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»Last uns davon ausgehen, dass Clarence Haag gegen seinen Willen entführt worden ist. Marias Beobachtungen und die Zeugenaussagen aus der Goldenen Traube deuten darauf hin. In diesem Fall hat der Mann mit der Mütze sich mindestens der Entführung eines Menschen oder der Freiheitsberaubung schuldig gemacht. Andererseits haben wir dafür keinen eigentlichen Beweis. Wie Maria schon sagt, sieht das Ganze nach einem Polterabend-Streich aus. Weshalb sollte sich ein Kunde mit Clarence verabreden und dann den teuren Wein in die Blumenkübel der Goldenen Traube gießen? Warum sollte jemand Clarence Haag entführen wollen? Lösegeld ist nicht gefordert worden. Er macht auch nicht den Eindruck, als ob er so reich wäre, dass sich die Mühe lohnt, meine ich.« Hartman lehnte sich zurück und schaukelte nachdenklich mit dem Stuhl, rührte in der Kaffeetasse und stocherte gedankenvoll mit dem Kaffeelöffel in seinem Ohr.
»Die Frage ist, warum der Mützenmann Clarence ein Taschentuch vor das Gesicht gehalten hat, sofern das nicht mit Äther präpariert war. Wern kann Recht haben mit ihrer Vermutung, dass er darin eine Waffe versteckt hielt.« Arvidsson streckte die Beine unter dem Tisch aus und berührte dabei Marias Fuß. Verlegen zuckte er zusammen und setzte sich wieder gerade hin.
»Vielleicht verhält es sich so«, fuhr Hartman fort, »dass Clarence wollte, dass es so aussah, als ob er entführt würde. Aber das scheint doch noch unlogischer. Warum könnte er das gewollt haben?«
»Vielleicht war er seine nörgelnde Frau einfach leid«, grinste Himberg.
»Hat sich die Frau gemeldet?«
»Ununterbrochen«, antwortete Himberg mit einem langen Seufzer und blickte Aufmerksamkeit heischend umher.
»Hatte sie etwas Neues zu sagen? Es ist wichtig, dass sie weiß, dass wir an allen Details interessiert sind, die mit dem Verschwinden zusammenhängen.«
»Ja und nein, sie sprach von einem eigentümlichen Telefonat, das Clarence vor einiger Zeit geführt hat. Rosmarie hatte den Hörer im oberen Stock abgenommen, um zu telefonieren, und hat einen Teil des Gesprächs mit angehört.« Örjan Himberg blätterte wie wild in seinem Block. »Hier. Sie hat eine fremde Männerstimme sagen hören: ›Ich habe nicht viel zu verlieren, aber bei dir ist das etwas anderes, Clarence.‹ Da hat Haag geantwortet: ›Du verdammtes Schwein, dir werd ich’s zeigen.‹ Rosmarie glaubt nicht, dass Clarence mit einem Kunden gesprochen hat.«
»Das kann ich mir vorstellen«, stimmte Hartman zu.
»Nach diesem Gespräch scheint Haag schweigsam und verschlossen geworden zu sein. Genauso hat sie es gesagt: schweigsam und verschlossen.«
»Wir müssen natürlich die wirtschaftliche Situation des Mannes überprüfen. Sowohl die private als auch die der Firma. Der Kompagnon von Clarence, Odd Molin, kommt heute Vormittag noch hierher. Ich habe mir gedacht, dass Wern sich seiner annimmt. Frag ihn besonders nach der finanziellen Lage des Unternehmens, bitte ihn um den letzten Bericht der Buchprüfer. Vielleicht erinnert er sich an den Namen des Kunden, mit dem Clarence Haag in der Goldenen Traube gespeist hat. Um die privaten Finanzen kümmert sich Arvidsson. Was uns interessiert, sind größere Einzahlungen oder Auszahlungen. Sprich mit der Ehefrau darüber, ob sie weiß, worum es sich bei den Transaktionen handelt. Kontrolliere, ob das Paar gemeinsame Konten hat, ob sie einen Ehevertrag haben, Versicherungen und so weiter. Versuche diskret herauszuhören, ob Clarence irgendwann früher eine andere nebenher gehabt hat, oder ob er bedroht worden ist.« Hartman ließ die Tüte mit Kopenhagenern herumgehen, die er auf dem Weg zur Arbeit gekauft hatte. Nach einem Frühstück mit Vollkornbrot und Magermilch musste sein Magen ein wenig aufgemuntert und der Blutzuckergehalt sichergestellt werden.
»Wern, du wolltest mit mir unter vier Augen sprechen. Das können wir in einer Viertelstunde bei mir tun.« Maria nickte. Die Sache mit der Nerzfarm wollte sie diskret handhaben. Das hieß, ohne dass Himberg seine Ohren lang machte. Diskretion war nicht seine starke Seite.
Clarence’ Kompagnon, Odd Molin, war von Kopf bis Fuß Verkäufer, anders gesagt, ein Mann mit einer Nase für Geschäfte. Tadellos gekleidet in Armanihemd und Seidenschlips, das Jackett gerade so weit aufgeknöpft, dass man die Marke sehen konnte, nahm er am Tisch eine offensive Haltung ein. Er reichte die Hand zu einem Vertrauen erweckenden und ehrlichen Handschlag hinüber. Sein Lächeln erstreckte sich bis zu den hinteren Backenzähnen. Der Spalt zwischen den Schneidezähnen gab ihm ein eichhörnchenhaftes Aussehen. Das schon ein wenig dünne Haar war sorgfältig zurückgekämmt. Maria konnte noch schnell die Rolex bemerken, bevor er die Hand in die Aktentasche steckte, um den letzten Revisionsbericht herauszuziehen. In wenigen Augenblicken hatte er Maria als zukünftige Kundin ausgemacht. Sie verstand gar nicht, wie ihm das gelungen war. Sofort hatte Odd sich angeboten, das gelbe Haus in Kronviken zu verkaufen, um in seiner Güte Kriminalinspektorin Wern von all ihrem Ärger zu befreien. Maria war wider Willen beeindruckt. Der Mann war ein absoluter Profi.
»Eine Wohnung in der Stadt hat ihre großen Vorteile. Alles ist in der Nähe. Die Spielkameraden der Kinder. Und überlegen Sie mal, wie praktisch. Wenn etwas kaputtgeht, braucht man nur den Hörer hochzuheben, mit dem Hauswirt zu sprechen, und dann wird es repariert. Ich könnte zu Ihnen hinauskommen und eine Bewertung des Hauses erstellen. Eine Schätzung kann doch nie schaden. Gratis natürlich. Sozusagen unter uns beiden. Wissen Sie, die Bank nimmt dafür einen Tausender.«
»Sie haben eine lange Reise hinter sich. Möchten Sie eine Tasse Kaffee und ein belegtes Brot haben, bevor wir die Papiere durchgehen?«, fragte Maria, um seine Offensive zu durchkreuzen.
»Eine Tasse Kaffee kann niemals schaden«, antwortete Odd mit einer Stimme, die meilenweit von der Verärgerung entfernt war, die er am Telefon zum Ausdruck gebracht hatte, als sie über Rosmarie Haag gesprochen hatten. Eine Tasse Kaffee kann niemals schaden! Auf dem Weg in die Küche sah sie Odd wie einen Verkäufer in der Herrenausstattungsbranche vor sich: Ein schwarzes Oberhemd ist immer richtig. Aber nicht doch, Herr Molin, ein schwarzes Oberhemd ist völlig fehl am Platze, wenn man ein Kind hat, das sich ständig übergibt. Oder als Autoverkäufer. Ein rotes Auto ist immer richtig. Stimmt nicht, Odd, wenn man sich unbemerkt in einem Kriegsgebiet bewegen will, kann ein rotes Auto den sicheren Tod bedeuten. Maria reichte den Kaffeebecher mit einem versonnenen Lächeln hinüber, das zu einem glucksenden Lachen wurde, als Odd Molin ahnungslos erklärte, dass ein wenig Milch im Kaffee immer richtig sei.
Problemlos konnte Odd Molin nachweisen, dass die Finanzen der Firma solide waren. Clarence kümmerte sich um die finanziellen Dinge und er selbst hielt den Kontakt zu den meisten Kunden. Das schien eine durchdachte Arbeitsteilung zu sein. Er hatte nicht die blasseste Ahnung, wen Clarence in der Goldenen Traube getroffen haben konnte. Es war ja auch nicht ganz abwegig, dass es sich um eine rein private Investition handelte, meinte er.
»Was könnte Clarence Ihrer Meinung nach zugestoßen sein? Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht?«, wollte Maria wissen.
»Sein größtes Problem ist ohne Zweifel Rosmarie. Ich glaube nicht, dass sie mental ganz gesund ist.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie ist völlig versessen auf ihre Pflanzen. Sie spricht von ihnen, als ob es sich um lebendige Wesen handelt.«
»Aber das sind sie doch.« Maria sah den blühenden Garten in seinem kraftvoll überschwänglichen Grün vor sich. »Höchst lebendig.«
»Sie begreifen das nicht, sie ist Veganerin. Neulich, als wir ein Essen mit Geschäftsfreunden hatten, machte sie alles kaputt, indem sie über unwürdige Tiertransporte mit gestressten Tieren sprach, deren Hormone dann auf dem Teller landen und ins Blut wandern. In allen Einzelheiten schilderte sie uns, wie das Schlachten vor sich geht und wie die Transporte von Schlachtvieh den Treibhauseffekt fordern, und schloss ihre Ausführungen mit einer langen Rede über BSE und Tiermehl ab. Die Leute wollen einen Restaurantbesuch doch genießen. Sie zieht all ihre Lebensmittel selbst, giftfrei und ohne Kunstdünger. Wenn man bei denen zu Besuch ist, riecht es so nach Hühnerscheiße, dass einem die Tränen in die Augen steigen. Ich verstehe schon, dass Clarence manchmal wütend wird. Er hätte bei mir wohnen können, wenn er nur ein Wort gesagt hätte.«
Maria lächelte vor sich hin. Nächstes Mal, wenn sie Gemüse einkaufte, würde sie es bei Rosmarie tun. Naturbelassene Produkte waren teuer, aber sie wollte ihren Kindern giftfreies Essen vorsetzen. In der derzeitigen Situation war Rosmaries Gärtnerei ganz bestimmt eine Alternative. Man stelle sich vor, die EU würde mit ihrer Landwirtschaftspolitik den giftfreien Anbau von Gemüse fördern, statt sich solcher Nebensächlichkeiten zu widmen wie der Frage, ob alle Gurken gleich lang sein sollen. Offenbar um der Gerechtigkeit willen mussten alle EU-Bürger gleich giftige Lebensmittel und gleich große und gleich runde Erdbeeren essen. Anforderungen an die Umweltverträglichkeit durften nicht zur Behinderung des Handels führen, das war der eigentliche Sinn. Stattdessen sollte man keine krummen Gurken mehr kaufen dürfen.
»Sie wissen also nicht, wo er ist?«
»Nein, aber er wird wohl wieder auftauchen, wenn er sich entschieden hat, wie es mit der Frau weitergehen soll.«
»Noch eine Sache. Können Sie etwas über die Alkoholgewohnheiten von Clarence sagen?«
»Nein. Was sollte das denn sein? Manchmal muss man natürlich repräsentieren, vielleicht die eine oder andere Sauferei, aber er macht seine Arbeit ordentlich. Da kann ich wirklich nichts anderes sagen.«
»Er lehnt also Alkohol nicht völlig ab?«
»Machen Sie Witze? Obwohl das schon schlimmer gewesen ist. In den Jahren nachdem wir aus Zypern zurückgekommen sind, glaubte ich manchmal, er würde zum Alkoholiker werden. Aber dann hat sich das gegeben, nachdem Rosmarie sich um ihn gekümmert hat.«
»Haben Sie zusammen im UNO-Kontingent gedient?«
»Ja, aber das ist beinahe zwanzig Jahre her. Wir haben tatsächlich überlegt, ob wir zusammen runter nach Stockholm ins Restaurant Engelen fahren, Clarence und ich. Dort veranstalten sie jeden ersten Montag im Monat Treffen für UNO-Soldaten. Soll richtig gemütlich dort sein.«
Odd Molin stand auf und sammelte seine Unterlagen ein.
»Denken Sie an die Besichtigung Ihres Hauses. Übrigens, wenn Sie heute Abend nichts Besonderes vorhaben, dürfte ich Sie vielleicht zu einer kleinen Segeltour, Gravad Lachs, Erdbeeren und ein bisschen Sekt, einladen? Die Victoria liegt unten im Sportboothafen. Sie ist ein ungewöhnlich hübsches Mahagoniboot. Eine Segeltour ist immer gut, wissen Sie.«
»Dank für die Einladung, aber ich glaube, eine Segeltour kommt nicht infrage. Ich muss zwei müde und verdreckte Kinder aus dem Kindergarten abholen und sie baden.«
»Selbst schuld«, meinte Odd mit einem verführerischen Blinzeln und tänzelte zur Tür hinaus.