Imagestar 3

Es war bedrückend still, als wir mit Hope und vier weiteren Kindern auf der Luftstraße in Richtung Westen unterwegs waren. Ein kleiner blonder Junge lag schlafend in meinen Armen. Sein Atem floss ruhig und gleichmäßig über meine Hand. Die anderen blickten ängstlich und schweigend aus den Fenstern, während die Landschaft in schwarzen Schatten an uns vorbeiflog. Ich betrachtete die Kinder genauer, und obgleich es mir bereits auf der Vulkobase aufgefallen war, verblüffte es mich erneut, wie ähnlich sie uns sahen. Aber trotzdem wirkten sie anders. Da war dieses Leuchten in ihren Augen. Ihre Haltung war kerzengerade, und ihre Bewegungen – wenn sie denn welche machten – waren so anmutig, dass sie mich an kleine Engel erinnerten. Abgemagerte und vergessene Engel. Kleine kostbare Geschöpfe, deren Unantastbarkeit geradezu heilig schien. Es kam mir wie Frevel vor, diese auch nur in Gedanken anzuzweifeln – und doch hatte Lokondra sie achtlos berührt.

Wir bogen in die Auffahrt ab. Das Haus war hell erleuchtet und strahlte die Gemütlichkeit eines warmen Nestes aus. Hoffentlich würde es das auch für die Kinder sein können. Keiner hätte es mehr verdient.

Als das Schiff anhielt, öffnete Bert uns die Tür.

Die Kinder klaubten ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und stiegen der Reihe nach aus. Ich nahm den schlafenden Jungen und folgte ihnen.

Während sie auf Tanja und mich warteten, sahen sie sich schüchtern um. Hope schenkte mir einen Blick. Zuversicht, das war es, was sie in meinem Gesicht suchte. Ich hoffte, sie hatte sie gefunden, und folgte ihr die Treppe zum Haus hinauf.

Trotz des feingliedrigen Körpers, den dünnen Ärmchen und der mageren Gestalt war der kleine Junge viel schwerer als jedes Irdenkind, das ich bisher getragen hatte.

Als wir durch die Tür traten, kam Bert auf mich zu.

»Soll ich ihn dir abnehmen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Danke, es geht schon.«

»Komm, ich zeige dir sein Zimmer«, sagte er leise.

Ich folgte ihm in den ersten Stock hinauf. Wir betraten einen dunklen Raum, in dem es beruhigend nach Lavendel roch. Bert ging voraus und knipste den Schalter einer Nachttischlampe an. Der Kleine zuckte und seine Hände ballten sich kurz zu Fäusten, aber dann erschlafften seine Muskeln wieder und er schlief weiter, ruhig und mit fließendem Atem.

»Ich kümmere mich inzwischen um die anderen«, sagte Bert, bevor er verschwand.

Ich legte den Jungen in eines der zwei Betten und setzte mich auf dessen Rand. Sanft zog ich ihm die Decke über die Schultern. Im Schein der Nachttischlampe betrachtete ich sein Gesicht, die langen geschwungenen Wimpern und die kleinen Ohren. Seine perlmuttschimmernde Haut war so zart und durchscheinend, dass ich sie nicht zu berühren wagte.

Sie sahen uns so ähnlich!

Meine Hand strich über sein blondes Haar. Dann löschte ich das Licht.

Als ich zu Bert in die Küche kam, saßen die anderen Kinder an einem üppig gedeckten Tisch. Sie aßen alle Brot, Joghurt und griffen nach dem Gemüse. Die Frage, wovon sie sich ernährten, erübrigte sich somit gerade, was schon mal eine Sorge weniger war.

»Wo ist Tanja?«, fragte ich, da ich sie ebenfalls in der Runde erwartet hatte.

»Sie fährt die anderen Häuser ab, um zu sehen, ob alle gut untergekommen sind«, sagte Bert, während er aus einem Radieschen eine Blume schnitzte und sie Hope hinhielt.

Die Kleine lächelte. Wie hübsch sie war.

Ich setzte mich neben sie auf den einzigen freien Stuhl und fand an meinem Platz eine kleine Schale mit Würstchen. Aufmerksam von Bert, dem ich meine Vorliebe für Knackwürste verraten hatte. Die spärliche Menge würde allerdings für alle am Tisch bei Weitem nicht ausreichen. Es war, als hätte er es nur für mich gedeckt. Das fand ich weniger aufmerksam von ihm. Verlegen griff ich nach einer Knackwurst und hielt sie Hope hin. »Möchtest du?«

Die Kleine sah mich verstört an. Fort war ihr Lächeln und ich bereute meine Frage.

»Das kann man nicht essen«, sagte sie vorwurfsvoll. »Es riecht nach totem Tier.« Hope rümpfte angewidert die Nase.

Meine Kinnlade klappte nach unten und ich sah sie mit offenem Mund an. »Wie du unsere Sprache kannst.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Die haben wir auf der Fahrt hierher gelernt.«

»In zwei Monaten.« Ich war platt.

»Ja, ich weiß. Ich muss sie noch ein wenig perfektionieren. Ich rolle das R zu sehr.«

Ich versuchte, mich daran zu erinnern, ob ich das Wort »perfektionieren« schon mal aus dem Munde einer Fünfjährigen gehört hatte, denn älter schien sie mir nicht.

»Zu Hause bin ich zwanzig, auf der Erde müsste ich demnach sechs sein.«

Wieder sah ich sie überrascht an.

»Kannst du auch Gedanken lesen?«

Hope schüttelte den blonden Lockenkopf. Da war es wieder, ihr hübsches Lächeln. »Nein. Aber du sprichst mit den Augen.«

Ich musste wohl ein sehr unvorteilhaftes Gesicht gemacht haben, denn die anderen Kinder und auch Bert fielen in ihr Lachen mit ein.

Ich war froh, dass die Stimmung jetzt gelöster war und legte das Würstchen beiseite, auf das ich ebenfalls den Appetit verloren hatte.

Nachdem die Kinder mit dem Essen fertig waren, zeigten wir ihnen die Schlafräume und das Bad. Während sie sich die Schlafanzüge anzogen, fiel mir auf, dass sie alle Halstücher trugen. Obwohl diese teilweise ziemlich schmutzig waren, machte niemand von ihnen irgendwelche Anstalten, sie auszuziehen. Unsicher beobachtete ich Bert und wartete, ob er sie auffordern würde, die Tücher abzulegen. Doch er ließ sie, ohne ein Wort darüber zu verlieren, gewähren, deshalb sagte ich ebenfalls nichts, und wir brachten sie in ihre Zimmer.

Es dauerte nicht lange, bis sie in ihren Betten lagen und erschöpft, wie sie waren, zur Ruhe kamen. Ob sie Schlaf finden würden, bezweifelte ich allerdings.

Als es im ersten Stock still geworden war, trat ich auf die Veranda in die kühle Nachtluft hinaus. Vor meinem inneren Auge bewegten sich sieben perlmuttschimmernde Gesichter. Solch einen Hautton hatte ich noch nie zuvor gesehen. Alle Farben schienen sich darin zu vereinen.

Ich legte mir die Jacke über die Schultern und dachte an meine kleine Cousine Maya, ein ausgelassenes, lautes Mädchen und äußerst beharrlich, wenn sie irgendetwas wollte. Aber diese Kinder … sie waren ungewöhnlich gefasst, ja beinahe kontrolliert und leise wie Schmetterlinge. Sie schienen so ruhig und überlegt, viel reifer als Maya. Wahrscheinlich mussten sie das auch sein. Schließlich waren sie fernab von ihren Verwandten und gezwungen, sich hier irgendwie durchzuschlagen – allein, in einer ganz anderen Welt.

Ich seufzte innerlich. Hoffentlich würde Hopes Bruder bald aus dem Krankenhaus kommen. Dann wäre wenigstens sie nicht mehr ganz ohne Familie.

»Die Kinder schlafen alle«, drang Berts tiefe Stimme zu mir durch. »Soll ich dich heimfliegen?«

Ich brauchte eine Weile, ehe ich ihm antworten konnte. Zu überwältigend waren meine Gedanken.

»Das ist lieb von dir. Aber ich glaube, ein kleiner Spaziergang ist jetzt genau das Richtige für mich. Ist ja nicht weit bis zur nächsten Haltestelle.«

Als ich mich zu ihm umdrehte, sah ich, dass Bert in kurzer Hose und T-Shirt draußen stand. Fror dieser Mann eigentlich nie?

»Wie du meinst«, sagte er. »Kommst du dann morgen?«

»Ja. Ich bringe Frank mit.«

Ich zog die Jacke an und ging die Stufen hinab, dann drehte ich mich noch einmal zu ihm um.

»Bis morgen, Bert.«

»Tschüss, Mia.«