13
Mit einem Gefühl der Lustlosigkeit und absolut nicht ausgeschlafen, wurde Maria von der Sonne geweckt, die durch das Schlafzimmerfenster strahlte. Trotz des dunkelbraunen Lakens, das vorübergehend als Rolloersatz diente, fiel das Licht herein. Maria schwitzte in der Wärme. Sie hätte versuchen können, wieder einzuschlummern und dann richtig auszuschlafen, denn sie hatte Spätschicht. Eine aufdringliche Fliege summte durchs Zimmer und spazierte auf Marias nackten Beinen herum, flog hoch und landete mitten in ihrem Gesicht. In einem letzten Versuch, noch einmal einzuschlafen, zog sie sich die Decke über den Kopf und wäre bei der Hitze beinahe erstickt. Ein Kratzen an der Schlafzimmertür, die knarrend aufglitt, bedeutete endgültig das Ende der morgendlichen Ruhe. Irritiert starrte Maria auf den Wecker. Nicht mal acht! Krister und die Kinder waren gerade erst losgefahren. Humpe, die Katze, machte einen Sprung und landete zielsicher auf ihrem Bauch, um sich dann sofort über ihre Füße herzumachen, die sich unter der Decke bewegten.
Der Rosmarinzweig, der auf Clarence Haags Kopfkissen gelegen hatte, befand sich in Reichweite auf der Kommode. Maria nahm ihn aus der Plastiktüte und lockte die Katze mit schnellen Bewegungen hin und her. Erst machte Humpe einen Satz, um ihn zu fangen, aber dann zog sie sich wegen des Geruchs zurück. Das Experiment wurde mehrmals wiederholt, immer das gleiche Resultat. Maria versuchte, den Zweig in das zerzauste Fell zu stecken. Aber die Katze befreite sich sofort. Sich vorzustellen, dass eine Katze einen solchen Zweig stark duftenden Rosmarins ins Haus schleppte, war so gut wie ausgeschlossen, überlegte Maria und setzte die Füße auf den Boden.
Das Badezimmer stank von den Windeln der vergangenen Nacht, die Krister nicht mit hinaus zur Mülltonne genommen hatte. Kein »Odour-Control« da drinnen. Der Wäschekorb war übergelaufen. Am meisten irritierten sie Kristers zusammengerollte Strümpfe. Maria hatte selbst gesehen, wie er ihn vom Fuß herunter zu einem Ball rollte. Er warf ihn zur Angabe hoch und schmetterte ihn in den Wäschekorb. Machte das V-Zeichen und nahm den Beifall des virtuellen Publikums entgegen, bevor er mit dem anderen Strumpf das Gleiche tat. Sieben Paar Strümpfe, wie Kondome zusammengerollt, können die Geduld eines Engels auf eine harte Probe stellen. Maria war kein Engel, nur eine gewöhnliche, sterbliche Kriminalinspektorin.
Sie empfand eine vage Unruhe. Gestern war Krister um halb zwölf nach Hause gekommen und hatte sich sofort mürrisch brummelnd unter die Decke verkrochen. Maria war zu ihrem griesgrämigen Ehemann gekrabbelt, aber der hatte sich knurrend auf die andere Seite gedreht. Es tut weh, wenn man abgewiesen wird. Wo war ihr gemeinsames Leben geblieben? Sie wollte gerade unter die Dusche gehen, als das Telefon klingelte.
»Hei, ich bin’s, Ninni ist hier. Erinnerst du dich an mich?«, kicherte eine aufdringliche Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. Maria hoffte von ganzem Herzen, dass sich jemand verwählt hatte.
»Nein, ich kann mich nicht an dich erinnern.«
»Also, ich bin Ninni. Bist du seine Mutter? Ich will mit Krister sprechen. Jetzt gleich«, lispelte sie.
Maria hätte hundert Kronen darauf wetten können, dass das schmatzende Geräusch im Hintergrund von einem großen rosa Kaugummi kam.
»Nein, ich bin nicht Kristers Mutter. Ich bin seine Frau. Kann ich ihm etwas ausrichten?«
»Au Backe, au Backe! Nein, es ist nichts.« Die lispelnde Stimme und das Schmatzen verstummten. Der Hörer wurde aufgelegt. Maria blieb mit ihrem Hörer in der Hand und einem Eisblock im Magen stehen. War es möglich, dass Krister ein Verhältnis mit einer Kaugummi kauenden Göre angefangen hatte? Es war zwar auch früher schon vorgekommen und würde sicher auch in Zukunft passieren, dass junge Mädchen sich in Krister verknallten und anriefen, um sich bei ihren Studienaufgaben helfen zu lassen. Er war ein ausgezeichneter Dozent, lustig und voller Einfälle. Er beherrschte die Szene und genoss sein Publikum. Sein großer Charme lag in seiner Intensität, seiner absoluten Direktheit. Er sah die Menschen, sah sie wirklich um sich herum. Manche Frauen vertragen solche Aufmerksamkeit nicht, ohne sich sofort zu verknallen. Sie selbst war ja ein gutes Beispiel dafür.
Ninni, die kleine Ninni, sicher ein knackiger Teenager, schlank und braun gebrannt, in engen Teenagerkleidern und voller Bewunderung, auf dem Silbertablett serviert. Welcher Mann kann dem auf die Dauer widerstehen? Und wenn sie nun schwanger von ihm war? Die Phantasie ging mit ihr durch, in rasendem Tempo wie ein Formel-1-Auto, und keine Bremsen dieser Welt konnten sie halten. Ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob das nun richtig oder falsch war, durchwühlte Maria Kristers Jacken- und Hosentaschen. Heftklammern, Parkmünzen und eine Serviette aus einem Hamburgerrestaurant. In der Brusttasche des blauen Jacketts lag ein Zettel. Ganz normal aus einem karierten Block gerissen, mit einer Telefonnummer und den Worten »Wir sehen uns dann«, geschrieben mit kleinen aufreizenden Buchstaben, daneben ein Kussabdruck von rotem Lippenstift.
»Telefonauskunft, Kundenservice.« Automatisch hatte Maria die Nummer gewählt und erhielt prompt die Information. Die Nummer gehörte zu Ninni Holm. Das Universum wankte. Sie fühlte sich schwindlig und ihr war übel. Tröstlich war nur, dass Krister jetzt nicht bei der kleinen Ninni sein konnte, denn dann hätte Ninni ja nicht anrufen und mit »Kristers Mutter« sprechen müssen. Mit unsicherem Finger wählte sie die Nummer von Kristers Arbeitsstelle. Die ganze lange Nummer, bis auf die letzte Ziffer. Und blieb mit dem Hörer in der Hand stehen. Was würde er sagen? Alles abstreiten? Nein, sie musste ihm Auge in Auge gegenüberstehen. Wollte sein Gesicht sehen.
Aufgeregt und unruhig zog sich Maria nach dem Duschen an und ging in den Garten, um die Beete umzugraben. Tränen der Demütigung und der Wut brannten hinter den Augenlidern. Wie ernst war das mit dem jungen Kaugummi kauenden Ding? So bald sie Krister gegenüberstand, wenn möglich ohne Kinder, Schwiegermutter oder Mayonnaise, musste er dazu Stellung nehmen. »Wir sehen uns dann! Küsschen! Küsschen!« Wenn es nun keine gemeinsame Zukunft für sie beide gab? Wie sollte es mit den Kindern weitergehen? Musste sie sich das Sorgerecht mit Schwiegermutter Gudrun teilen? Krister hielt es ja niemals längere Zeit mit ihnen aus. Und hier stand sie, die Betrogene, und säte Salat und Mohrrüben. Wozu eigentlich noch? Maria stieß den Spaten zornig mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft in die Erde. Spatenstich für Spatenstich, bis die Erschöpfung stärker war als die Unruhe. Da beugte sie sich über den Griff und weinte. Manchmal braucht man die Nähe des Erdbodens, um eine Perspektive zu erkennen.
Plötzlich wurde ihr bewusst, wie allein sie war. Alle alten Freunde waren in Uppsala oder besser gesagt übers ganze Land verteilt. Karin wohnte in Uppsala. Die ganze Clique, die immer Silvester, Mittsommer oder Ostern gemeinsam gefeiert hatte, war in alle Winde zerstreut, je nachdem, wo der Einzelne Arbeit gefunden hatte. Maria überdachte ihr Leben, zum ersten Mal, seit sie nach Kronviken gezogen war. Die Tage waren ausgefüllt, aber es gab keine fröhlichen Stunden mehr. Sie fühlte sich isoliert. Keine Erwachsenen im Bekanntenkreis, abgesehen von Jonna und Mayonnaise und selbstverständlich Kristers Familie. Bei der Arbeit war Erika da, aber das war doch etwas anderes als mit Karin, und dann natürlich Hartman. Maria dachte dankbar an ihn. Hartman war ein Prachtkerl. Ein Mann, der gleichermaßen Respekt einflößte, wie er alle anderen respektierte, die Raufbolde ebenso wie die Kollegen. Trotzdem war es nicht das Gleiche, als ob man die alten Freunde um sich hatte. Vielleicht musste man sich das so vorstellen, dass die alte Maria, die in Uppsala gelebt hatte und glücklich gewesen war, nur in deren Gegenwart wieder auferstehen konnte. In diesem Augenblick empfand sie das jedenfalls so. Mit noch immer von Erde und Tränen verschmiertem Gesicht wählte Maria Karins Nummer.
Danach fühlte sie sich besser. Karin hatte sie ebenso sehr vermisst und ernsthaft darüber nachgedacht, sich eine Stelle im Krankenhaus in Kronköping zu suchen. Dort wurden dringend Krankenschwestern gebraucht, und man lockte mit Übernahme der Umzugskosten, einer hübschen Wohnung und 40000 Kronen Handgeld. Karin hatte große Neuigkeiten zu berichten. Sie hatte einen Mann kennen gelernt und war über beide Ohren verliebt.
»Wir haben schon über eine gemeinsame Wohnung gesprochen. Er kann sich vorstellen, nach Kronviken zu ziehen, sagt er. Mal sehen, ob er auch Arbeit findet. Sicher kann ich nichts versprechen«, sagte Karin. »Aber mir liegt sehr daran, in deiner Nähe zu wohnen. Das ist mal ganz klar.« Hinsichtlich Kristers eigenartigem Verhalten konnte Karin Maria nur raten, ihn sich so schnell wie möglich vorzuknöpfen und dann dafür zu sorgen, dass er den Verband abnahm. Die Sterilisation eines Mannes erforderte, wenn’s hoch kam, ein Pflaster auf jeder Seite. Mit einem Verband über den ganzen Bauch wochenlang herumzulaufen war lächerlich. »Das riecht doch ganz nach krankfeiern«, meinte sie.
Nach dem Gespräch mit Karin ging es ihr schon besser, und sie fühlte sich längst nicht mehr so isoliert. Maria begann mit neuem Elan wieder an ihr Kräuterbeet zu denken, obwohl Mayonnaises Autos immer noch dicht an dicht auf dem Rasen standen. In der Bibliothek hatte sie sich alles über Kräuter ausgeliehen. Über Anis konnte man nachlesen, dass ein Aufguss dieses Krauts Mann und Frau Lust aufeinander machte. Das Gleiche stand über die gemeine Ringelblume, Basilikum und Bohnenkraut zu lesen. Vielleicht sollte man einen Liebestrank zusammenbrauen und ihn bei Krister ausprobieren. Einen richtigen Donnerschlag, wie Mayonnaise es ausdrücken würde.
Möglicherweise brauchte man auch nur einen simplen Ouzo, wenn ein bisschen Anis ausreichte, um das Eheleben wieder in Ordnung zu bringen. Auf der anderen Seite regte Giovanni Boccaccios Gedicht über Isabella die Phantasie an. Isabella verwahrte das abgeschlagene Haupt ihres Liebhabers in einem Krug mit Basilikum, damit es nicht verweste. Vielleicht sollte sie Krister das Gedicht gelegentlich zu lesen geben.
Während sie darüber nachdachte, nahm Maria ihren Skizzenblock und die Aquarellfarben und ging hinunter an den Strand, um ein wenig zu malen. Nach allen Vorschriften der Kinderfürsorge eine Todsünde. Kinder dürfen nur dann im Kindergarten sein, wenn die Eltern arbeiten oder schlafen. Neulich, als Maria Schichtdienst gehabt hatte und danach nicht schlafen konnte, hatte sie sich die Freiheit genommen und die Verandafenster geputzt. Und was geschah? Mayonnaises Jonna begegnete ihr auf dem Hof des Kindergartens, redete ein paar Worte mit ihr, oberflächlich und hinterhältig, bis die Erzieherinnen vorbeikamen, und da, genau in dem Augenblick, stach sie der Hafer.
»Ich habe gesehen, wie du Fenster geputzt hast«, sagte sie mit überdeutlichen Mundbewegungen, sodass auch ja niemand die Information übersehen und überhören konnte. »Darf man das, wenn man die Kinder im Kindergarten hat? Es besteht doch die Gefahr, dass so was zur Routine wird und das System ausgenutzt wird. Es gibt doch Leute, die ihre Kinder ständig dalassen würden, wenn sie nur dürften«, meinte Jonna mit einem Blick auf das Personal, das Maria trotzdem nicht mit der gewünschten Schärfe zurechtwies.
Du zum Beispiel, dachte Maria. Es gibt nun mal überarbeitete, müde Erwachsene, die sich eine Zeit lang nicht genügend um ihre Kinder kümmern können, weil sie mit sich selbst mehr als genug beschäftigt sind. Ist es denn so gefährlich, ihnen eine Gelegenheit zu geben, sich zu entspannen? Den Kindern bekommt es sicher besser, wenn sie mal eine Weile länger im Kindergarten bleiben, als wenn sie mit einem Erwachsenen zusammen sind, der nervlich am Ende ist. Maria sagte nichts. Jonna würde sicher nach einer derartigen Bemerkung eine noch größere Show abziehen und über alles Mögliche wie Drogenkonsum oder Kindesmisshandlungen reden.
»Durftest du dir Manfreds Fernglas leihen?« War alles, was sie in die gespannte Stille hinein fragte.
Als Maria voller Vorfreude und Ideen mit ihren Farben zum Strand ging, fühlte sie sich trotzdem schuldig, schuldig des illegalen Aquarellfarbenbesitzes und des Pinselmissbrauchs. Jeden Augenblick musste sie damit rechnen, dass Jonna angelaufen kam und fragte, wo sie die Kinder gelassen hätte.