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Nach dem Mittagessen war Erika Lund so weit, dass sie mit hinaus zu dem unfreiwilligen Nerzfarmer, Ivan Sirén, fahren konnte, um mit der technischen Untersuchung des Tatortes anzufangen. Erika hatte das Buch »Die Wolfsfrau erzählt« gelesen. Maria fragte sich, wann sie zuletzt ein Buch aufgeschlagen hatte. Aufgeschlagen hatte sie vielleicht eins, aber gelesen schon lange nicht mehr, obwohl das Bücherregal an der Wand im Wohnzimmer vom Boden bis an die Decke mit Büchern gefüllt war. Als sie Krister getroffen hatte, war sie eine Art Bücherwurm gewesen, aber inzwischen war sie langsam, aber sicher in die Rolle der Mutter von Kleinkindern geschlüpft, in der Bücher nun mal zurückstehen mussten und nur von weitem geliebt werden durften. Wenn man tagsüber nicht mal einen Knopf annähen kann, ohne dabei dreimal gestört zu werden, und nicht mal auf der Toilette in Ruhe gelassen wird, versteht es sich von selbst, dass man nicht zum Lesen kommt. Aber Erika Lund hatte, wie gesagt, das Buch über Frauen, die mit Wölfen lebten, gelesen, und Maria hörte aufmerksam zu, hungrig nach intellektueller Stimulanz.
»Diese Therapeutin, die das Buch geschrieben hat, ließ die Frauen Fotografien von ihren weiblichen Ahnen mitbringen, den Frauen in ihren Familien, und dazu Texte schreiben, die folgendermaßen eingeleitet wurden: ›Von diesen Frauen stamme ich ab.‹«
Maria fand den Gedanken ganz interessant. Woher bekommt man seine Frauenrolle? Das Erbe wiegt schwer. Wie oft hatte sie sich nicht vorgenommen, es anders als ihre Mutter zu machen, wenn sie eigene Kinder bekam, und trotzdem tat sie dann genau das Gleiche: half ihnen, Milch aus vollen Verpackungen einzugießen, ließ sie nicht ohne Mütze und Handschuhe aus dem Haus und zwang sie, den Teller leer zu essen. Eine richtige Glucke war sie, und seit ihr Linda vor einem halben Jahr beinahe weggenommen worden war, hatte sich das nicht gerade gebessert. Es geschah häufig, dass sie nachts aufstand, um festzustellen, dass mit den Kindern alles in Ordnung war, dass sie atmeten.
»Danach, wenn die Frauen sich mit ihrer Ahnenschar beschäftigt haben, sind sie bereit, sich einer neuen Gruppe von Frauen anzuschließen. Frauen, die sie sich selbst aussuchen. Anderen Wölfinnen, die ihnen helfen, reifer und erwachsener zu werden, Wildheit und Kreativität zuzulassen. Wölfe stehen unverdient in schlechtem Ruf, meint die Autorin. Vielleicht weil die Männer von deren Wildheit abgeschreckt werden. Die Wölfin hat viele gute Eigenschaften, die hervorgehoben zu werden verdienen: Mut, Ausdauer und Loyalität. Wölfinnen fragen sich nicht gegenseitig, wie viele Jahre sie auf dem Buckel haben. Sie fragen: Wie viele Narben hast du auf deiner Seele? Ein unerhört interessantes Buch.« Erika machte eine enthusiastische Handbewegung und bog unvorschriftsmäßig ohne zu blinken nach links ab.
»Ich glaube nicht, dass man allzu streng sein sollte, wenn es um die Einstellung der Männer zu Frauen geht. Es gibt viele Männer, die kreative Frauen unterstützen, ebenso wie es Mitschwestern gibt, die eifersüchtig jeden Versuch beobachten, den Kopf zu heben oder vom üblichen Muster abzuweichen. Ich glaube eher, das ist eine Frage der Großzügigkeit oder des Selbstvertrauens, als eine Frage der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht«, gab Maria zu bedenken und dachte an ihren Vater, der oft wie ein Schatten hinter ihr stand und ihr zuflüsterte: Das machst du ja wunderbar! Das schaffst du, Maria!
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Du hättest das Buch lesen sollen. Es ist ungeheuer interessant, sich die Frauen anzusehen, von denen man abstammt: Erika, geboren von Emma, geboren von Svea, geboren von Agnes. Festzustellen, wie gerade meine Rolle von den Wünschen und Träumen, den Siegen und Niederlagen der Generationen geformt worden ist.«
»›Nur ein Wolf versteht einen Wolf.‹«
»Was hast du gesagt? Das war gut gesagt. Wo hast du das her?«
»Das ist Bamse, der Bär mit dem Honigtopf. Der stärkste Bär der Welt«, antwortete Maria ein wenig verlegen. »Die Bösen in der Serie sind die Wühlmaus Krösus und der Wolf, der stiehlt und allerlei Unfug anrichtet. Wenn er von dem starken Bamse zur Rechenschaft gezogen wird, sagt er: ›Nur ein Wolf versteht einen Wolf.‹«
»Ganz interessant. Man bringt kleinen Kindern bei, Schlechtes über Wölfe zu denken, über das Kreative und Weibliche. Denk doch nur mal an Rotkäppchen und den Wolf, Peter und den Wolf und nun auch noch Bamse und der Wolf. ›Nur ein Wolf versteht einen Wolf.‹ Gut gesagt!«
»Ich kann dir nicht ganz folgen. Ich habe das Buch ja nicht gelesen, nur die Fernsehserie gesehen«, wandte Maria ein und versuchte vorsichtig dem Gespräch, das so gut begonnen hatte, ihr jetzt aber immer weiter entglitt, eine andere Richtung zu geben. Gleichzeitig verschlechterte sich ihre Laune, weil sie lange nichts Interessantes mehr gelesen hatte, nichts Anspruchsvolles. Eben nur die Bamse-Comics.
»Was hältst du denn von dem Vorgehen gegen die Nerzfarm? Ist das gegen ihn als Privatperson oder in seiner Eigenschaft als Nerzfarmer gerichtet? War das einer allein oder waren es mehrere? Zu Neujahr hatten wir ja einen Vorstoß gegen die Genossenschaftsschlachterei. Ein Molotowcocktail, der den ganzen Bürotrakt in Brand setzte. Der Text an der Wand der Nerzfarm ist der Gleiche, der damals geschrieben wurde. Wir sollten vielleicht umgehend die Geheimpolizei einschalten, falls sich da was Interessantes ergibt.«
Die Fassade des Wohnhauses war weiß verputzt. An der Südwand zur Landstraße hin waren allerdings große Teile des Putzes abgeblättert. Die Fenster glänzten öde und leer. Nur ein kleiner blau karierter Gardinenstreifen befand sich an den Seiten, Blumen oder Schmuckgegenstände, die ein bisschen Wärme und Wohnlichkeit vermitteln konnten, fehlten ganz. Der Eindruck war düster.
Die Hoffläche war voll gemüllt. Leere Kisten, Autoteile und Baumaterial lagen umher. Der Rasen leuchtete voller gelber Löwenzahn und am Giebel wucherten die Brennnessel. Bei dem Gedanken an Ivans klinisch sauberer Küche fielen einem unwillkürlich Doktor Jekyll und Mr. Hyde ein, überlegte Maria. Oder war es ganz einfach die übliche schwedische Eifersucht, weil Ivan in seiner Küche sehr viel besser Ordnung hielt als die Familie Wern. Und da gehörte ja nicht viel dazu.
Niemand meldete sich, als sie klingelten. Maria versuchte es mit Klopfen, die Klingel konnte ja abgestellt sein. Sie blickte durch die verschieden eingefärbten Glasfenster hinein. Rot, blau und grün. Eine grüne Diele war zweifellos am hübschesten. Wollte man sie in Lila haben, musste man ordentlich in die Knie gehen. Um durch die gelbe hineinzusehen, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Erika trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und fuhr sich nervös durch ihre braunen lockigen Haare. Kein Lebenszeichen. Maria begann entschlossen hinunter auf den ersten roten Nerzstall zuzugehen. Erika zog sie am Arm.
»Geh vorsichtig und nicht übers Gras. Da können noch weitere Trittfallen sein.«
Eine Bewegung im Fenster des am weitesten entfernten Stalles erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie klopften an der grauen Brettertür, die nach einer kleinen Weile von einem Mann mit weißem strähnigem Haar und grauem Bart geöffnet wurde. Er hatte einen langen blauen Arbeitskittel an und eine blutige Schürze umgebunden. Maria merkte, wie Erika zurückzuckte und reflexartig nach dem Pistolenhalfter griff, das sie nicht trug. Maria konnte sich das Lachen kaum verkneifen.
»Hei, Ivan, was macht der Knöchel?«
»Ist gut«, antwortete Ivan, der offensichtlich zu seiner gewohnten Wortkargheit zurückgefunden hatte.
»Wir haben gedacht, wir sehen uns mal ein bisschen um. Wo haben Sie das Fuchseisen?«, fragte Erika.
»Hausflur«, sagte Ivan und zeigte auf das Wohnhaus. »Kaffee?«
»Ja, danke, das wäre jetzt gut«, beeilte sich Maria zu sagen.
»Ich möchte das Fuchseisen untersuchen und den Ort, wo es gelegen hat, danach würde ich gern Ihren Fuß fotografieren, wenn es geht.« Erika sah sich interessiert Ivans alte runtergelatschte Botten an.
»Geht das in Ordnung, Ivan?« Maria suchte vergeblich Augenkontakt. Ivan murmelte etwas Unverständliches und fuhr mit seiner Arbeit, dem Mahlen von Fleischresten zu Nerzfutter, fort. Die Bandsäge kreischte, als sie sich durch Knochenstücke fraß, sie übertönte sogar die Nerze. Das gemahlene Fleisch ringelte sich wie eine rote Schlange aus der Öffnung der Fleischmühle hinunter in einen Eimer aus rostfreiem Stahl.
Enttäuscht stellte Erika fest, dass Ivan den gesprayten Text MÖRDER, TIERQUÄLER! übergestrichen hatte. Die Farbe war noch nicht trocken, deckte aber. In dem Johannisbeerstrauch dicht daneben machte sie jedoch einen Fund. Eine Sprayflasche, die weiße Farbe enthalten hatte. Vorsichtig sicherte sie eventuelle Fingerabdrücke auf der Flasche mit einem Plastikfilm. Als sie sich an das Fuchseisen machen wollte, griff Maria ein.
»Krister hat die Falle aufgemacht. Ich werde ihm wohl Fingerabdrücke abnehmen lassen müssen, damit wir ihn ausschließen können«, sagte Maria mit vollem Ernst und lachte mit den Augen. »Ich glaube übrigens, dass Egil Hägg das Eisen zum Haus getragen hat. Und Gustav hat es auch angefasst, als Egil ihm gezeigt hat, wie man es aufstellt und wie es zuschnappt, damit er begriff, was geschehen war. Ich glaube auch, ich selbst bin dagegen gekommen, als ich Ivans Knöchel untersucht habe.« Erika stöhnte laut.
»Wir können nur hoffen, dass derjenige, der die Spraydose benutzt hat, ebenso amateurhaft vorgegangen ist wie ihr anderen. Dann hätten wir nämlich eine ganze Menge Fingerabdrücke.«
Ein Taubenschwarm kreiste niedrig über Ivans Haus und flog weiter zum Taubenschlag der Häggs. Maria, die dicht neben Ivans Wäscheleine stand, konnte sehen, wie die Tauben ihre Visitenkarten auf den weißen Laken hinterlassen hatten.