26

»Kommst du mit raus nach Kronholmen, Maria? Ich hab Hartman gesagt, dass ich dich dabeihaben will.« Erika Lund stand mit den Autoschlüsseln in der Hand bereit. »Ich würde mir gern ansehen, wo Mårten Normans Leiche gefunden worden ist, und auch einen Blick auf Kronholmen selbst werfen. Odd Molin hat versprochen, uns in seiner ungewöhnlichen Viktoria mitzunehmen.«

»Findest du das richtig?«

»Wie meinst du das?«

»Er ist doch nicht völlig unverdächtig.«

»Odd Molin? Meinst du wirklich, dass Odd Molin jemandem mit der Axt auf den Kopf schlagen würde?«

»Die Frage lass ich offen.« Maria versuchte, trotz ihres Unbehagens freundlich zu klingen. »Weiß Hartman, dass wir mit Odd fahren?«

»Nein, aber wir können in der Zentrale Bescheid sagen, falls er uns entführen will«, antwortete Erika spöttisch.

Der Fischer, der Mårten Normans Leiche aus dem Wasser gezogen hatte, saß schlecht gelaunt und wortkarg hinten in Odd Molins Schärenkreuzer. Der Kapitän selbst polierte die Schiffsglocke. Das Messing glänzte verführerisch im Sonnenschein. Die tiefrote Farbe des Mahagoniholzes lag ohne den geringsten Kratzer unter zwölf Schichten sorgfältig aufgetragenem Firnis, erzählte Odd. Erika hielt sich an der Want fest und wollte gerade aufs Deck treten, als Odd ihren Fuß in der Luft auffing.

»Stopp«, brüllte er in unfreundlichem Ton und mit saurer Miene.

»Runter mit den Schuhen, verdammt nochmal. Auf meinem Deck wird barfuß gelaufen.« Erika streifte sich gehorsam die Schuhe ab, und Maria folgte ihrem Beispiel mit kaum unterdrückter Wut. Als sie es sich im Sitzbrunnen bequem gemacht hatten, wunderte sich Maria, warum sie nicht das Polizeiboot genommen hatten, das im Hafen von Kronköping lag.

»Odd macht das gratis. Auf diese Weise ersparen wir dem Staat die Treibstoffkosten.«

»Nur damit du es weißt, Erika, mir ist bei der Sache nicht ganz wohl.«

»Normalerweise wischt man sich die Schuhe auf einer kleinen Matte am Kai ab. Aber ich hab keine gesehen und es deshalb vergessen. Sieh mal, jetzt hebt er den Hund hinein.«

Der kleine Dackel sah in seiner grellgelben Schwimmweste wie eine Bockwurst mit Brötchen drum herum aus. Odd hob ihn an einem Handgriff auf dem Rücken hoch und wischte seine Pfötchen sorgfältig mit einem weißen Handtuch ab.

»Die Viktoria allein zu segeln ist nicht ganz einfach. Willkommen an Bord«, sagte Odd. »Und was kann ich den Damen anbieten? Vielleicht ein paar Erdbeeren?« Jetzt hörte sich seine Stimme wie flüssiger Honig an. Erika kicherte geziert, und Maria stieß ihr mit einem spitzen Ellbogen in die Seite.

»Bist du sicher, dass er uns nicht unter Drogen setzt?«, zischte sie.

»Maria glaubt, dass du uns vergiften willst«, rief Erika laut und unbekümmert.

»Nicht doch, ich bin doch nur dazu da, euch den Tag zu verschönern.« Odd lächelte sein breites Eichhörnchenlächeln. Ein Nager. Maria fiel ein, wie Eichhörnchen sich über ein Vogelnest hermachen, anderen Tieren die Jungen und die Eier wegfressen, wenn es ihnen gelingt. Eichhörnchen sind Raubtiere. Diesmal trug Odd keinen Anzug, sondern eine Seglerjacke und weiße Hosen. Wie praktisch sind weiße Hosen, wenn man segelt?, überlegte Maria. Ihr Laune hatte sich nach der Zurechtweisung von vorhin immer noch nicht gebessert. Der Fischer hinten schien ebenfalls ihrer Ansicht zu sein, denn sein tadelnder Blick war auch auf Odd Molins weiße Hose gerichtet: Sonntagssegler, drückten seine übereinander geschlagenen Beine und die fest über der Brust verschränkten Arme aus. Ich komme mit, wenn es sein muss, aber die sollen wissen, dass es Unterschiede zwischen den Menschen gibt.

Sonne und guter Wind. Die Möwen flogen vom Anleger auf und folgten ihnen mit hungrigen Schreien. Das Wasser rauschte blaugrün und schäumte an den Seiten der Viktoria.

»Das wird eine ruhige Überfahrt.« Odd hisste Segel. Maria sah den Fischerhafen immer kleiner werden. Das gelbe Haus war schon nicht mehr zu sehen, aber die Kirche mit ihrer großen Eisenglocke ruhte majestätisch auf der Kante der Klippe. Lange war sie als Landmarke zu sehen. Mit gemischten Gefühlen genoss Maria die Bootstour, die Segel voller Wind, die Sonne, die ihren Körper wärmte. Sie aßen Erdbeeren und Lachsschnittchen. Maria lehnte den Champagner dankend ab, ebenso Tord.

»Zieh das Großsegel ein wenig ein, Erika«, kommandierte Odd, der die ganze Zeit über die Segel im Blick hatte. Der Dackel stand ganz vorn mit der Nase im Wind. Klein, aber selbstbewusst.

»Ein Glas Champagner kann nicht schaden«, lachte Erika, nippte daran und flirtete mit Odd.

»Hier ist es gewesen.« Der Fischer nahm die Mütze ab und hielt sie sich vor die Brust. Odd nahm die Viktoria aus dem Wind. Erika reffte das Segel. Sie ankerten.

»Wissen Sie, wie hier draußen die Strömung verläuft?«, fragte Maria und setzte sich nach hinten zu Tord mit der Seekarte in der Hand.

»Meiner Meinung nach ist er ja von Kronholmen ins Wasser gefallen und die Fahrrinne entlanggetrieben. So war es wahrscheinlich«, antwortete er, nahm eine ordentliche Prise Kautabak und warf danach die Dose ins Wasser. Sie trieb auch wirklich in die angegebene Richtung. Maria pfiff laut und bekam einen Rüffel von Odd Molin. Man pfeift niemals auf See! NIEMALS! Sein Blick war so wütend, dass Maria einen Moment lang fast befürchtete, er würde sie über Bord werfen wollen.

»Warum?«, flüsterte Maria Erika zu, als Odd wieder mit dem Segel beschäftigt war.

»Das bedeutet Gefahr, man ruft die bösen Geister des Wetters, ruft nach dem Sturm. Seeleute sind ein abergläubisches Volk, musst du wissen, genauso wie die Menschen in den alten Bauerndörfern. Vielleicht weil Fischer und Bauern mehr als andere von Wind und Wetter abhängig sind. Auf See gibt es viele alte Sprichwörter.«

Odd musste dagestanden und ihnen mit gespitzten Ohren zugehört haben.

»›Sunset in red is sailors dead‹, pflegen wir zu sagen.« Er schnippte den Rest seiner Zigarre ins Wasser und nahm einen Schluck Champagner. »Na denn Prost, Mädels!«

Maria überlegte im Stillen, wie viele Gläser Champagner Odd bereits getrunken hatte. Notfalls musste Tord auf dem Heimweg das Ruder übernehmen. Dieses Unternehmen war ihr nicht ganz geheuer. Odds launiger Humor und Erikas mangelnde Urteilsfähigkeit. Marias Blase drückte, und sie ging unter Deck auf die Toilette. Die war so klein bemessen, dass man seine Hose beinahe draußen vor der Tür herunterlassen musste, um dann rückwärts hineinzugehen. Maria fühlte sich nicht ganz wohl bei den plötzlich wechselnden Neigungen des Schiffes.

»Sicher weißt du, dass du kein Papier oder andere Gegenstände in die Toilette werfen darfst?«, donnerte Odd von oben. Das Boot schwankte, und Maria hielt sich an dem Handgriff des Badezimmerschrankes fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Die Tür sprang auf, und der ganze Inhalt der Regale flog ihr in die Arme. Den Rasierapparat und das Aftershave legte sie nach bestem Gutdünken zurück. Sicher würde er sie verdächtigen, in seinem Schrank herumgesucht zu haben.

»Wie geht es da unten?«, fragte Odd. »Du bist doch nicht etwa seekrank? Haha! Komm herauf an die frische Luft, dann geht es dir besser.«

Der Fischer fuhr sich mit der Hand über seinen verschwitzten Schädel.

»Die Unterströmungen bei der Aussichtsklippe auf Kronholmen laufen hierher, und danach folgt der Strom der Fahrrinne beinahe bis ganz an den Fischereihafen.« Maria blickte in seine wasserblauen Augen und bemerkte die kleinen Salzkristalle in den Augenbrauen und die Schweißflecken, die an den Seiten des blauen Hemdes wie weiße Ringe getrocknet waren. Seine gestopften Wollsocken waren ebenso wie Marias Strümpfe durchnässt. Sicher war er es auch nicht gewohnt, ohne Schuhe umherzulaufen. Odd rauchte eine neue Zigarre und sah zufrieden aus. Die Landzunge näherte sich. Sie liefen in eine kleine geschützte Bucht ein.

»Fender raus«, befahl Odd, und Erika gehorchte als gut dressierter Gast, der sie war, sofort. Die Fender waren von einer Art komplizierter Makrameearbeit umschlossen.

»Großkotzstrümpfe!«, sagte Tord und spuckte zielsicher eine Ladung über die Reling.

Sie legten am Steg von Kronholmen an, einer alten morschen Holzbrücke mit großen Löchern in den Brettern. Ein Schuppen mit Schwimmwesten, die man leihen konnte, war, abgesehen von den beiden Windschutzwänden an der Südseite, das einzige Gebäude hier. Das Dach war mit Teerpappe belegt, die an der Ecke zum Steg lose herunterhing. Komischer Platz zum Verleihen von Schwimmwesten, dachte Maria. Wenn man erst mal bis hierher gekommen ist, hat man die Bucht doch schon überquert. Strandastern wuchsen zwischen den Steinen am Strand, aber für die blauen Blüten war es noch zu früh. Weiter drinnen auf der Insel wuchs das Gras kniehoch. Maria versuchte, nicht an Schlangen zu denken, als sie die Steinhaufen zwischen den Sträuchern sah. Wenn man hier draußen auf der kleinen Insel von einer Schlange gebissen wurde, dauerte es eine Ewigkeit, bis man im Krankenhaus in der Stadt ankam.

»Früher weideten hier draußen Schafe. Jetzt laufen fast nur noch Touristen herum«, erklärte der Fischer. Odd hob den Dackel an dem Handgriff herüber und befreite ihn aus seiner Schwimmweste. Glücklich mit dem Schwanz wedelnd, sprang der Hund in den Wald, um sein Geschäft zu machen und sich dann wieder artig an der Seite seines Herrchens einzufinden.

»Das war nett von dir, Odd, uns zu der Insel zu segeln«, bedankte sich Erika und lächelte den Kaptän mit ihren roten Lippen an.

»Ich habe nicht gesagt, dass das gratis war«, sagte Odd spitzbübisch. »Ich habe mir vielleicht eine kleine Kompensation in natura vorgestellt.« Pfui, dachte Maria, und ihr wurde immer deutlicher, dass hier etwas nicht stimmte. Tord spuckte auf den Boden, und man sah ihm an, dass er der gleichen Auffassung war. Aber Erika lächelte nur und hängte sich bei Odd ein. Ganz selbstverständlich ergab es sich, dass sie sich in zwei Gruppen teilten, als der Pfad, der um die Insel herumlief, sich gabelte.

»Wir treffen uns an den Windschutzwänden«, sagte Erika mit Nachdruck und machte eine abwehrende Geste mit der Hand, als Maria Anstalten machte, ihnen zu folgen. Also lief es darauf hinaus, dass Maria und Tord an der Westseite der Insel entlanggingen und Erika und Odd an der Ostseite. Die Aufteilung hätte eine andere sein sollen, und Maria fühlte sich immer verwirrter. Tord sah nicht mehr ganz so mürrisch aus, nachdem Odd sich entfernt hatte.

»Hier auf der Westseite haben wir die Aussichtsklippe. Man kann sich vorstellen, dass er von hier aus runtergefallen ist, wenn er unvorsichtig gewesen ist. Unterhalb der Klippe ist tiefes Wasser und die Unterströmungen sind kräftig. Ein Körper, der hier runterfällt, wird von den Steinen nicht verletzt und schlägt auch nicht auf dem Boden auf. Er wird schnell ein ganzes Stück hinausgezogen und treibt dann mit dem Strom an der Fahrrinne entlang, wie ich es Ihnen da draußen gezeigt habe.«

Tord beschattete die Augen mit der Hand und blinzelte über das Wasser.

Ein noch schmalerer Pfad führte durch das Weißdorngebüsch hinaus auf die Klippe. Die langen scharfen Stacheln luden nicht gerade dazu ein, ihn zu verlassen. Keine Umkehrmöglichkeit, kein Fluchtweg zurück, wenn jemand den Pfad versperrte. Ganz bewusst ging Maria drei Schritte hinter dem Fischer, fest entschlossen, den Tag zu überleben. Der Bewuchs nahm ab, und der letzte Teil der Klippe war kahl. In gehörigem Abstand von Tord trat Maria an die Kante und starrte in das gurgelnde grünschwarze Wasser, das unter der Klippe hin und her wogte. Verlockend und glitzernd an der Oberfläche mit Stängeln giftgrünen Seegrases, das sich an der Unterkante der Klippe festgebissen hatte. Und da unten, direkt an der Wasserfläche, schwappte ein dunkelgrüner Zweig auf dem Seegras auf und ab. Ein Rosmarinzweig. Maria wurde leicht schwindelig, und sie trat einen Schritt zurück, direkt in eine kleine einfache Feuerstelle. Ein Ring von Steinen um feuchte Asche und verkohlte Astreste herum. Eine schwarze Blechdose war sicher als Kochtopf benutzt worden. Darin befanden sich Reste von grünen dünnen Blättern und einer gelblichen Flüssigkeit. Maria beugte sich herab und nahm eine Probe des Inhalts. Tord beobachtete ihr Tun schweigend. Rosmarin zur Erinnerung an die Toten. Ein deutliches Gefühl der Verlassenheit bemächtigte sich ihrer. Hastig stand Maria auf und beeilte sich, als Erste auf dem Pfad zu sein, der von dem Aussichtsplatz wegführte. Ein verschwommenes Bild von Jacobs eingeschlagenem Hinterkopf stand ihr vor Augen und wollte nicht weichen. Hinter sich hörte sie Tords Atemzüge und beschleunigte ihre Schritte. Rannte beinahe durch das Gebüsch. Die feuchten Strümpfe scheuerten in den Schuhen. Zweige wurden hinter ihr geknickt. Die Schritte folgten ihren eigenen in immer schnellerem Takt.

»Vor mir brauchen Sie keine Angst zu haben, ich denke nicht daran, Sie die Klippe runterzustoßen«, hechelte Tord hinter ihrem Rücken. »Mit den Strömungen ist nicht zu spaßen.«

»Nein«, bestätigte Maria und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.

»Mein Onkel ist hier draußen ertrunken, als ich ein kleiner Junge war. Das war im Mai, und das Wasser war noch kalt. Er ist wohl nicht ganz nüchtern gewesen, wollte angeben und von der Aussichtsklippe aus tauchen. Es dauerte länger als einen Monat, bis wir ihn fanden. Er war beinahe ans Land getrieben worden. Der Hund hat ihn gefunden. Pfui Deibel! Ich werde nie vergessen, wie er ausgesehen hat. Und dann die verrückte Tilda, die sich während des Krieges hier draußen das Leben genommen hat. Während der Bereitschaftszeit waren hier Soldaten aus Stockholm stationiert. Sie wurde schwanger, die Arme. Wenn der Wind auf das Land zu bläst, hört man, wie sie draußen auf der Klippe ihre komischen Lieder singt. Hohe gebrochene Töne. Sie hat immer gesungen, die verrückte Tilda, wenn sie nicht gerade Zimtstangen oder Ingwer gekaut hat. Eines Abends stand sie nur im Nachthemd da draußen auf der Klippe. Vom Land aus sah es wie ein weißes Segel aus. Dann ist sie gesprungen.«

Als sie bei den Windschutzwänden ankamen, waren Odd und Erika schon da. Erika mit Odds weißer Mütze auf ihren dunklen Locken und Odd mit einem Kranz aus Butterblumen im Haar, auf die Ellbogen gestützt wie ein Dionysos mit dem Champagnerglas in der Hand. Ein Zipfel des Hemdes hing aus dem halb offenen Hosenschlitz. Maria schloss die Augen und dachte an die Rückfahrt. Sie setzten sich auf einen Baumstamm an der Feuerstelle. Die Sonne brannte auf ihren Wangen. Fliegen schwirrten umher. Maria sehnte sich nach festem Boden unter den Füßen, für sich, aber auch für Erika.

»Kennst du diesen Mann?« Maria zog das Foto von Mårten Norman heraus. Dionysos, der sicher eine Brille benötigte, hielt es mit ausgestreckten Armen vor sich.

»Nein, hab keine Ahnung, wer das sein kann. Nimm noch eine Erdbeere, Süße. Im Korb sind auch noch Schnittchen«, antwortete er und klatschte der lachenden Erika kräftig auf den Hintern. Maria kniff die Augen zu und wünschte sich meilenweit weg. Wenn sie nur erst wieder an Land waren, würde sie Erika gehörig ihre Meinung sagen.

»Sieh nochmal hin und nimm dir genügend Zeit. Bist du ganz sicher, dass du den Mann niemals vorher gesehen hast?«

»Ja, und du hast doch verdammt nochmal gehört, was ich eben gesagt habe«, fauchte Odd drohend.

»Ich kenne ihn jedenfalls«, mischte sich Tord helfend ein.