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Ein neues Computersystem sollte eingeführt werden. Ragnarsson konnte beinahe an nichts anderes mehr denken, oder von nichts anderem mehr sprechen. Kommissar Ragnarsson, der den Spitznamen Sturm trug, weil er alles mit einer stürmischen Unbeherrschtheit in Angriff nahm, regte sich gerne auf, wenn sich ihm die Möglichkeit bot. Und nun ging es also um das Computersystem. Nicht mal Hartman konnte seine Mundwinkel beherrschen, als sich herausstellte, dass das neue System ausgerechnet so hieß: STURM.

Ek schaute am Nachmittag vorbei, um die Zettel mit den Anmeldungen für sein Geburtstagsfest einzusammeln. Er warf einen Blick auf die Liste und lächelte vergnügt. Alle, die nicht im Dienst waren, würden kommen. Hartman hatte mit Ragnarsson getauscht, der gezwungen war, seine Frau am bevorstehenden Samstag, als er eigentlich Dienst gehabt hätte, zum Flugplatz zu fahren.

»Alle können kommen«, wiederholte Ek für sich. »Wollt ihr tanzen, oder wollen wir das Mörderspiel spielen?«

»Können wir uns nicht einfach wie erwachsene Menschen unterhalten?«, fragte Arvidsson trocken und blätterte die Zeitung um, er musste sich tarnen, damit niemand sehen konnte, wie sehr er sich darüber freute, dass Ek wieder mal vorbeikam.

»Was ist denn das für ein Spiel, das Mörderspiel?«, fragte Erika, der sehr daran gelegen war, mögliche Überraschungen zu vermeiden, für die sie nicht gekleidet war. Aus Erfahrung, nachdem sie damals im Kronwald eine Hindernisbahn in engem Rock und hochhackigen Schuhen zu überwinden gehabt hatte.

»Ist das so was wie ›Wahrheit oder Liebe‹?«

»Schlimmer. Einer ist der Mörder und tötet, indem er den anderen, die in einem Kreis sitzen, zublinzelt. Einer nach dem anderen fallen die Toten auf den Boden. Eine andere Person ist der Detektiv und versucht festzustellen, wer der Mörder ist, also ihn auf frischer Tat festzunehmen, wenn er blinzelt.«

»Kindergartenspiele, ich passe!« Arvidsson bekam eine Gänsehaut, wenn er nur daran dachte, im Kreis zu sitzen und Maria ganz aus der Nähe in die Augen blicken zu müssen, ihr vielleicht sogar zuzublinzeln oder umgekehrt. Er wusste, dass er dann rot werden würde, und alle würden es sehen. Kommentare würden ihn in den Boden versinken lassen. »Wenn das ein Kinderfest wird, komme ich nicht«, stellte er fest und hoffte, dass niemand die Enttäuschung in seiner Stimme merken würde.

»Okay, lassen wir das. Ich habe ein anderes kleines Spiel, oder eine Wette. Wir haben lange nicht gewettet. Guckt euch die Magneten am Kühlschrank an, die sitzen in einer Reihe im Abstand von genau drei Zentimetern. Warum, glaubt ihr? Weil Ragnarsson hier war und sie zurechtgerückt hat. Ich lasse jetzt den dritten Magneten ein Stückchen sinken. Dann lautet die Frage: Wird Ragnarsson ihn wieder zurechtrücken, wenn er zum Kaffeetrinken kommt, oder wird er es nicht tun? Wir beschränken uns jetzt auf dieses eine Mal. Wenn er ihn später als vier Uhr zurechtrückt oder ihn überhaupt nicht berührt, gilt das als NEIN, und wenn er ohne irgendwelche Andeutungen« – Ek blickte Erika streng an und klemmte sich den Wetteinnehmer-Bleistift hinters Ohr –, »ohne jede Art von Hinweisen den Magneten zurückschiebt, gewinnen diejenigen, die JA gesagt haben. Als Einsatz schlage ich zehn Kronen vor, wie immer.«

Maria zerbrach sich angestrengt den Kopf. Als sie nach Kronköping kam, hatte sie sich im Aufenthaltsraum ahnungslos auf Ragnarssons Platz am Fenster gesetzt. Er hatte sie nicht direkt gebeten, sich woanders hinzusetzen, aber er hatte sie lange und sichtlich gereizt angestarrt, und als sie später aufstand, um sich nach dem Essen einen Kaffee zu holen, hatte er ihren Teller beiseite geschoben, ganz weit weg auf die Ecke des Tisches, und sich auf ihren Platz gesetzt. Ragnarssons Schreibtisch war ebenfalls eine Analyse wert. Die Stifte standen in Habtachtstellung in ihrem Gestell. Der Tisch war meistens sauber, sogar staubfrei. Das Telefon und die Haussprechanlage standen in Reih und Glied, und die Unterlagen, die in sorgfältigen Stapeln dalagen, wagten nicht, sich zu bewegen. Sicher litt er an einer Art Symmetrieparanoia. Aber die eigentliche Frage war doch die nach seiner Aufmerksamkeit: Würde er den Kühlschrank überhaupt bemerken? Galt das Gesetz von der Symmetrie aller Dinge nur in der privaten Umgebung oder ganz allgemein? War ihm jemals aufgefallen, wenn irgendwer sich die Haare hatte schneiden lassen? Oder dass der Konferenzraum neue Vorhänge bekommen hatte, oder dass Arvidsson mit einer Gehhilfe kam, nachdem er sich den Fuß verstaucht hatte? Maria setzte zehn Kronen auf NEIN und ging dann in das Vernehmungszimmer, wo sie Tord Bränn antraf, den Fischer, der Mårten Norman gefunden hatte. Unten am Fischereihafen war keine Gelegenheit mehr gewesen, alle Angaben aufzunehmen, weil die Neugierigen und die Presse sich in einer dichten Traube um sie versammelt hatten.

Tord Bränn war in sauberem Hemd und mit einem auffallend unmodernen Schlips erschienen. Das Jackett saß stramm in den Achselhöhlen und ließ sich vermutlich nicht zuknöpfen. Er selbst musste es wie eine zivilisierte Art von Zwangsjacke empfinden, seiner Miene nach zu schließen.

»Dauert es lange, das hier?«, fragte er und fingerte nervös an der Mütze, unsicher, ob er sie aufbehalten oder abnehmen sollte.

»Wollen Sie mir bitte erzählen, was heute passiert ist, so genau, wie Sie können.«

»Ich bin heute Morgen um vier aufgestanden und habe mir zwei Eier in die Pfanne gehauen. Wir haben eigene Hühner. Manchmal muss man nach den Eiern suchen, aber heute Morgen …«

»Ich meinte, von dem Moment an, als Sie den Toten gefunden haben«, beeilte sich Maria hinzuzufügen.

»Ich ging mit dem Boot raus, um die Netze in der See auszulegen. Ich habe meinen eigenen Platz gleich diesseits von Kronholmen, direkt südlich von dem Aussichtsfelsen. Ich sah, wie irgendetwas in der Fahrrinne trieb, und wurde neugierig. Aber ich habe erst mal meine Netze ausgelegt, bevor ich hingerudert bin. Ich dachte, es wäre ein großer Plastiktank, der in den Wellen auf und ab schaukelte. Konnte eigentlich nichts anderes sein. Aber es war ein Toter.«

»Ihnen kam der Mann bekannt vor?«

»Ja, verflucht!« Tord schob den Unterkiefer vor und nickte zweimal. »Das war der Fixer, Mårten Norman.«

»Wissen Sie etwas darüber, wie er ins Wasser gefallen sein kann? Haben Sie gesehen, ob er in der letzten Woche mit einem Boot hinausgefahren ist?«

»Der, der ist wasserscheu, schlimmer als ’ne Katze. Der wäscht sich nicht mal sonntags, wie jeder anständige Mensch. Er hat kein Boot.«

»Gab es jemanden, mit dem er zusammen war, mit dem er vielleicht trotzdem auf eine Bootstour rausgefahren ist?«

»Der alte Jacob war wohl so nett und hat ihm hin und wieder was zu essen gegeben. Aber ich glaube nicht, dass irgendwer ihn mit hinaus aufs Wasser genommen hätte.«

»Warum nicht?«

»Weil man sich nicht auf ihn verlassen konnte. Es reicht schon, wenn man Wind und Wetter im Auge behalten muss. Man soll niemals was ins Boot nehmen, von dem man nicht weiß, ob man’s auch an Land rudern kann. Er war völlig unberechenbar. Manchmal war er tranig wie Teer, und manchmal tobte er in seinem Schuppen, dass man glauben konnte, ein ganzes Bataillon wäre da drin.«

»Haben Sie ihn am Mittsommerwochenende gesehen?«

»An Mittsommer war ich mit den Enkelkindern in Stockholm. Ist beinahe lästerlich, wenn man die Natur hier verlässt, gerade wenn sie am schönsten ist, aber die süßen Kleinen ließen sich nicht davon abbringen, sie wollten unbedingt in den Vergnügungspark Gröna Lund. Heutzutage hat man ja nichts mehr zu sagen.« Tord nahm die Mütze ab und trocknete sich die Stirn. Der Schweiß floss ihm über den Hemdkragen. »Die Frau meinte, ich müsste mich so verkleiden, wenn ich zur Polizei gehe, sie hat nicht nachgegeben«, erklärte er zu seiner Entschuldigung.

Als Maria um genau 15.32 Uhr den Aufenthaltsraum betrat, diskutierten Ek und Arvidsson schon wieder endlos. Die kulinarische Debatte hatte sich diesmal zu einer lautstarken Diskussion über das Autofahren und Opfergaben an Götter entwickelt. Wie sie darauf gekommen waren, war hinterher für Uneingeweihte unmöglich nachzuvollziehen. Maria ließ sich nieder und wartete darauf, dass die Diskussion sich dem Ende näherte.

»Die Menschen haben zu allen Zeiten und in allen Kulturen ihren Göttern geopfert. Wir tun das auch.«

»Welchen Göttern opfern die Menschen denn deiner Meinung nach heutzutage?«

»Dem Mammon in unterschiedlichster Form. Dem Markt, wenn du so willst. Schnelle Transporte von Waren erfordern mehr Autos auf den Straßen. Jedes Jahr fordert das Ungeheuer Verkehr 600 Menschenleben, und wir halten das offenbar für ein angemessenes Opfer zum Ausgleich für die Gaben, die die Götter bescheren. Das Vertrauen in den Markt ist wichtig. Aus den heiligen Börsendaten können wir die Stimmung der Götter ablesen.«

»So kann man nicht argumentieren!«

»Warum nicht? Der Unterschied zwischen den Menschopfern heutzutage und denen damals ist, dass unsere zufällig ausgewählt werden. Wir wissen nicht im Voraus, wer im Verkehr sterben muss, wer durch Umweltgifte Krebs bekommt oder wer durch den Stress am Arbeitsplatz zusammenklappt. Wenn man eine Liste der Opfer ein Jahr im Voraus veröffentlichte, würde niemand so was akzeptieren. Aber wenn es zufällig geschieht, schließen wir die Augen. Nach dem Motto: Mich wird es schon nicht treffen.«

»So kann man nicht argumentieren!« Ek stand aufgeregt mit den Händen in den Hosentaschen da und wankte mit dem Oberkörper wie ein Pendel.

»Was man sieht, richtet sich danach, welche Perspektive man wählt. Steht man mit dem Gesicht zur Wand, bekommt man eben nur sehr wenig mit.«

»Und wenn man ständig in die Tageszeitung starrt, riskiert man, dass man sich die Nase einklemmt«, entgegnete Ek und kniff Arvidsson in die Nase, denn ihm fehlten die Argumente. In diesem Augenblick trat Ragnarsson ein, und alle wandten sich ihm in gespannter Erwartung zu.

»Nein, es gibt keinen Kaffeeautomaten!«, sagte er fauchend, nachdem er sie einen Moment lang angestarrt hatte und sich seine eigene Meinung über den Gesichtsausdruck jedes Einzelnen gebildet hatte. »Wir haben das früher schon durchgesprochen, und wie ihr wisst, halte ich das für eine absolut sinnlose Investition. Unnötig und zeitraubend. Stellt euch nur mal vor, was das für ein Gelaufe gibt, wenn ständig Kaffee bereitsteht. Es ist doch nichts dabei, wenn wir es wie immer machen, nämlich den Wasserkocher benutzen. Ich sage euch, diese Automaten sind der reine Schwindel. Ich glaube, die Kaffeeproduzenten beteiligen sich an den Werbungskostenzahlen, denn in solche Ungetüme geht viel mehr Pulver rein.«

»Ist das wirklich so?«, fragte Ek.

»Als ich neulich im Supermarkt einen solchen Apparat ausprobierte, habe ich gesehen, was es damit auf sich hat. Erst habe ich meinen Fünfer reingelegt, dann habe ich auf den Knopf gedrückt. Daraufhin fiel er in den Kasten und der Kaffee kam herausgeflossen.«

»Und dann?«, drängte Ek, um Ragnarsson auf die Sprünge zu helfen, denn der war mit der Handfläche gegen die Kühlschranktür gelehnt stehen geblieben. Die dicht beieinander sitzenden Augen starrten irritiert auf die Kühlschrankmagneten.

»Und dann?«

»Danach kam der verdammte Becher«, rief Ragnarsson aus und richtete in schneller Folge die übrigen fünf Magneten so aus, dass sie mit dem übereinstimmten, der versetzt worden war. Ein Schachzug, der danach zu ewigen Diskussionen zwischen Ek und Arvidsson führte.