35
Krister hatte unter lauten Protesten die Kinder aus dem Kindergarten abgeholt, weil Maria hatte mitteilen lassen, dass sie Überstunden machen musste. Als sie weit nach neun Uhr am Abend nach Hause kam, saß die Schwiegermutter auf dem Sofa und stickte an einem Kreuzstichbild mit einem Elch im Mondenschein. Über die Schultern hatte sie sich Ivans Fleecejacke gelegt, die Krister zurückzugeben vergessen hatte.
»Krister ist bei Manfred. Er hilft ihm beim Umziehen.«
»Mayonnaise will tatsächlich umziehen?«
»Ja, er will in eine Wohnung in der Stadt ziehen. Sie wollen das Haus verkaufen. Der Junge soll bei seiner Mutter wohnen. Der arme Manfred, er ist ja so verzweifelt. Die Frau ist bei ihrer Schwester, aber er packt seine Sachen. Den Jungen hat sie mit in die Ehe gebracht, wird erzählt. Was soll nun aus Manfred werden? Die Frau hat ihm wohl eine Wohnung in der Grönsångargatan besorgt, hat er gesagt. Da siehst du mal! Sie muss es also lange geplant haben, das Weibsbild!« Maria überlegte, was Ek wohl zu seinem neuen Nachbarn, Mayonnaise, sagen würde. Wer weiß, vielleicht würden sie Wand an Wand wohnen.
»Geh ruhig ein Weilchen rüber, wenn du Lust hast. Ich bleibe bis um zehn, dann kommt Astrid und holt mich ab.« Gudrun nahm ihre Arbeit am rechten Hinterfuß des Elchs wieder auf, und Maria warf einen kurzen Blick ins Kinderzimmer. Sie strich Linda übers Haar und deckte Emil, der seine Decke weggestrampelt hatte, wieder zu. Dann ging sie hinaus in den Mondschein auf den Pfad, der zu Mayonnaises Haus führte. Der arme Mann, zwar war es sicher kaum auszuhalten, mit ihm zu leben, aber das galt auch für Jonna, befürchtete Maria.
»Ich soll mir alles nehmen, was ich brauche. Eigentlich brauche ich nichts außer Jonna und Biffen. Was soll man denn mit all dem Krempel?«, schniefte Mayonnaise. »Sag doch, dass sie wiederkommt, Krister.«
»Ein Bett und ein paar Kochtöpfe brauchst du mindestens.«
»Habt ihr euch wegen der Autos gestritten?«, fragte Maria und fühlte sich irgendwie mitschuldig an dem Unglück, das sie hier sah, auch wenn es ihr unsinnig vorkam, dass sie die Schrottautos in ihrem Garten dulden sollte, nur um die Ehe der Nachbarn zu retten.
»Nein, sie hat einen anderen kennen gelernt. Einen Kerl, der ihr alles schenkt, worauf sie nur zeigt. Einen kleinen blassen Wirtschaftsprüfer mit Brille. Ich hab vielleicht geguckt, als ich ihn gesehen habe. Und was für eine Memme! Aber sie meint es offenbar ernst. Sie will den Jungen mitnehmen und zu dem Mann ziehen.«
Krister trug den letzten Karton hinaus und spannte die Plane über den Anhänger. Maria war klar, dass jetzt nicht der richtige Augenblick war, um Mayonnaise nach Fotos aus der Zeit auf Zypern zu fragen. Aber ganz nebenbei stellte sie ihm doch eine Frage:
»Wie viele wart ihr von hier, die zusammen nach Zypern gefahren sind?«
Mayonnaise blickte sich erstaunt um. Seine Gedanken kamen von weit her. Man sah ihm an, dass er intensiv überlegte.
»Das waren Clarence, Odd, Mårten, der Löwenritter und ich. Wir haben im Spaß gesagt, wir sind die Ritter an König Artus Tafelrunde. Wir streckten den Damen unsere Lanze entgegen.«
Mayonnaise demonstrierte mit aller Deutlichkeit, was damit gemeint war.
»Der Löwenritter?«
»Ich weiß im Moment nicht mehr, wie er hieß. Wir haben ihn den Löwenritter genannt. Netter Kerl!«
»Er ist nicht zusammen mit den anderen zurückgekommen, oder?«
»Nein, ich weiß nicht, wo er geblieben ist. Ich glaube, er ist wegen Rauschgiftvergehen eingesperrt worden. In der Türkei! Das hat ein Kamerad gesagt, den ich im Engelen getroffen habe. Aber das ist lange her. Warum interessiert dich das?«
»Bin einfach neugierig.«
»Ich kann jetzt nicht weiter darüber reden.« Mayonnaise machte ein Gesicht wie ein geprügelter Hund. »Ich fühl mich miserabel.«
»Das kann ich verstehen. Hast du morgen Abend Zeit, dann komm ich mal vorbei.«
»Jede Menge Zeit wahrscheinlich.« Mayonnaise trottete los und setzte sich ins Auto.
»Jetzt kommt Astrid.« Gudrun Wern schob die Spitzengardine zur Seite und lehnte sich über die Aralie am Fenster. Maria warf ebenfalls einen Blick aus dem Fenster und sah, wie ein roter Renault vor dem Haus einbog. Sie unterbrach die Zubereitung des Essens für morgen, trocknete sich die nassen Hände am Hosenboden ab und begrüßte die Frau in der Diele. Sie hatte kurze graue Haare und trug eine rote Baumwolljacke, genau wie die Frau, die Rosmarie beschrieben hatte. Maria spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Eifrig hielt sie ihr einen Kleiderbügel hin und bat die Frau dann ins Wohnzimmer.
»Hast du möglicherweise am Sonntagabend nach Mittsommer am Fischereihafen eine rothaarige Frau in deinem Auto mitgenommen?«
»Ja. Ja, das habe ich«, antwortete Astrid erstaunt.
»Weißt du, dass die Polizei nach dir sucht?«
»Nein!« Sie kriegte einen gehörigen Schreck. »Ist ihr was passiert?«
Sie setzten sich auf das Sofa im Wohnzimmer. Gudrun Werns Augen strahlten vor Begeisterung. Sie war vollkommen Ohr. Der einsame Elch lag zusammengeknüllt im Nähkorb. So interessant war es bei der Schwiegertochter lange nicht mehr gewesen. Maria merkte es, und ihre Muskeln in Schultern und im Genick verkrampften sich. Kopfschmerzen kündigten sich an.
»Erzähl mir so genau wie möglich, wie das war. Wie spät es war und so weiter.«
»Es muss ungefähr halb elf gewesen sein, als ich die Rothaarige in mein Auto einsteigen ließ. Ich habe sie beim Kräutergarten abgesetzt. Die Fahrt kann etwa eine halbe Stunde gedauert haben. Sie sah so einsam und unglücklich aus, die Arme. Ich nehme sonst nie Anhalter mit. Mach ich nicht, aber man hat ja kein Herz aus Stein. Ich habe versucht, ein bisschen mit ihr zu reden. Aber sie hat kaum geantwortet. Das war ein bisschen undankbar, wenn ich das mal so sagen darf. Es gehört sich doch, dass man antwortet, wenn man gefragt wird. Sie hat sich nicht mal bedankt.«
»Wo wolltest du denn hin, als du an dem Hafen vorbeikamst?«
»Ich wollte meine Schwester abholen, die zu einer Feier bei Familie Turesson in Björkavi war.«
»Bist du später am dem Abend auf dem gleichen Weg am Kräutergarten vorbei zurückgefahren?«
»Ja, ungefähr um zwölf. Ich fuhr langsam daran vorbei, damit meine Schwester sehen konnte, wo ich sie abgesetzt hatte, die Rothaarige. In einem Fenster im Erdgeschoss brannte Licht.«
»Hast du dort noch andere Menschen gesehen?«
»Ein Mann stieg aus einem Auto aus, oben beim Haus. Er ging hinein. Ich war beruhigt, denn da wusste ich, dass sie nicht allein war. Sie brauchte wirklich jemanden, mit dem sie reden konnte, die arme Kleine. Glücklicherweise bin ich langsam gefahren, sonst hätte ich vielleicht einen jungen Mann überfahren, der schwankend auf seinem Fahrrad quer über die Straße kam und runter zum Strand fuhr. Er hatte eine Plastiktüte in der Hand, sicher Bier. Da unten war ein Zelt aufgestellt, so ein Militärzelt. Ich hab den Bengel erkannt. Das ist Veras Enkel gewesen. Der treibt sich da unten mit seiner Clique rum und trinkt Bier, das hat Vera mir erzählt. Meine Nachbarin Vera, du weißt. Die ist darüber nicht gerade erfreut, und das sagt sie laut. Kann die Polizei die Jugendlichen nicht davon abhalten, sich da unten herumzutreiben und zu trinken?«
»Können wir jetzt gleich seine Telefonnummer haben? Das ist sehr wichtig.«
»Sag Vera bloß nicht, dass ich so was erzählt habe.« Astrid starrte verschreckt zu Gudrun, und die stimmte ihr zu. Es war nun wirklich nicht ihre Absicht, dass an die Öffentlichkeit drang, was Vera ihr vertraulich mitgeteilt hatte, geschweige denn, dass es in einem Polizeibericht erwähnt wurde.
»Mit Vera brauche ich überhaupt nicht zu sprechen. Ich möchte nur, dass der Enkel mir hilft. Er hat sich nicht verdächtig gemacht, aber er kann uns eine große Hilfe sein. Ebenso wie du es gewesen bist, indem du mir das hier erzählt hast. Eine wirklich große Hilfe.« Darauf wies Maria nachdrücklich hin, um die Frau zu beruhigen, der der rote Renault gehörte.
Hartman wollte gerade für diese Nacht die Tür hinter sich schließen, als das Telefon klingelte. Es war Maria Wern. Sachlich und kurz zusammengefasst berichtete sie über das abendliche Gespräch mit dem jungen Mann aus dem Zelt und mit Astrid, die in dem roten Renault unterwegs gewesen war. Veras Enkel hatte am Strand unterhalb des Kräutergartens das ganze Mittsommerwochenende bis zum Montag wild gezeltet. Vom Sonntagabend an hatten sie bis vier Uhr morgens draußen am Feuer gesessen und sich Sportsendungen angehört. Ebenso wie Astrid war ihm der blaue BMW aufgefallen, der um Mitternacht herum zu dem Haus abgebogen war. Danach hatten sie aus dem rosa Haus die ganze Nacht über nichts mehr gesehen oder gehört. Die Lampe im Fenster war ausgeschaltet worden, nachdem der Mann nach Hause gekommen war. Um sechs herum war der Junge zum Pinkeln aus dem Zelt gekommen, da hatte das Auto immer noch dagestanden.
»Eigentlich hätte das auch bis morgen Zeit gehabt. Das war etwas übereifrig«, entschuldigte sich Maria.
»Es ist gut, dass du angerufen hast«, widersprach Hartman. »Rosmarie Haag hat also ein Alibi, bis auf die Zeit von vier Uhr bis sechs Uhr. Um fünf rum am Montagmorgen war Hägg mit seinen Leuten am Strand. Da lag Jacob bereits in der Stellung über dem Tisch, in der man ihn später fand. Dass Rosmarie und Clarence zwischen vier und fünf zwei Morde begangen haben können und es dann ungesehen bis nach Hause geschafft haben, halte ich für ausgeschlossen. Ich bin erleichtert, weil das auch meine Ansicht war, und zugleich macht es mir Sorgen, denn damit stehen wir wieder am Anfang. Danke, dass du angerufen hast. Ich sage Ragnarsson Bescheid.«
Maria hockte sich in der vierbeinigen blauen Badewanne hin und duschte. Dann kroch sie ins Bett. Irgendwann in der Zukunft konnten sie sich vielleicht eine Duschkabine leisten. Aber eigentlich war das gar nicht nötig. Vieles von dem, ohne das man nicht auszukommen glaubte, kann man ohne große Probleme entbehren, wenn man dazu gezwungen wird. Krister würde sicher auf sich warten lassen. Auch wenn Mayonnaise keine größeren Möbel zu transportieren hatte, würde er moralische Unterstützung bis in die frühen Morgenstunden brauchen. Humpe sprang aufs Bett und wanderte auf Kristers Decke auf und ab. Er schlich wie ein Löwe und schlug nach einer Fliege, die sich kurz auf dem Kopfkissen niedergelassen hatte, ehe er es sich an Marias Füßen schnurrend bequem machte. Da fiel Maria ein, dass sie vergessen hatte, Hartman zu sagen, was Mayonnaise über den Löwenritter erzählt hatte. Aber zu dieser späten Stunde konnte sie ihn nun wirklich nicht noch einmal anrufen. Das musste bis morgen warten. Jetzt brauchte sie ihren Schlaf. Maria schloss hoffnungsvoll ihre Augen, aber die Gedanken an die Fahndung in diesen Mordfallen ließen ihr keine Ruhe. Die Nacht war warm. Maria schob die Decke mit den Füßen auf den Boden und sehnte sich nach kühlen Dezembernächten.
Das Mondlicht tanzte zwischen den Zweigen des Apfelbaumes und blinkte im schwarzen Wasser des Baches in vielen dunklen Spiegeln und gebrochenen Bildern. Seine Schritte waren schwer von der Bürde, die er trug, schwer von der Todessehnsucht. Was war sein Leben wert gewesen? Wer hätte mit ihm tauschen wollen? Ständige Plage und Ungewissheit. Erniedrigung, aber nicht ohne Hoffnung auf Genugtuung. Das Wort Gerechtigkeit mochte er nicht in den Mund nehmen, das war für ihn eine Nummer zu groß. Aber stets mit dem Gedanken an Rache hatte er überlebt. Wenn alles vollbracht war, würde er den letzten Schritt über die Grenze machen, dorthin, wo die Wellen einschlafen und die Fragen für immer ihren Sinn verlieren.
Eine kurze Sekunde lang hatte er das Paradies zu schmecken bekommen, einen Augenblick nur, damit er verstehen würde, welches Leben er verloren hatte. Hätte er sich in sein Schicksal ergeben sollen? Sich mit weniger begnügen, als sich an seinen Peinigern zu rächen? Der Gedanke widerte ihn ebenso an wie der Kadaver, den er in der weißen Wanne der Genossenschaftsschlachterei vor sich her trug. Mit der Axt in genügend kleine Stücke gehauen, damit sie nachher in der Fleischmühle zermahlt werden konnten. Es verdross ihn, dass sein Feind nicht anwesend sein und seine eigene Auflösung mit ansehen konnte.
Die bösen Augen der Nerze glommen in der Dunkelheit. Im Mondlicht konnte er den Wechsel der Farben auf den Pelzen sehen, wenn die Tiere sich unruhig in ihren Käfigen hin und her bewegten. Fauchend wie böse Geister. In Gefangenschaft, so wie er selbst gefangen gewesen war. Mit dem großen Unterschied, dass sie sich würden satt essen dürfen.