21
Maria scheuchte die Fliege aus ihrem Gesicht und wandte sich zu Krister um, der im Bett neben ihr mit langen und tiefen Atemzügen schlief. Wenn diese ekelhaften Fliegen nicht aus dem Schlafzimmer verschwanden, war sie gezwungen, Fliegenfänger anzuschaffen. Aber andererseits war es auch nicht gerade angenehm, wenn überall in Kopfhöhe diese Klebestreifen hingen. Als Teenager hatten sich Marias lange Haare einmal in einem Fliegenfänger verfangen, sie wusste also aus eigener Erfahrung, wie widerlich das sein konnte. Wenn sie nur daran dachte, wurde sie wütend. Und da lag Krister und schlief, unschuldig und friedlich wie ein kleiner Engel. Wie konnte er da liegen und schlafen, als ob nichts geschehen wäre? War er völlig gewissenlos? Je mehr Maria daran dachte, was er vielleicht getan hatte, umso wütender wurde sie. Was hatte Karin über vorgetäuschte Krankheiten gesagt? Lief Krister mit dem großen Verband herum, damit Maria ihn bedauerte und ihn in Frieden ließ? War das dann nicht der Gipfel der Frechheit? Vorsichtig zog Maria Krister die Decke weg. Hob erst den bleischweren rechten Arm hoch und dann den linken. Sie fühlte sich wie im Zeichentrickfilm von Robin Hood, der dem falschen Regenten, Prinz John, die Beutel mit Gold abnahm, wenn man davon absah, dass Krister so erwachsen war, dass er nicht mehr am Daumen lutschte. Nur Humpe, die Katze, hob ein Augenlid. Müde und schlapp nach der Jagd in dieser Nacht. »Kann man denn niemals eine ruhige Minute haben?«, drückte ihre anklagende Miene aus.
Ein schmuddeliger Verband lief von Hüfte zu Hüfte, an der Unterkante durch die Unterhose gehalten, an der Oberkante mit schwarzem Isolierband festgeklebt. Sicher ein Rest, der übrig geblieben war, als er im Winter den Bandyschläger notdürftig repariert hatte. Ohne das geringste Mitleid riss Maria mit einem einzigen kräftigen Ruck den Verband ab, sodass die Hälfte der Haare auf Kristers Bauch daran kleben blieb.
»Aua, was soll denn das?«, schrie Krister hell wach und versuchte seinen Bauch mit den behaarten Spindelarmen zu bedecken. Humpe verschwand aufgeschreckt durch die Tür.
»Soll und soll! Müsstest du am besten wissen!« Maria schob seine Hände zur Seite und suchte nach den Operationsnarben, fand aber keine. Nicht eine einzige. Nicht den kleinsten Punkt oder einen Minifleck, der auf einen operativen Eingriff hinwies. Krister sprang vom Bett auf und verschwand im Bad. Maria raste hinterher und griff nach der Klinke, als Krister gerade zuschließen wollte. Nach kurzem Gezerre von beiden Seiten gelang es Krister, den Schlüssel umzudrehen. Maria hörte deutlich, wie er aufatmete.
»Gib es zu, komm raus und gib es zu, du elender Feigling!«
Mit beiden Händen trommelte Maria gegen die Tür. Emil und Linda, die glaubten, dies sei ein neues spannendes Spiel, halfen beim Trommeln.
»Gib es zu, du Feigling«, stimmten sie mit ein, ohne die geringste Ahnung, worum es eigentlich ging. Maria brach in ein hysterisches Kichern aus. So etwas Dummes hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht mitgemacht! Vorsichtig öffnete Krister die Badezimmertür, mit zerwühlten Haaren und Augen klein wie Fliegendreck, blickte er kurzsichtig umher.
»Ich war wohl noch nicht richtig so weit«, gab er mit erbärmlicher Stimme zu. »Bei solchen Operationen kann so viel passieren, man kann zum Beispiel eine Blutvergiftung bekommen.« Langsam, aber sicher fand Krister seine Fassung wieder. »Oder Aids oder Gelbsucht. Es können hässliche Narben zurückbleiben. Die können versehentlich den Magen wegoperieren, sodass man für den Rest seines Lebens Mehlsuppe durch einen Schlauch zu sich nehmen muss. Oder einen Urinleiter, dann ertrinkt man in seinem eigenen Urin.« Die Kinder blickten Maria anklagend an. Daran hätte sie doch denken müssen, oder nicht?
»Wer hat dir denn so was eingeredet? Vielleicht Mayonnaise?«, riet Maria. Krister nickte.
»Was für ein dämliches Gerede! Du hättest stattdessen mit Karin sprechen sollen. Bist du überhaupt im Krankenhaus gewesen?«
»Nein.«
»Und die Flasche im Kühlschrank? Der Tapetenkleister?«
»Mayonnaise hat gesagt, dass man eine Spermaprobe abliefern muss, damit sie sehen, ob überhaupt noch Leben da ist, und in einem Maizena-Soßenbinder gibt es kein Leben. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, Tapetenkleister zu benutzen. Pfui, so vulgär!«, schüttelte sich Krister.
»Und was hast du zu der kleinen Ninni zu sagen, die dich so dringend sprechen wollte?« Maria hörte, wie hart und grell ihre Stimme wurde.
»Was?«
»Ninni Holm!«
»Ninni Holm, was hat die mit der Sache zu tun?« In Kristers offenen Mund hätten sicher fünf Tischtennisbälle gepasst, wenn er versucht hätte, sie da hineinzudrücken. »Was meinst du eigentlich?«
»Sie hat hier angerufen!«
»Ich verstehe nicht. Wir sprechen hier von Operationsrisiken, und dann sagst du einfach Ninni Holm. Wollte sie, dass ich sie anrufe? Nicht schon wieder! Die müsste den Grundkurs wiederholen, ehe sie sich an anspruchsvollere Dinge macht.«
»Das ist ja gut möglich. An was für anspruchsvollere Dinge denkt sie denn, was meinst du?« Maria blickte Krister scharf an.
»Unter anderem an Programmieren. Warum willst du gerade jetzt darüber sprechen? Ich verstehe dich einfach nicht. Bist du völlig durchgedreht? Geht es dir nicht gut, Maria? Du glaubst doch nicht etwa …? Das kannst du einfach nicht glauben – nein, Maria, jetzt bist du aber völlig auf dem Holzweg. Niemals würde ich mich auf irgendwas mit Ninni Holm einlassen.« Krister versuchte die Arme um seine Frau zu legen, aber die duckte sich elegant und trat einen Schritt zurück. Er machte einen neuen Versuch, und diesmal fing er sie und nahm sie in die Arme.
»Was soll man davon halten, wenn du mit ihrer Telefonnummer in der Tasche herumläufst. ›Wir sehen uns!‹ Ebenso gut hätte sie ›Küsschen, Küsschen‹ schreiben können.«
»Jetzt geht es aber los … hast du meine Taschen kontrolliert?« Krister schob Maria von sich weg, als ob sie eine Portion kalte Grütze wäre.
»Hast du in Papas Taschen herumgesucht?«, fragte Emil, der dem Gespräch mit wachem Interesse zugehört hatte.
»Wir sprechen später darüber«, brummte Krister.
»Wir diskutieren das aus, wenn du dich dazu reif genug fühlst«, entschied Maria mit essigsaurer Stimme und ging in die Küche, um Kaffee aufzusetzen.
An die Wand neben dem Kühlschrank war etwas rosa Leuchtendes genagelt, etwas Rundes, das sofort Marias Aufmerksamkeit fesselte.
»Krister, was ist hier passiert?«
»Ach das, das ist Lindas Schnuller, siehst du doch. Ich fand, sie ist jetzt groß genug, um ohne Schnuller auszukommen, und da ist mir eine gute Möglichkeit eingefallen, ihr den abzugewöhnen. Wenn der an der Wand festsitzt und sie da mit platt gedrücktem Gesicht stehen muss, macht das Nuckeln keinen Spaß mehr, dachte ich. Eine rein pädagogische Maßnahme. Die lass ich mir patentieren.« Linda, der der Konflikt vom Vortag anzusehen war, begann lauthals zu brüllen.
»Was habe ich getan, um so einen Mann wie dich zu verdienen?«, stöhnte Maria.
»Sei nicht so bescheiden. Du bist klug und hübsch und zeitweise auch richtig sanft in deinem Wesen.«
Krister schien sich wieder völlig gefasst zu haben. Maria, die sowohl erleichtert als auch furchtbar wütend war und sich irgendwie um ihre Genugtuung und die ernsthafte Reue, die Kristers Buße hätte sein sollen, betrogen fühlte, begann vor lauter Erregung heftig zu weinen.
»Es ist nicht leicht, mit Krister zu leben«, flüsterte sie, als er ihr übers Haar strich. In diesem Augenblick hörten sie ein Auto auf dem Hof bremsen.
»Wenn das Mayonnaise ist, gieße ich vom Balkon aus siedendes Öl über ihn«, sagte Maria mit krächzender Stimme. Emil fand das interessant und merkte es sich: Öl auf Mayonnaise, vielleicht auch auf Biffen.
Gudrun Werns Kopf mit der frisch gelegten Dauerwelle wurde in der Diele sichtbar, und hinter ihr tauchte Artur auf wie ein Fels in der Brandung. Einen Moment lang sah Krister richtig perplex aus, dann strahlte er.
»Ist schön, dass ihr kommt. Ganz prima!« Maria starrte ihren Mann an, als ob er ein Verräter sei, ein Überläufer reinsten Wassers. »Wie schön, dass ihr kommt. Die Kinder gehen so gern mit euch runter an den Strand. Nicht wahr, Emil und Linda?! Wir kommen nachher mit dem Kaffeekorb hinterher.«
Gudrun Wern sah aus, als ob dies wohl nicht ganz das war, was sie sich vorgestellt hatte. Es waren die Nachrichten aus der Zeitung über den Mord mit der Axt, die sie so früh am Morgen hergelockt hatten. Artur schien etwas auf dem Herzen zu haben, aber es dauerte bei ihm wie immer einige Zeit, bis er damit herauskam, wenn ihm nicht jemand sofort das Stichwort zuflüsterte. Da seine Frau sich stets ausführlichst über alles und jedes äußerte und lediglich sekundenlange Unterbrechungen machte, wenn sie Luft holen musste, hatte er sich daran gewöhnt, seine Sprache der ihren anzupassen. Meistens blieben ihm nur ein oder zwei Worte, die er im richtigen Moment mit der gleichen Präzision sagen musste, die man beim Seilspringen braucht, wenn man seinen Einsprung dem Tempo der anderen anpassen muss.
»Wühlmäuse«, sagte er, als Gudrun Luft holte, nachdem sie Kristers Kleidung, besser gesagt den Mangel an Bekleidung, kommentiert hatte.
»Was hast du gesagt, Papa?« Krister legte eine Hand auf Gudruns Arm, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Wühlmäuse an der Hauswand«, wiederholte Artur sekundenschnell und blickte wachsam auf seine Frau.
Gemeinsam gingen die Männer hinaus, um sich der wilden Tiere anzunehmen. Widerwillig machte sich Gudrun Wern mit den Kindern auf den Weg zum Strand, nachdem sie die brennendsten Fragen zu dem Mord und dem ertrunkenen Mann gestellt und ihre dringendsten Kommentare dazu abgegeben hatte.
»Diese Rosmarie Haag, die Frau von dem Hausmakler, ist eine ziemlich lockere Person. Ich habe sie auf dem Bild gleich erkannt.«
»Jaha?«, horchte Maria auf, denn sie war sich nicht ganz sicher, was locker in diesem Zusammenhang bedeuten sollte. Gudrun nickte konspirativ und mit großem Nachdruck.
»Als wir neulich von euch nach Hause fahren wollten, du erinnerst dich, als Astrid und ich hier waren, sind wir den Umweg am Sportboothafen vorbei gefahren. Astrid findet das so romantisch mit all den Booten und den Lichtern. Ich fand das eigentlich ein bisschen unnötig. Es war ja so ein Unwetter und ich war müde. Das muss ich schon sagen: Die Kinder sind ja kleine Engel. Aber in meinem Alter wird man von all der Unruhe, die sie verbreiten, doch müde. Warte erst mal, wenn du so weit bist. Jedenfalls, wir konnten ja nicht aus dem Auto steigen, ohne völlig durchzuweichen, deshalb haben wir draußen auf dem Kai geparkt und uns die Boote angesehen, die da auf dem Wasser schaukelten. Da sagte Astrid: Guck mal da! Und kannst du dir vorstellen, da kommt Rosmarie Haag von einem der teuren Mahagoniboote. Also wirklich! Ein Mann ist dicht hinter ihr und begleitet sie auf den Kai. Na und dann. Sie umarmen sich. Astrid sagte, es hat so ausgesehen, als ob sie sich küssten. Ich war nicht ganz so sicher. Vielleicht haben sie nur miteinander geredet. Wenn ein so scharfer Wind weht, ist nicht ganz leicht zu verstehen, was jemand sagt. Sie standen direkt unter der Straßenlaterne. Astrid fand das richtig romantisch. Genau wie in dem alten Film ›Ihr erster Mann‹. Dann stiegen sie in ein Auto und verschwanden. Man muss sich vorstellen, sobald der Ehemann weg ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Denn der Ehemann war das nicht, da bin ich ganz sicher.«
Gudrun verzog den Mund und nickte nachdrücklich.
»Der Mann in dem Mahagoniboot ist ein guter Freund der Familie Haag. Es ist doch nur natürlich, dass Rosmarie in ihrer Sorge bei jemandem Unterstützung sucht.«
»Natürlich. Ja, das kann man sich vorstellen. Aber Astrid hat gesehen, was sie gesehen hat, und das will ich nur mal sagen: Ein lockeres Frauenzimmer, das ist sie.«
Als das Haus leer war, packte Maria einen Kaffeekorb und stellte ihn auf den Küchentisch, schrieb einen Zettel, duschte schnell und ging hinaus. Sie hatte das dringende Bedürfnis, allein zu sein. Garantiert allein! Krister und der Schwiegervater waren eifrig dabei, die Wühlmäuse in ihren Löchern auszuräuchern. Artur sah richtiggehend enthusiastisch aus. Krister ebenfalls. Er konnte seinem guten Stern danken, dass er diesmal so elegant davongekommen war. Aber er durfte sich keinen Augenblick einbilden, dass das Thema damit abgeschlossen war. Wie kann man einem Mann vertrauen, der nur vorgibt, sich sterilisieren zu lassen? Wie kann man mit jemandem zusammenleben, dem man nicht vertrauen kann? Maria winkte Krister und Artur zu, als sie auf den Pfad in Richtung Kronberg einbog, aber die beiden waren viel zu beschäftigt und bemerkten sie gar nicht.