn die Loyalität zu seinem Freund dazu zwang, mir gegenüber einen gewissen Abstand zu wahren. Finn war nur unwesentlich kleiner als Iason, sein Körper aber gleichermaßen durchtrainiert. Unter den Loduunern schien offensichtlich ein sehr ausgeprägtes Muskel- und Wachstumsgen vorzuherrschen, das zum Tragen kam, sobald man das zwölfte Lebensjahr erreicht hatte. Denn auch Luna war weitaus größer als ihre Klassenkameraden, während Tony, Hope und Silas in ihren Altersgruppen eher zu den kleineren Kindern zählten. Nur der sechsjährige Ariel bildete da eine Ausnahme. Er überragte Hope, die nur zwei Monate jünger als er war, fast um einen ganzen Kopf.
Na ja, jedenfalls war es ein Jammer, mit ansehen zu müssen, wie ihr Bruder Hope von uns anderen isolierte. Dies sagte ich auch eines Tages Tanja, von der ich mir am ehesten Hilfe versprach.
»Du musst irgendwas unternehmen. Das darf so nicht weitergehen.«
»Ich kann nichts tun«, erklärte Tanja, während sie ihre grüne Brille aus dem aschblonden Haar zog. »Iason hat eine Erziehungsvollmacht von seinem Vater. Er ist achtzehn Jahre alt und demnach berechtigt, das Sorgerecht für seine Schwester auszuüben.«
Und als ob das alles nicht schon Aufregung genug gewesen wäre, klingelte am Abend auch noch das Telefon.
Berts Gesicht verfinsterte sich, während er der Stimme am anderen Ende aufmerksam lauschte.
»Ja … Aha … Nun, das sehe ich etwas anders … Ja, er wird sich morgen entschuldigen.«
Verflucht, Bert. Konnte er sich nicht mal etwas deutlicher ausdrücken. Ich verstand nämlich gar nichts.
»Ich rede mit ihm und komme dann morgen früh um acht Uhr in Ihr Büro … So machen wir’s … Vielen Dank. Bis morgen dann.«
»Was ist denn?«, fragte ich, nachdem Bert den Hörer aufgelegt hatte und sich über sein Gesicht fuhr.
»Ariel hat auf dem Heimweg einem Jungen die Nase blutig geschlagen. Und angeblich nicht zum ersten Mal.«
»Und jetzt?«
»Die Rektorin weiß sich bald keinen Rat mehr. Sie beteuert zwar, sie habe Verständnis für Ariels schwierige Situation, aber die Eltern steigen auf die Barrikaden.« Bert seufzte. »Was mache ich bloß mit dem Jungen?«
Ja, was war zu tun? Ariel ließ nach wie vor niemanden an sich heran. Hope war die Einzige, mit der er überhaupt redete. Vielleicht hatte Iason eine Chance?
Ich hoffte das Beste und weihte Bert in meine Idee ein.
Bert nickte und ging sogleich nach oben, um Iason zu bitten, sich der Sache anzunehmen.
Wenige Minuten später lehnte Iason mit der Schulter am Apfelbaum und redete auf Ariel ein. Der Junge stand wie ein Häufchen Elend vor ihm und starrte ins Gras. Ich beobachtete die beiden unauffällig durch das Küchenfenster, und so wurde ich auch Zeuge, wie Iason sich schließlich zu Ariel hinabbeugte und ihm durch das Haar wuschelte. Ariels Gesicht erhellte sich, und als Iason den Jungen an den Hüften packte, ihn sich auf die Schultern warf und mit ihm zum Haus zurückkehrte, sah ich Ariel zum ersten Mal lachen. Schnell widmete ich mich wieder Luna, die auf einem Bleistift kauend über den Hausaufgaben saß. Nicht, weil ihr diese schwerfielen, der Schulstoff schien den loduunischen Kindern rundweg zuzufliegen, aber Luna sah einfach nicht ein, dass sie Dinge, die ihr sonnenklar waren, noch einmal zu Hause vertiefen sollte.
»Ihr strahlt ja so«, begrüßte ich die beiden, als sie durch die Terrassentür traten. Und da ich vor Erleichterung ganz vergaß, böse auf Iason zu sein, fragte ich ihn durch eine Geste, wie er das geschafft hatte.
»Das ist ein Männergeheimnis«, sagte Iason nur.
»Genau«, bekräftigte Ariel seine Worte, bevor er den Kopf einzog, und mit Iason durch die Tür verschwand.
An diesem Abend beschloss ich, dass es so einiges gab, was ich in mir klarkriegen musste. Also setzte ich mich zu Hause an den Schreibtisch und knipste die Lampe an. Ich nahm mein iPad aus der Schublade und erstellte einen Punkteplan, damit ich wenigstens irgendwo ein wenig Ordnung in mein Leben brachte. Ich klickte auf die Tabellenfunktion, zwei Spalten, und schrieb in die erste:
Was ich an Iason hasse:
Er ist arrogant, eingebildet und hat falschen Stolz.
Er macht mir auf unverschämteste Weise immer wieder Vorwürfe.
Er ist tyrannisch und mir oft auf eine düstere Art unheimlich!
Was ich an Iason mag:
Er ist selbstbewusst, einfühlsam und gibt nicht so schnell auf.
Seine Kritik ist manchmal auch ein klein wenig berechtigt.
Er zieht mich unheimlich an.
Wenn man jetzt die negativen Aspekte gegen die positiven aufwog, müssten sie sich neutralisieren. Sprich: Iason müsste mir egal sein. – Aber wollte ich das überhaupt …?
Unser Waffenstillstand sollte nicht lange anhalten. Bereits am nächsten Tag – ich war mit Lena gerade auf dem Weg zur Mensa – kam Iason mir mit finsterer Miene und einem beladenen Tablett entgegen. Als sich die automatische Glastür zwischen uns öffnete, bedachte er uns mit einem knappen Kopfnicken und ging hinaus. Das Einzige, was mich erleichterte – soweit man in einem solchen Fall überhaupt von Erleichterung sprechen kann – war, dass er Mirjam, die nach uns die Mensa betrat, genauso zurückhaltend begrüßte.
Nachdem ich mein Tablett mit Reispfanne und Orangensaft bestückt hatte, setzten Lena und ich uns zu Frank und Barbara an einen Tisch an der Glasfront. Die anderen redeten über dies und das, aber ihre Gespräche rauschten komplett an mir vorbei. Schweigend stocherte ich auf meinem Teller herum und blickte immer wieder nachdenklich aus dem Fenster. Iason aß viel, das wusste ich. Diesmal war sein Tablett aber über die Maßen vollgeladen gewesen. Und warum hatte er damit die Mensa verlassen?
Frank war gerade aufgestanden, um sich noch ein Wasser zu besorgen, als mir ein Gedanke durch den Kopf schoss. Iason würde doch wohl nicht …?
Ich pfefferte meine Gabel zurück auf den Teller. »Das geht zu weit«, sagte ich laut. »Ich glaube, Iason lässt Hope jetzt noch nicht mal mehr mit den anderen Kindern zusammen essen.«
Lena schluckte ihre Kartoffel unzerkaut herunter. »Nicht dein Ernst?«
Entschlossen stand ich auf. »Komm. Lass uns nachsehen.«
Wir ließen unser Essen wie auch eine verdutzte Barbara zurück und eilten aus der Mensa. Als wir um die Ecke des Chemiesaals bogen, sah ich ihn schon von Weitem. Den Rücken zu uns gewandt, stand er mit leeren Händen am Metallzaun der Grundschule.
»Er hat ihr sein Tablett gegeben.« Mein Tempo beschleunigte sich. »Na warte, jetzt ist Schluss mit dem Terror.«
Lena hatte einige Mühe mitzuhalten. Als ich ihn fast erreicht hatte, sah ich auch Hope, die mit gekreuzten Beinen auf dem Boden saß. Auf ihren Knien lag Iasons Essen.
»Sag mal, drehst du jetzt komplett durch!«, rief ich ihm entgegen. Und da war ich auch schon bei ihm. »Du kannst doch nicht …«
»Mia, sie haben ihr das Tablett abgenommen und es in den Müll geschmissen«, fiel Iason mir ins Wort. »Sie kann es jedoch nicht beweisen, weil außer Ariel angeblich keiner in der überfüllten Mensa etwas davon mitbekommen hat.«
Sprachlos wechselten meine Blicke zwischen ihm und Hope. Und dann stieg eine Ahnung in mir auf, die ich am liebsten wie eine SPAM-Mail, ohne sie zu lesen, in den Papierkorb gepfeffert hätte. Stattdessen wurde sie aber immer beunruhigender.
»Wo ist Ariel?«, kroch es aus meinem Mund.
»Bei der Rektorin«, sagte Hope. »Er hat die Spaghetti wieder aus der Tonne geholt und sie Tanischa ins Gesicht gedrückt.«
»Verdammt!« Ich warf die Arme über den Kopf, drehte mich um und trat nach ein paar Schritten in die Luft. Dann riss ich sie wieder herunter, kam zurück und kletterte über den Zaun. Iason sprang mit einem Satz hinterher und hielt mich am Arm fest. »Was hast du vor?«
»Lass mich los! Ich muss mit der Rektorin reden, sonst fliegt Ariel!«
Iason dachte gar nicht daran. »Mia, ich glaube, das ist keine gute Idee. Deine undiplomatische Art wäre jetzt bestimmt nicht hilfreich.«
Fluchend versuchte ich mich aus seiner Armschelle zu winden, sodass zwischen uns ein hitziges Gerangel entstand.
»Ist es meine Schuld, wenn Ariel jetzt von der Schule verwiesen wird?«, unterbrach uns Hopes Stimme.
Wir blickten sie verdutzt an. Im Eifer des Gefechts hatten wir ganz vergessen, dass wir nicht allein waren. Lena kletterte nun ebenfalls über den Zaun, setzte sich neben sie und schlug die Beine unter.
»Es ist nicht deine Schuld.« Sachte stieß sie das Mädchen mit dem Ellenbogen an. »Du kannst nichts dafür, dass die da drinnen nur sehen, was sie sehen wollen. Deshalb schlage ich vor, dass wir gemeinsam zur Rektorin gehen und mit ihr sprechen. Du musst ihr erzählen, was genau geschehen ist. Vielleicht zeigt sie dann Nachsicht.«
»Finn ist schon bei ihr«, sagte Iason.
Doch Lena ließ nicht locker. »Egal. Kommt, wir gehen geschlossen hin.«
Als wir gerade an die Tür des Sekretariats klopften, kam uns Finn mit der Rektorin auf dem Gang entgegen. »Bert hat Ariel schon abgeholt«, sagte er.
Ruhig bleiben, gaaanz ruhig bleiben, beschwor ich mich. »Dürfen wir Ihnen wenigstens erzählen, wie es dazu gekommen ist?«
Die große Frau schüttelte den Kopf. »Ich will keine Ausflüchte mehr hören. Es ist bereits zu viel passiert. Ich kann und darf Ariels Verhalten nicht mehr länger dulden.« Dann richtete sie sich an Hope, die mit großen Augen zu ihr aufsah. »Dein Unterricht hat begonnen. Geh in deine Klasse, es gab bereits genug Ärger mit euch.«
»Aber es war wirklich nicht Ariels Schuld«, nahm die Kleine ihren ganzen Mut zusammen. »Er wollte mir doch nur …«
»Ich sagte, du sollst in deine Klasse gehen«, unterbrach die Rektorin sie scharf.
Iasons Strahlen verstärkte sich. Ein mir bekanntes Flimmern trat aus seinen Augen. »Und was geschieht, wenn meine Schwester nicht tut, was Sie sagen? Ist sie dann die Nächste, die von der Schule verwiesen wird?«
Ich fasste ihn schnell am Arm.
Die Züge der Rektorin vereisten. »Seid ihr Loduuner eigentlich alle so jähzornig?«, fragte sie kalt. »Gehen Sie lieber, junger Mann. Ehe ich den Wachdienst rufen lasse.«
Ein blaues Leuchten pulsierte unter Iasons Polokragen. Sein Blick war eine einzige Warnung.
»Komm, lass gut sein«, versuchte ich ihn zu beruhigen.
Die Rektorin nahm Hope an der Hand und führte sie davon.
Während ich Iason fortzog, warfen seine Augen der Rektorin eine blaue Stichflamme hinterher. Im selben Moment wandte auch sie noch einmal den Kopf.
»Morgen hat sie ein Schild an der Tür hängen«, knurrte Lena, als wir niedergeschlagen, über den Schulhof gingen. »Darauf wird in großen roten Buchstaben ›Kein Platz für Rassisten‹ draufstehen.«
»Hört bloß auf«, schaltete Finn sich ein. »Das macht die Sache nur noch schlimmer.«
Er sah auf sein iCommplete. »Wir haben noch eine Viertelstunde Zeit. Ich habe noch nichts gegessen. Kommt jemand mit in die Mensa?«
Iason schüttelte den Kopf. »Nein, ich fahre zu Ariel und Bert.«
»Ich hab zwar keinen Hunger, aber ich geh mit«, sagte Lena. »Was ist mit dir, Mia?«
»Ich kann mich jetzt sowieso nicht auf den Unterricht konzentrieren. Ich denke, ich fahre auch in den Tulpenweg.«
Also trennten sich unsere Wege. Während Lena und Finn zur Schule zurückkehrten, gingen Iason und ich stumm zur Haltestelle.
Als das Schiff kam und wir eingestiegen waren, konnte ich es einfach nicht mehr aushalten. »Hör zu, das darf zwischen uns nicht so weitergehen. Was ich dir da heute mit Hope unterstellt habe, tut mir wirklich leid. Aber wir können doch nicht bis in alle Ewigkeit ständig …«
Er fuhr zu mir herum. »Nein, jetzt hörst du mir mal zu! Du warst großartig heute. Wenn du nicht gewesen wärest, hätte ich mich vergessen.« Für einen Moment grub sich seine Hand in die Stuhllehne.
»Was ist es denn dann?«, fragte ich unsicher.
Iason drehte das Gesicht weg. »Manchmal …« Er ließ sich Zeit, ehe er schneidend hinzusetzte: »Kann ich deine Art einfach nicht leiden.«
Was meinte er denn damit?
»Ich verstehe nicht, ich … ich hab es doch nur gut gemeint.«
»Ich hatte gehofft, ich würde mich täuschen. Aber du bist es, du bist so selbstverliebt, dass du es noch nicht mal merkst.« Aus seinen Worten troff solche Abscheu, ich konnte nichts erwidern. Und dann sah er mich wieder an. »Kapierst du nicht, wie gönnerhaft das rüberkommt. Du und deine durchgeknallte Freundin, ihr könntet euch den ganzen Tag selbst umarmen für das, was ihr tut. Und weißt du warum? Weil es für euch genauso wenig selbstverständlich ist zu helfen, wie für Mirjam und ihre Verbündeten. Ihr macht das doch nur aus einem einzigen Grund. Ihr wollt rebellieren. Und dafür benutzt ihr uns. Ohne eure Gegner würde es doch überhaupt keinen Spaß bereiten. Es wäre gar nicht interessant, habe ich recht?«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Hatte ich tatsächlich einen solchen Eindruck auf ihn gemacht? So hatte ich nie wirken wollen.
Er presste die Zähne zusammen und zischte: »Ich frage mich, was dümmer ist, gefürchtet oder Mittel zum Zweck zu sein.«
Die Erschütterung schlug wie eine Granate in meinem Magen ein. Es waren nicht allein die hitzigen und unüberlegten Aktionen von mir gewesen. Nein, er verachtete mich! Mich ganz und gar.
»Aber damals am Meer …« Fassungslos sah ich ihn an.
Er schaute aus dem Fenster. »Du hast etwas durchgemacht, was ich nur allzugut kenne. Dieses Gefühl wünsche ich keinem. Außerdem war das zu der Zeit, als ich noch dachte, du seist anders. Manchmal kannst du so bezaubernd sein, doch das gehört alles zum Spiel, stimmt’s?«
Merkte er denn nicht, wie hart mich seine Worte trafen?
Ich wusste nicht, ob, und wenn, was er noch sagte. Das Schiff hielt irgendwann, an irgendeinem Ort. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren, als ich mich am Vordersitz hochzog. Benommen starrte ich ins Leere, während ich an ihm vorbeiging und ausstieg.
Erst als sich die Türen mit einem leisen Zischen schlossen, begriff ich, dass ich nicht mehr im Schiff saß.
In mich zurückgezogen, schleppte ich mich durch die Straßen. Ich hatte mir etwas vorgemacht; all die Signale falsch gedeutet. Während ich schwankend einen Fuß vor den anderen setzte, sackten seine Worte immer mehr in mir. Damals, am Strand, ich hatte vor ihm geweint, meine ganze Seele entblößt. Und nun? Nun schlang ich die Arme um den Körper, als wäre ich nackt.
Ich wusste nicht, wie ich nach Hause gekommen war; erinnerte mich kaum mehr daran, dass ich den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte. Die Tür kam mir so schwer vor, als ich sie aufschob. Dann lotsten mich meine tauben Beine durch den Flur. Ich konnte nichts sehen; vermochte nichts zu fühlen; alles in mir war leer.
Erst als ich vor dem Bett stand und mich auf das tröstende Kissen warf, begann ich wahre Sturzbäche zu weinen.
Ich musste Stunden dagelegen haben, denn als ich erneut einen Schlüssel im Schloss knacken hörte, war es bereits stockfinster draußen. Einzig die Scheinwerfer der vorbeiziehenden Flugschiffe erhellten hin und wieder die Dunkelheit.
»Mia?«, hörte ich die Stimme meiner Mutter aus dem Flur. Kurz darauf öffnete sich meine Zimmertür.
Mein Anblick musste furchtbar gewesen sein, denn als sie den Kopf hereinstreckte und das Licht anknipste, entglitten ihr die Gesichtszüge. Sie kam schnurstracks auf mich zu, warf die Arme um meinen Körper und zog mich an sich. Ich begann wieder zu weinen, und da ich mich nicht beruhigen ließ, heulte sie kurze Zeit später einfach mit. Es dauerte lange, bis ich etwas die Fassung wiedererlangte. Dann sagte ich ihr alles, erzählte und erzählte – mit Unterbrechungen, wenn eine neue Tränenwelle über mich schwappte.
Meine Mutter verließ mich nur, wenn sie neues Sahneeis besorgte, das wir wie Gestörte in uns reinstopften. Sie strich mir fortwährend über den Rücken, drückte mich an sich oder wischte die Tränen von meinen Wangen.
»Dieser Iason scheint ein sehr kluger junger Mann zu sein«, sagte sie schließlich, nachdem ich ihr von der Geschichte am Meer erzählt hatte. »Weniger wäre auch nicht gut genug für dich.«
»Aber er verachtet mich«, wimmerte ich.
Meine Mutter richtete sich auf und legte die Hände an mein Gesicht.
»Das glaube ich nicht. Wenn er das täte, wäre er ein Narr, und in einen solchen würdest du dich nie verlieben.«
»Ab… aber wa… wa… warum sagt er dann so was?« Jetzt heulte ich erst richtig los.
»Vielleicht hat er Angst, dass du ihn nur magst, weil er aus Loduun kommt, oder dass du ihn aus genau diesem Grund eben nicht mögen könntest.« Sie beugte sich etwas vor, damit sie mir in die Augen schauen konnte. »Überleg doch mal. Wenn er tatsächlich denkt, du würdest unter den Loduunern keine Unterschiede machen und sie alle nur für Rebellionszwecke missbrauchen, was soll Iason dann glauben, ist er für dich?«
Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Hätte ich es nicht selbst erlebt, mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass Mütter dermaßen intelligente Rückschlüsse ziehen könnten.
»Mia, hast du ihm auch nur ein Mal in Ansätzen zu verstehen gegeben, was du wirklich für ihn empfindest? Dass du ihn magst, weil Iason einfach Iason ist?«
Eine weitere Träne rann aus meinem Augenwinkel und ich deutete schniefend ein Kopfschütteln an.
»Weißt du, mein Schatz, manchmal ist es gar nicht so verkehrt, zu zeigen, dass man verletzbar ist.«
Ich nahm das Taschentuch, das sie mir entgegenhielt.
Meine Mutter legte sich neben mich und hielt meine Schultern fest umschlungen. Immer wieder strich sie über mein tränendurchweichtes Haar und erhob sich erst, als sie glaubte, ich sei eingeschlafen.
Leise stand sie auf, ging aus meinem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Doch schlafen konnte ich trotzdem nicht. Stattdessen wälzte ich mich im Bett herum und ertrank in Verzweiflung. Ich sah aus dem Fenster, hinauf zu den Sternen, die sich blass hinter dem getönten Kuppelglas abzeichneten. Was Iason wohl gerade dachte?
Ich durchstreifte meine Erinnerungen an die Momente, als seine strahlenden Augen sich in meiner Gegenwart verdunkelt hatten. Die Strandbar, in der Lena und ich ihm von unseren Streitereien mit Mirjam erzählt hatten, die Diskussion in der Schule, als wir den Gummihühnern eins auswischen wollten.
»… Es ist doch völlig egal, wer sie sind oder woher sie kommen …« Es war nicht egal, ganz und gar nicht.
»… Unsere Aufgabe sollte es nicht sein, Loduuner in ihren Rechten zu beschneiden, sondern sie auf das, was sie auf der Erde erwartet, vorzubereiten…« Wen hatte ich versucht zu spielen? Gott? »… Die Kinder aus Loduun werden wahrscheinlich nie die Gelegenheit haben, sich mit solchem Wohlstandskram wie Laserschminke zu beschäftigen …« Wieso nicht? Sie waren über die Maßen intelligent, und durchsetzungsfähig, wenn sie etwas wollten. Mein Mitleid musste wohl die größte Demütigung gewesen sein. Worte wie »Toleranz« ließen sich nun mal so und so verstehen.
Seufzend rollte ich mich unter der Decke zusammen. Es waren so viele Momente, in denen Iason geglaubt haben musste, nicht mehr als ein Werkzeug für mich zu sein. Bisher hatte ich immer gedacht, ich verstand vieles, was andere nicht verstehen. Jetzt wusste ich, ich hatte rein gar nichts kapiert.